Tausen und ein Buch

1.
Bücher waren das einzige, was Nick sich wünschte, aber ich durfte ihm auf gar keinen Fall eins schenken, denn Bücher waren sein Verderben.

Es hatte recht lange gedauert, bis ich das begriff. Du kommst ja nicht drauf, dass jemand Messie ist, wenn er bloß Bücher sammelt und literarisch hochgebildet ist. Nick aber besaß so viele Bücher, dass er sie gar nicht alle lesen konnte, selbst wenn er ununterbrochen den ganzen Tag läse. Sie standen in Zweierreihen in hohen Regalen und auf rollbaren Wägelchen gestapelt, sie lagen auf Sesseln, Stühlen, Tischen, bedeckten sein Bett und die Anrichte in der Kochnische. Nick war weder wohlhabend, noch arm, doch sogar das Geld, welches er besser in eine gute Mahlzeit oder einen warmen Pullover investiert hätte, floss bei ihm in die Anschaffung von Büchern.

Ein modriger Geruch hing in seiner Souterrain-Wohnung, wie in alten Archiven, und tatsächlich hatte er über die Hälfte seines Bestandes antiquarisch erworben. Das Klima der umliegenden Keller verstärkte die Duftnote noch, und da Nick wenig heizte und kaum lüftete, konnte auch seine Wäsche, wenn er sie auf einem Ständer aufhängte, nur mühsam trocknen und verbreitete zusätzlich einen beißenden Geruch.

Der landläufigen Meinung zum Trotz, Spinnen würden es trocken mögen, waren die schattigen Ecken der düsteren Herberge von zahlreichen Netzen bevölkert. Man musste sich nur lange genug hier aufhalten und genau hinschauen, um sie zu entdecken. Und dann erkannte man auch die in merkwürdigen Farben schimmernden Flecken und Beulen in der Tapete, die ein flüchtiger Besucher gar nicht wahrnahm.

An Nicks Geburtstag hatte ich die Frage, was ich ihm schenken könnte, immer noch nicht beantwortet. Nick feierte nicht. Um der Tatsache nicht ins Auge sehen zu müssen, keinen Sitzplatz für nur einen einzelnen Gast zu haben, hatte er zu diesem Datum schon vor einem halben Jahr eine musikalische Lesung mit mir geplant, allerdings ohne mir bisher Texte gegeben zu haben. Auch gestern, an seinem einzigen freien Tag in der Woche, musste er in die Stadt fahren und Bücher kaufen. Eigentlich suchte er nur ein bestimmtes, dann kaufte er noch 6 oder 7 andere, „das musste einfach sein“. Aus irgendeinem Grund traute ich mich nicht, ihn nach seinem Thema zu fragen und warum er die Zeit nicht für seine Textarbeit nutzte. Ich hatte auch gar nicht die Gelegenheit dazu, denn Nick lieferte mir eine komplette Rezension einschließlich einer Inhaltsangabe und ein paar wörtlicher Zitate. Intuitiv spürte ich, dass es ebenso unangenehme Folgen haben würde, Nick jetzt unter Druck zu setzen, wie bei der Veranstaltung ganz ohne Text dazustehen. Also beschloss ich, die Dinge auf mich zukommen zu lassen.

2.
20 nach 7. Die einzige freie Ablagefläche in Nicks Wohnung war das Bügelbrett. Auf ihm befanden sich ein halbvoller Becher mit Kaffee und eine Loseblattsammlung – ich nahm an, die Texte. Das gebügelte Hemd hatte Nick bereits an. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Nick.“ Ich stand in voller Montur im Türrahmen, schwitzte aber nicht, weil die Wohnung bei gefühlt 13 Grad an eine unterirdische Champignonzucht erinnerte. „Danke“ und „Wir sind schon spät dran, ne?“, sagte Nick nur und fummelte noch in aller Ruhe einen Anstecker an seine Weste. Bei näherem Hinschauen erkannte ich das Motiv: eine Ratte.

Draußen gingen wir durch den im Licht der Straßenlaternen glitzernden Schnee zur ,Hinterbühne‘. Teilweise war der Weg völlig vereist. Mit meiner geliebten Gitarre in der Hand hatte ich noch mehr Angst auszurutschen als eh schon, aber eine sinnvolle Möglichkeit, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu unserem Auftrittsort zu gelangen, gab es in diesem abseitigen Stadtteil nicht.

Sonst fehlte es uns nie an Gesprächsthemen, aber heute Abend lagen nicht nur die knisternde Kälte, sondern auch der unausgesprochene Konflikt und die Frage zwischen uns, was für ein Programm wir unserem Publikum in weniger als einer Stunde darbieten sollten. Nicks Verhalten war mir schon seit Wochen unerklärlich. Erst fand er keine Zeit, zu schreiben, dann das Geschriebene zu überarbeiten, anschließend ging sein Internet nicht, dann verschwand sein Handy-Aufladegerät. Manchmal vermutete ich, dass eine tiefe Depression von ihm Besitz ergriffen hatte. Dann wieder dachte ich, er müsse zwanghaft geworden sein. Oder war er genial? Wer konnte denn in so einer Behausung leben und kannte gleichzeitig so viele Bücher?

Da ich improvisieren wollte, war es zwar keine Katastrophe, die Texte erst bei der Aufführung zu hören, allerdings fühlte ich mich doch recht hilflos ohne jeglichen Anhaltspunkt. Einen anderhalbstündigen Abend aus dem hohlen Bauch heraus zu gestalten, hatte ich noch nie gemacht. Das einzige, was wir hinter der Bühne noch verabreden konnten, war, dass wir uns mit unseren Beiträgen abwechseln wollten. Mein Freund wollte mir mit Blicken zu verstehen geben, wann ich an der Reihe war. Dann konnten wir uns gerade noch darauf einigen, dass Nick anfing.

Nick fing an. Was er las, war ein düsteres Konglomerat aus Fragmenten. Halb Lyrik, halb Prosa, halb nüchtern, halb erfunden.

Eine Mischung aus dem, was zwei Jahrhunderte Literaturgeschichte zum Thema Schwermut, Nacht und Dunkelheit hergaben und allen war gemeinsam, dass sie in ihrer Aussage verstörend offen blieben. Figuren und Schauplätze wechselten dabei unaufhörlich und mir schwanden die Sinne bei dem Versuch, mir das Gehörte bildlich vorzustellen. Aus lauter Verzweiflung, und weil ich das Publikum nicht mit einer Verstärkung der Stimmung abschrecken wollte, spielte ich im Kontrast dazu einfach aufgebaute, liedhafte Stücke, mit Anfang und Ende und mit einem Ansatz von Melodie.

3.
„Was hast du dir dabei eigentlich gedacht?“

Nick schaute durch mich hindurch, als wir zu Ende waren.

Sonst gingen wir immer noch ein Bier trinken, aber… die Stimmung war heute nicht danach. Jeder von uns ging seinen Weg nachhaus.

Doch ich konnte keinen Schlaf finden. Schließlich stand ich wieder auf. Merkwürdig, die Sache mit Nick. Ob er Selbstmordgedanken hatte? Es würde mich nicht wundern. War etwas passiert? Doch wenn, war doch höchstens etwas in den Büchern passiert, die er las. – Ich musste zu ihm. Wie spät war es? Halb 2. Egal. Ich zog mich an und ging so schnell, wie es die Witterungsverhältnisse zuließen. Bald stand ich vor seiner Wohung und klingelte. Es brannte Licht, aber es machte niemand auf. Ich wusste, dass er die Tür nie abschloss und drückte sie auf. Der kleine Flur war verwahrlost und unverändert; immer noch lag dort eine Tageszeitung von vor 3 Jahren, auf deren Titelseite ein Bus in Flammen aufging. Ich öffnete die Tür zum Wohnzimmer – Nick war nicht dort. Und auch die Bücherberge waren nicht mehr da! Stattdessen wuselten lauter Kleintiere im Raum herum. Andere befanden sich in Käfigen, die sich – wie zuvor die Bücherregale – bis zur Decke hochzogen: Kaninchen, Hamster, Ratten, Mäuse, Wellensittiche, Kanarienvögel, sogar Frettchen erkannte ich; alle schienen sie munter und bei guter Gesundheit; sicherlich, weil sie noch nicht so lange hier waren, denn Schimmelsporen machten jedes Lebewesen irgendwann krank. Nach einer Weile erst nahm ich wahr, dass auch die wenigen Möbel, die Nick besaß, alle ausgetauscht waren: anstelle der Erbstücke von seinen Urgroßeltern und den paar billigen Neuerwerbungen fand ich eine rot und gelb lackierte Kinderzimmerausstattung vor. Im Vergleich zu vorher war tatsächlich mehr Platz, und es war freundlicher. Nur sitzen konnte man immer noch nicht richtig, weil die Stühle zu klein waren. Ich setzte mich dennoch, weil ich völlig erschöpft war. Die Vögel zeterten. Ein grüner Wellensittich landete auf meinem Kopf und schiss vor Aufregung. Die Hamster schauten mich erwartungsvoll an und die Kaninchen wackelten mit den Nasen.

In diesem Moment ging die Tür auf und Nick kam herein, keinesfalls überrascht, mich hier vorzufinden. Ich stotterte eine Entschuldigung und erklärte meine Besorgtheit. Nick war nicht wütend, er war ruhig wie immer, zwei Kanarienvögel umflatterten seinen Kopf, ein Hamster und eine Maus zupften jeweils an einem seiner Hosenbeine. Er aber streichelte einen alten, grauen Hasen, der in der Sofaecke kauerte. Dann holte er ein paar verschrumpelte Möhren aus der Küche, auf die sich die Nager stürzten. „Entschuldige, dass ich dich mit den Texten so hab hängenlassen, aber… ich fühle mich in letzter Zeit irgendwie überfordert.“ Er schüttete eine große Tüte Trockenfutter auf den Teppich und die Tiere fielen darüber her, um es in kürzester Zeit restlos zu vertilgen. Währenddessen suchte Nick etwas und kam dann mit einer zerfransten Pappschachtel wieder: „Das Vogelfutter ist schon wieder alle, dabei hatte ich vorgestern erst einen Vorratspack gekauft – sie haben die Packung mit dem Schnabel aufgehackt und geleert, als ich weg war!“ Ein Kaninchen verlor gerade seine Ausscheidungen, die durch den Hoppelgang eines zweiten nach allen Seiten kollerten. Die beiden begannen am Kabel einer Lampe zu nagen. Nick beugte sich herab und sprach mit ihnen, als wären sie verständige Wesen: „Ich bitte euch. Ihr wisst doch, dass ich das nicht mag.“

Dann wandte er sich unvermittelt an mich: „Weißt du, wie und wo ich am liebsten leben möchte? Komm, ich zeig es dir.“ Er ging durch den Hintereingang hinaus in den Garten; nicht nur ich, sondern auch die Tiere folgten, Nick konnte kaum die Tür hinter uns beiden schließen, ohne diverse Pfötchen einzuklemmen; es gelang ihm mit Mühe und die kleinen Tiere stießen nur zart von innen gegen die Tür – ein Geräusch, welches wir schon nach wenigen Metern nicht mehr wahrnahmen; dann war Nick erleichtert und stapfte durch den unberührten Schnee zum Bahndamm. Es hatte angefangen, feine, gläserne Flocken zu schneien, die aus- sahen, als kämen sie aus einer anderen Welt.

Nick lief am Bahndamm entlang, ich folgte ihm, durch die frische Luft wieder wach geworden. Er führte mich die lange Strecke bis zum Expo-Gelände, diesem seit der Weltausstellung brachliegendem Gebäudekomplex am Rande der Stadt. Morgenstimmung. Grau und schwerfällig schob sich ein neuer Tag heran. In den Fahrerkabinen der Autos versickerte die letzte traumnahe Geborgenheit.

Hier draußen verlor sich der Verkehr allmählich. Das eigentliche Messegelände konnte man nur zu Fuß betreten. Einige Bauten hatten durch Universität oder Gewerbe eine neue Nutzung erhalten. Beispielsweise befand sich hier eine Cart-Rennbahn, der Fachbereich Bildende Kunst und das Büro eines Sicherheitsdienstes, ferner eine Konzerthalle und ein Autohaus. Den Rest ließ man verfallen, weil Abriss zu teuer war. Entweder waren die Gebäude luftdicht und faulten von innen wie die pyramidenförmigen Glasklötze von den Ägyptern, durch die wir kaum noch durchschauen konnten vor lauter sich an den Scheiben niederschlagender Fauna. Oder sie waren ihrer Fenster und Türen beraubt und standen völlig entkernt in der Landschaft, als Gerippe, durch das der Wind blies, wie beim Niederländischen Pavillon. Die schachbrettartig neuangelegten Straßenzüge in diesem Bezirk trugen alle vielversprechende Namen wie Boulevard de Montréal oder Straße der Nationen – das Areal mutete wie eine Landschaft nach dem 3. Weltkrieg an.

Es war bereits hell geworden. Ich folgte Nick in einen verlassenen Pavillon, der aus einem völlig leeren weißen Raum bestand. Finn… war an den verblassten Holzplanken noch zu lesen, und ich erinnerte mich dunkel, dass hier eine Klanginstallation aufgebaut war; vereinzelt hingen noch Kabel von der Decke herab.

„Hier!“ rief er, und wies durch den Raum; sein Atem bildete eine Wolke vor seinem Mund, transparent, aber unnatürlich gegenständlich. In seiner Begeisterung erlebte ich ihn so lebendig wie nie zuvor. „Hier möchte ich leben. Ganz ohne Bücher, ohne alles. Und nur mit Licht und Weite. Vielleicht ist das bloß eine Idee, ein Jenseits, ein Tod, ein Himmel. Aber die Hoffnung darauf, dass das möglich ist, kann ich nicht aufgeben. – Louis Andreas Bland hat ein wunderbares Buch darüber geschrieben, wie ein junger Mann…, Moment…“ Er zog ein Buch aus seiner Jackentasche und berichtete mir ausgiebig von seiner Lektüre. Doch ich konnte es schon nicht mehr hören, nein, nicht schon wieder eine Geschichte, über der wir das Wesentliche vergaßen, nämlich Nick und wie es Nick ging…, und mir fiel wieder unsere Lesung ein, die eigentlich unglaublich schlecht gewesen war, die Leute hatten es bloß nicht gemerkt, weil die Texte ja ein Plagiat waren, die Leute finden es immer gut, wenn ihnen etwas bekannt vorkommt… Mensch, und ich hatte Nick immer noch nichts zum Geburtstag geschenkt, ich war auf einmal so wütend, es gab nichts, was man ihm schenken konnte, außer Büchern, die seinen Zustand noch verschlimmerten, und während er so redete und redete, versuchte ich mir vorzustellen, wie das wäre, wenn er seine eigene Geschichte mit solch einer Überzeugung vortragen würde, seine eigene Geschichte, über die er selten sprach und wenn, dann nur in Fragmenten, und nur zu seinem besten Freund Herbert, den ich nie kennengelernt hatte und den ich zeitweise schon für eine Erfindung von Nick gehalten hatte, aber Herbert konnte vielleicht aus diesen Teilen ein Puzzle zusammensetzen, das ungefähr eine Ahnung von Nicks Lebensgeschichte wiedergab… Oder eben dieser Traum, warum schrieb er diesen Traum nicht auf, unsere Lesung wäre um Längen besser gewesen mit einem solchen Traum: dass jemand, weil er nirgendwo anders leben konnte, versuchte, in so einer unmöglichen Umgebung zu leben wie in dieser alten Halle. Aber Nick war schon wieder nicht greifbar, war weit weg in seinem Vortrag, er hätte Literaturkritiker werden sollen, mit einer eigenen Sendung im Fernsehen… war er aber nicht! Wenn er es doch wenigstens ausprobieren würde, eine Nacht in diesem Finn-Pavillon zu schlafen… aber er würde es nie ausprobieren, nie! Er brauchte sein „Zuhause“ und die ganzen Kleintiere, die ihn daran hinderten, sich mit der Größe seines eigenen Lebens auseinanderzusetzen.

Nick schloss das Buch, aus dem er gerade noch den letzten Satz zitiert hatte. Er lautete: „…Sie gingen noch eine Weile schweigend nebeneinander her, dann trennten sie sich mit einfachen Abschiedsworten.“ *

So taten auch wir, als wir auseinander gingen und mir schien es kurz, als wäre ich bloß ein Teil von dieser Geschichte und als würde ich jetzt für immer mit Nick und dem Buch in seiner gruftartigen Wohnung verschwinden.

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* Das Zitat ist aus Franz Wessel „Heimliches Berlin“

 

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Vom Zustand der Welt um 4 Uhr 35 von Christine Kappe. Mit 6 Bildern von Irene Klaffke. Pop-Verlag, Ludwigsburg 2016

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KUNO würdigte diesen Band. Eine weitere Leseprobe finden Sie hier.