Findet das Heute überhaupt statt?

Think befor you read. – Müssen Sie sich diesen Essay nicht ausdrucken? Sparen Sie sich Verspannungen am Bildschirm.

Ich sitze auf dem Sessel in der Küche und versuche, durch geschickte Körperhaltung, meine nackten Extremitäten nicht aneinanderkommen zu lassen. Das Thermometer im Regal zeigt 35°C an und ich überlege, ob ich fürs Schreiben wirklich den Computer anschalten oder mir nicht lieber nur Stift und Block holen soll. Aber allein die Vorstellung in dieser drückenden Hitze jetzt nach letzteren suchen zu müssen, denn natürlich weiß ich nicht genau, wo sie sind und der Computer steht auf dem Schreibtisch. Das ist einfach.

Benutze ich aber den Computer, wird es durch die Belüftung zwangsläufig noch heißer. – Diese Vorstellung ist ausschlaggebend. Ich hol mir Zettel und Stift (es tut ja auch der Einkaufsblock und daranhängender Kuli) und setze mich zurück in den Sessel.

Vielleicht sollte ich genau über dieses Thema schreiben.

Es kann nicht sein, dass wir diese äußeren Umstände bei der Frage, ob das Leit-Medium Computer das Leit-Medium Buch ablöst oder gar, ob das Medium Computer Einfluss auf unser Denken und Schreiben hat, ausklammern. Das hieße, den Menschen ausklammern, denn Computer schreiben nunmal keine Texte. Und wenn, dann muss man ihnen genau vorgeben, was sie schreiben sollen. Ich habe mal ein Programm für das Verfassen von Gedichten entwickelt, aber in dem Moment, wo es verschiedene Gedichte produzieren sollte, wurde es kompliziert – es konnte nur ähnliche. Vielleicht kommt ein Programm, was ähnliche Texte ausspuckt, ja dem aktuellen Trend nach Wiedererkennbarkeit und serienmäßiger Vermarktung eines Schriftstellers entgegen, aber für ernsthafte Schreiber ist das unbrauchbar.

Das Denken findet im menschlichen Körper statt und nicht außerhalb.

In meinem Sessel kann ich halbwegs entspannt sitzen und schreiben. Auch im Raum umhergucken und Pause machen. Das ist vor einer laufenden Maschine schon schwieriger.

Auf dem Küchentisch ist allerdings kein Platz, ich muss den Block auf meinen Knien halten. Mein Mann hat sich in den Kopf gesetzt, alle Dinge, die ihm gefallen, zu sammeln, was mit seinem Hang für zahlreiche Vorlieben (Heiligenbilder, Verkehrschilder, Küchenhelfer, um nur einige Beispiele zu nennen) in unserer kleinen Wohnung, schonmal nicht unkritisch ist. Im Winter wird die wenige noch verbleibende Luft natürlich schnell warm. Doch in diesem heißen Sommer schnappe ich hier nach Sauerstoff. Immerhin: umfallen kann ich nicht, weil jeder unserer Räume noch einmal in der Mitte mit einem randvollen Regalblock bestückt ist, den Besucher und Bewohner, wenn sie vorsichtig sind, gerade mal umrunden können, ohne etwas auf der anderen Seite umzustoßen.

Ich überlege, ob es besser wäre, das Fenster zuzumachen. Von der Straße wabern nur Abgase herauf, die Katzen tollen zwischen den tausenderlei Dingen herum, ohne etwas davon umzuschmeißen, ich hingegen verursache nur Chaos und habe gerade meinen Kaffee verschüttet…

Andererseits ist diese Umgebung sehr inspirierend.

Wäre es nicht aber praktischer, kostengünstiger, gesünder, leichter verwaltbar, energiesparender, zeitsparender, umweltfreunlicher, schlichtweg vernünftiger, mein Mann würde „seine“ Objekte bloß fotografieren und danach digitalisieren und abspeichern? Aber dann könnte ich nie über etwas stolpern. „Aber zum Aufrufen verfügt doch jeder Computer über eine Random-Funktion“, werfe ich mir selbst ein. Doch das ist nicht dasselbe, als wenn mir etwas auffällt (hier: umfällt).

Beim Wegwischen des Fleckes stoße ich einen mit Tesafilm ans Kreuz geklebten Jesus mit abgbrochenen Armen um, jetzt liegt er neben zwei Ikea-Bleistiften, einem knieenden Engel ohne Kopf und einem dicken goldenen Schaf, bei dem ich nie weiß, wo hinten und wo vorne ist.

Mein Handy klingelt; ich finde es erst nicht. Beatrice. Sie will sich für die lieben Grüße zur Geburt ihres dritten Kindes bedanken. „Wann zieht ihr denn jetzt um?“, frage ich sie. „In einem Monat. Und noch ist keine Kiste gepackt! Ich frage mich, wie das gehen soll. Und Trevor öffnet nie seine Post.“ – „Ist das nicht normal? Ric liest die auch nie. Nur einmal im Jahr zur Steuererklärung.“ – „Wir haben keine Ordnung.“ – „Wer hat die schon. Da hat ja niemand mehr Zeit für.“ – „Manchmal denke ich, das einzig Reale ist im Internet. – Mail mir doch mal Deine Festnetznummer. Alles außerhalb des Computers geht gerade verloren.“ In diesem Moment fordert das Neugeborene durch Schreien ein Ende unserer Unterhaltung.

Ob der Computer als Speichermedium aber wirklich sicher ist? Etwas vom Kaffee ist auf mein Manuskript gekommen und hat mir einen halben Absatz gelöscht, weil ich mit wasserlöslicher Tinte schreibe. Aber wie oft hat sich mein Rechner schon aufgehängt und mir sind Daten verloren gegangen.

Das Gespräch mit Dirk gestern. Mir gefallen seine frühen Gedichte, die er nur auf irgendwelchen Zetteln in irgendwelchen Kartons rumflattern hat. „Hast du keine Angst, dass es mal brennt und die alle weg sind?“ – „Ich muss mich jetzt mal dransetzen. Alles hat seine Zeit.“ Alles hat seine Zeit, alles braucht seine Zeit. Die Idee der Schnelligkeit, die ein Computer im Gegensatz zu einer Schreibmaschine ermöglicht, ist, zumindest was das Dichten betrifft, von keinerlei Interesse, wenn nicht gar störend. Mag sein, dass ein Romanautor, der sich von seinem Verlag zu einem 2jährigen Ausschüttungstermin versklaven ließ, einen gewissen Nutzen aus der neuen Technik zieht: er kann schneller Passagen finden, bzw. auf Vorrat Beschreibungen oder Dialoge produzieren, die er dann bei Bedarf bloß abrufen und einzubauen braucht. Möglicherweise sitzt ihm ein Lektor im Genick, einer von der Sorte, die meinen: 6 Personen würden für einen Roman völlig ausreichen, alles andere überfordere den Leser. Nun ist der Autor gefordert. Er muss jetzt entweder eine Person streichen oder zwei Personen zu einer Person verschmelzen lassen; so oder so ist ein derartiger Überarbeitungsschritt ohne Rechner quasie unmöglich bzw. derart unwirtschaftlich, dass der Autor sich an der Stelle gleich nach einem neuen Job umschauen könnte.

Nichts wird so flüchtig gelesen, wie Texte am Bildschirm.

Selbst lumpig übersetzten Gebrauchsanweisungen widmen wir mehr Aufmerksamkeit. Schließlich haben wir für das Gerät bezahlt und möchten nicht, dass es kaputt geht. Ich bekam kürzliche eine elektronische Einladung zum Geburtstag und hatte schon beim Beantworten vergessen, ob ich nun mit oder ohne Anhang kommen sollte (Anhang meint hier den realen, also: mit Sohn und Mann). Ein weiterer e-mail-Austausch war vonnöten. Nirgendwo gibt es deshalb so viel überflüssige Texte, wie im Internet. Nirgends finden sich so viele Rechtschreibfehler wie in e-mails. Wir klappern auf der Tastatur und verwürfeln die Reihenfolge der Buchstaben (aus panisch wird pansich, aus vermutlich verumtlich), während per Hand schön eins nach dem anderen geht. Und dann müssen spezielle Hilfsprogramme entwickelt werden, die diese Fehler automatisch während der Eingabe korrigieren.

Was der Nutzer also an Zeit einspart, muss vorher schon an Geld und Energie hineingesteckt worden sein, damit es funktioniert.

Oder was mein Sohn an seinem Geburtstag erlebte: Ein Freund wurde per SMS eingeladen. Die Mutter dachte aber, wir würden vorher nochmal telefonieren und rief an, als wir schon feierten: „Findet das heute überhaupt statt?“ – Der Wunsch nach Verifizierung des elektronischen Mediums ist offenbar genauso stark wie seine Überschätzung.

Von wegen, die orale Kultur hätte an Bedeutung verloren: Meine Schwester wohnt in Melnau, das ist ein Nest mit 300 Einwohnern am Rande eines der größten Naturschutzgebiete Deutschlands. Ihr Haus ist das letzte vorm Wald und noch nichtmal an der Kanalisation angeschlossen. Sie lebt sehr einfach, heizt mit Holz, es gibt nur kaltes Wasser, Internet hat sie auch. Aber die orale Kultur ist hier (und nicht nur hier) noch sehr lebendig. Vor einem Jahr zog eine Bekannte aus dem Nachbarort her. Ihr Mann war verstorben. Sofort kam das Gerücht auf, dass sie am Tod ihres Mann schuld sei und sie hatte Schwierigkeiten, sich ins Dorf zu integriefen. Gerade die Dinge, die nicht in der Zeitung oder im Internet stehen, sind offenbar die Wirkungsvollsten, Hexensprüchen oder Flüchen vergleichbar.

Wenn die elektronischen Medien alleiniges Leitbild wären, wo bliebe dann die Lust? Die Lust, einen Gedanken noch etwas reifen zu lassen, am Bleistift zu kauen, bevor man den Satz aufschreibt, darüber einzunicken, anfangen zu träumen… Schnelligkeit, Leichtigkeit, Sparsamkeit – wen interessiert das denn. Der Mensch ist ein Tier. Er will nicht schnell fertig werden. Jedenfalls nicht beim Sex.

Den Dichter lässt die elektronische Entwicklung kalt. Er muss individuell und authentisch sein. Die Technik und das Gedicht haben nichts miteinander zu tun, außer dass Technik Thema für ein Gedicht sein kann.

Was allerdings jegliche andere Form von Informationsverbreitung angeht, pure Informationen (sofern es sowas überhaubt gibt) in Sekundenschnelle über den ganzen Erdball zu verschleudern – dafür ist das Internet sicherlich hervorragend geeignet, wozu auch immer das gut sein soll, wenn doch die Hälfte der Menschen schläft oder an den Dingen nichts ändern kann.

Jegliche Literatur, die mit Versatzstücken arbeitet, ist keine Litartur, ist Stückwerk, ist Zitat, und damit wieder nur Verweis auf Literatur. Und das Original ist gerade im Zeitalter des Internet noch schneller dingfest zu machen.

Die Literatur wird parallel zu den neuen Medien weiterexistieren. Sämtliche Versuche, einen Internet-Roman zu schreiben, schlagen fehl, weil sie gleichzeitig im Endlosen wie im Unvollendeten hängenbleiben.

Nicht das Ende der Literatur hat eingesetzt, sondern der Anfang der Informatur, etwas, von dem wir noch gar nicht wissen, was es überhaupt ist.

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Christine Kappe, Fotograf: Ric Götting

Dieser Essay wurde ausgezeichnet mit dem KUNO-Essaypreis 2013. Die Begründung findet sich hier.

Das Künstlerbuch von Christine Kappe wurde von KUNO am Tag der Erscheinens vorgestellt.