Nachbarn

 

Florin hat sich völlig zurückgezogen. Er will in Ruhe seine Dissertation über die so genannte Rote Armee Fraktion zu Ende bringen. Die Gliederung über den Deutschen Herbst ist stimmig. Die Sekundärliteratur komplett. Seine Notizen hat er bereits vollständig geordnet. Das Vorwort über die Beziehung zwischen Sinnverlust und Gewalt geht ihm völlig locker von der Hand.

Das Leben der Anderen macht ihn fassungslos. Damit ihn nichts aus seinem normalen Umfeld ablenken kann, hat er sich eine spartanische Klause in einem Vorort gemietet. Hierher zieht er sich tagtäglich zurück, um diszipliniert und konzentriert zu arbeiten. Mit der Magnetbahn fährt er bereits morgens um 5·19 Uhr in den Vorort. Liest auf der geräuscharmen Fahrt die Tageszeitung. Kauft in der Backstube an der Endhaltestelle ein Rosinenhörnchen und zwei belegte Brötchen. Betritt um 5·53 Uhr sein spartanisch eingerichtetes Appartement. Stellt den Gasofen auf Sparflamme. Kocht sich mit dem Tauchsieder eine Tasse löslichen Kaffee. Lässt auf dem Bildschirm die Arbeit des vorherigen Tages Revue passieren. Nimmt Korrekturen vor.

In den letzten drei Wochen ist er sehr gut vorangekommen. Die Struktur ist klar. Nur der Mittelteil bereitet ihm Schwierigkeiten. Stil ist nicht nur die autonome Entscheidung des schreibenden Subjekts, sondern immer auch Sache der medialen Vorgaben. Er sichtet die Grundsatzpapiere mit einen Computerprogramm, das den Titel Gewaltliteratur–lnformationssystem trägt. Analysiert jedes Strategiepapier sorgfältig. Mit der Möglichkeit, das Material digital zu befragen, hat er sich Vertrautes vorgenommen, Fremdes gefunden und sich im Detail verlustiert: Als Logo verwendeten die Terroristen den roten, fünfzackigen Stern mit den weissen Grossbuchstaben RAF auf schwarzer Maschinenpistole. Bei ihren Pamphleten wurde Papier mit dem Wasserzeichen Römerturm Klanghart verwendet. Die Terroristen frankierten ihre Post mit Briefmarken, die Frauenmotive zeigen. Bei ihren fiktiven Absenderangaben war der Vorname stets abgekürzt und ihre Tarnadresse war stets eine mit Bäumen. So brillant der Student der Geschichte die Ökonomie des Erinnerns und Vergessens beherrscht, die Kulisse seines Schreibens komponiert er aus nichts als Erlebtem, dabei bedient er sich einer ausgeklügelten, gleichzeitig präzisen und verästelten Sprache.

Florin beginnt an der Arbeit zu zweifeln. Er seziert den ausgebluteten Textkörper wie ein Präparator, Wort um Wort, Satz für Satz setzt er Schnitte, die im Leben tödlich wären. Aber hier ist kein Leben. Oft sieht er zum Fenster hinaus. Dort findet er keine Inspiration. Unscheinbare Männer, verschnürt mit Schlips und Kragen verabschieden sich von ihren Ehefrauen. Energisch greifen sie den Aktenkoffer nach ihren Abstauberküssen und fahren mit ihren Mittelklassewagen in ihre Büros. Ein Leben inmitten einer maroden Maschinenhaftigkeit. Wohin Florin auch schaut: Gediegener Wohlstand, Beschaulichkeit. Weichbild der Vorstadt. Die Zugfrequenz lässt mit zunehmendem Abstand zu Schichtbeginn und Schichtende jäh nach. Perfekte Normalität, sattes Idyll in optimierter Anonymität. In diesem Vorort leben Menschen, die fähig zu effizienter Emotionalität sind. Was geschieht, bleibt Reflex auf den Alltag, der niemanden mehr anspornt, weil dahinter kein Traum mehr ist. Eine halbe Stunde später wiederholt sich das Ritual. Die Töchter werden zu ihren Vorlesungen geschickt.

Realitätseffekt. Florin entdeckt einen Kosmos, in dem die sozialen Bezüge so klar umrissen sind wie die Tapetenmuster. Lichtverhältnisse korrespondieren mit Einkommensverhältnissen, je mehr Geld im Spiel ist, um so heller sind die Räume. Er schaltet das Transistorradio ein, um sich auf den aktuellen Stand der Dinge zu bringen. Kurbelt an der Skala und findet sich in den Ätherwellen nicht mehr zurecht. Das moderne Erfolgsradio kommt aus der Retorte. Trendgurus, Software–Programmierer und Sound–Designer haben die Macht übernommen.

»Schwachmatenfunk!«, flucht er vor sich hin und kocht eine weitere Tasse Kaffee. Die Frau von gegenüber nimmt die Gardinen ab. Er verbrennt sich die Zunge am heissen Kaffee und flucht. Die Nachbarin setzt die Waschmaschine in Gang. Er ist blockiert. Die Sprache beginnt zu schweigen. Sie will nicht auf den Bildschirm. Denken auf verlorenem Posten. Vergeblich versucht Florin, unbeseelte Materie durch Strom zum Leben zu erwecken.

»Man müsste über das Leben schreiben, als stünde man auf der anderen Seite«, seufzt er. Wenn er schreibt, geschieht das meist in aller Stille, er vertraut dem Leser ein Geheimnis an. Er geht auf und ab. Wird sich klar, dass grossartige Ideen immer aus einem Mangel entstehen. Blickt zweifelnd auf den Bildschirm. Fürchtet sich vor der Folgenlosigkeit seines Schreibens. Was grosse Denker alle gemeinsam haben: Sie stehen mittendrin, aber sie gehören nie richtig dazu. Die Frau im Haus gegenüber schmust mit der fetten Katze. Er mustert diese Frau mit nie gekannter Blickschärfe, um sich abzulenken.

Hannelore legt der Katze kleine Leckereien aus. Diese Häppchen bilden eine Spur. In ihrer Physiognomie zeigen sich keinerlei Affekte. Statt dessen ein Gefühlsausdruck, den die Situation jeweils von ihr verlangt, hinter der Maske des Make–ups und dem aufgesetzten Lächeln ist die Person kaum zu erkennen. Als Flüchtlingskind lebt sie eine weibliche Kindheit, die bei Kriegsende der Illusion beraubt wird, behütet zu sein. Sie lernt ihren Mann beim Tanzen in einem Lokal kennen. Er ist ein machtbesessener Karrieremensch, der vor allem eines im Sinn hat: immer im Mittelpunkt zu stehen. Hannelore meistert die Logistik eines Politikerhaushalts. Zieht zwei Mädchen mit dem Ethos der Selbstbeherrschung und Fürsorge einer Hausfrau gross. Ihre Töchter sind geprägt durch ein neues Frauenverständnis, können sich dank der Bildungsreform anders einrichten. Sind Töchter mit einem unruhigen Gewissen, die das Leben führen können, das ihre Mutter gern geführt hätte. Fragen sich, ob sie die Kraft zur Kinderlosigkeit gehabt hätten oder zur Scheidung, ob sie auf das Einfamilienhaus verzichtet hätten, um statt dessen als beäugte Alleinstehende den Normen einen Tritt dorthin zu versetzten, wo die krumme Wirbelsäule aufhört. Fürsorge, Aufopferung, Selbstbeherrschung, wenige Frauen stellen ihr Leben freiwillig unter diese Vorzeichen. Die Spur kleiner Häppchen endet im Schlafzimmer. Die Frau hat sich ausgezogen und liegt auf dem Bett. Sie reibt sich Brüste, Schenkel und Scham mit Milch ein. Die Katze kommt in das Schlafzimmer und springt auf das Bett. Sie leckt die Milch. Die Frau windet sich lustvoll, als die Katze ihre Scham schleckt. Sie krampft die Beine zusammen und erwürgt die Katze beim Orgasmus.

Der Voyeur zündet sich eine Zigarette an. Verbrennt sich an dem Streichholz die Finger. Stürzt zum Wasserhahn und kühlt sich ab. Die Hausfrau wirft den Abfall in den Container. Müllmänner fahren vor. Die Stadtwerke entsorgen den Vorort. Alle Spuren sind beseitigt.

 

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.