Er denkt an sein Land

 

Es galt, die dunkelsten Stellen auf dem Papier abzulichten. Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren. Es galt, die Grenzen des Sagbaren – oder Unsagbaren – immer weiter hinauszutreiben, in Regionen, in denen ihre Sprache eine eigene Wirklichkeit schuf. Das Wissen über den Glauben war verloren gegangen, der Glaube an das Wissen überlebte. Am Ende galt es, den Glauben an das Wissen durch das Wissen selbst zu verlieren. 

Das Blatt, das die Kopiermaschine ansaugte, gemäß ihrer Bestimmung, die dunkelsten Stellen auf dem Papier abzulichten, war leer. Oder nicht? Als es wieder hinaus glitt, war es ein anderes. Es war markiert. Die erwartete Kopie des Originals blieb aus. Die Maschine signalisierte einen Defekt.
Ich griff nach dem Original. Nach dem, was ich für das Original hielt. Dort gab es in der Mitte des Blattes eine dunkle Zeile, Buchstaben, die an den Rundungen unterbrochen waren, wieder ins Weiße hinein. Das Wort ließ sich lesen, es hieß Wiederholung. Das aber war nicht mein Wort.
Seit einigen Tagen kopierte ich in dem Büro am Mariannenplatz das Material für eine kleine Publikation visueller Poesie. Diesen Fragmenten ging es wie dem letzten Menschen eines ausgestorben geglaubten Stammes, den es erklärungslos in die westliche moderne Welt verschlagen hatte und der, von ein paar Sonnenstrahlen getroffen, dort erwacht. Ich hatte Monate zuvor einen Roman darüber geschrieben, ihn in eine kleine Holzkiste gepresst und diese für immer zugenagelt.

Das Büro lag isoliert von allen anderen Räumen am äußersten Rand des Komplexes. In dem ehemaligen Krankenhausgebäude einen Steinwurf vom Sperrgebiet der deutsch-deutschen Grenze entfernt verbrachte ich 6 Monate eines Kulturstipendiums. Ich hatte einen Kopierschein. Ich schuf mir damit die Arbeitsgrundlage für mein Stipendium. Doch jetzt hatte ich eine Zwangspause.

Die Schreibkraft am Schreibtisch nahe der Tür hielt in ihrem emsigen Schlagen auf Buchstabentasten inne. Sie schlug die Sprache, die sie auf weiße Blätter übertrug, das hatte ich deutlich im Kopf. Sie riss das engbeschriebene Blatt heraus und spannte in Windeseile ein neues ein. Hektisch setzte sie mit allen 1o Fingern zugleich ein einziges Wort aufs weiße Papier. Dann riss sie das Blatt wieder heraus. Sie schrie auf.

Blass war sie, ihre rosa geschminkten Lippen bebten, als sie zu mir ans wuchtige Kopiergerät trat, das parallel zu den breiten unverhangenen Fenstern aufgestellt war. Die Fenster gaben die Aussicht auf den unbegrünten, in langen Bahnen geharkten Grenzstreifen und den in seinen Konturen scharf heraus stechenden Kontrollturm frei. Das spätnachmittagliche Oktoberlicht schien in der Gräunis der zugemauerten Fassaden gegenüber ersoffen. Dort war die andere Welt, einen olympischen Steinwurf entfernt. Und doch ferner als Australien. Der Wachturm schien nahe herangerückt. Man konnte hinter dem länglichen Fenster des Turms den anonymen Oberkörper des diensthabenden Postens sehen. Er richtete sein Fernglas direkt in unser Büro. Offenbar galt sein Interesse nicht uns, die wir uns unschlüssig im Zimmer hin und herbewegten, sondern dem Kopiergerät und der beeindruckend großen elektrischen Schreibmaschine weiter hinten auf dem Tisch nahe der Tür. Das teilten uns seine hektisch das Glas führenden Bewegungen zwischen den beiden Geräten mit. Es war im Jahr 1986. Jetzt erst bemerkte ich, dass die Schreibdame, die mir nur wenig vertraut war, das Blatt in der Hand hielt. Ihre Hand zitterte und auf dem Blatt stand d a s Wort. Konnte der Kopierer ein Original verschlucken und es gegen ein anderes austauschen?

Im Flur kein Laut, es war kurz vor Feierabend. Der Büroraum lag am äußersten Ende des Gebäudes. Auf einem großen Tableau an der Flurwand hatte ein Künstler einige Dutzend schlecht präparierte tote Tauben angenagelt, in dessen Umfeld goldschimmernde Motten flatterten. Niemand hielt sich in den andren Räumen auf. Vereiste Zeit, eine Zeit ohne Vereinbarungen, ohne augenzwinkernde Zukunft. Im Raum das kanonische Summen der beiden Geräte. Vernetzte hardware war zu dieser Zeit in normal funktionierenden Büros nicht selbstverständlich wie heute und kaum mit Erfahrungswerten in Berührung gekommen. In dem Büro gab es kein Schreibgerät, das mit einem Druckgerät kausal verbunden war und schon gar nicht mit dem Kopierer.

Sanfte Wellen verbrauchter Luft aus den Gebläsen der Geräte versetzten unser Haar in flimmrige Vibration. Das war die einzige unkalkulierbare Bewegung in diesem Raum.
„Ich wollte es nicht schreiben“, stotterte die Frau mehr für sich, „die Maschine tat es für mich…meine Finger…“
„Sie mussten das Wort schreiben?“ fragte ich neugierig.
„Nein“, erwiderte sie. „Ich wollte es, ich schrieb es, aber ich weiß wirklich nicht, warum der Kopierer es protokolliert und gedruckt hat.“
Der Raum war eine Bühne. Eine Bühne mit Augen. Er beobachtete uns.
Sie richtete ihren Blick auf das Blatt, das ich nun in der Hand hielt. Sie schrie auf, grell, wechselte die Gesichtsfarbe: „ Das Kopiergerät muss ein Empfänger sein !“ Hochrot im Gesicht atmete sie theatralisch zwei Mal tief durch und sprach im genervten Tonfall weiter: „Ich bin jetzt fünfzehn Jahre hier und gucke immer auf diesen verdammten Streifen. Die Büroordnung gestattet weder Vorhänge noch Jalousien. Ich habe einmal nachgefragt, warum eigentlich. Das Zimmer sei groß genug, um der Sonne auszuweichen, hieß es. „ Warum erzählen Sie mir das ?“, fragte ich. „Weil sie uns ma-ni-pu-lieren – sie stören täglich meine Arbeit, sie beeinflussen sie, sie verfremden sie!“
Ich war beeindruckt. Mir gefiel, was sie sagte, weil es mehrdeutig war. Damals liebte ich das, weil es ein Schreibversprechen war. Sie deutete auf ihren Arbeitsplatz nahe der Tür. „Sehen Sie, ich hab es mit Distanz versucht. Da sind aber die Balkone und Fenster, drüben, sehen Sie, alles in Ostfarbe, graubrauntrüb. Sie arbeiten dahinter. Da ist immer jemand.“ Sie kicherte. Das Kichern wirkte traurig und selbstbeschwichtigend.
„Länger als zwei Minuten krieg ich da keinen zu Gesicht. Die schaffen sich immer schnell ihre Abgänge. Ist ja auch kein Anblick, das hier, dieses Bürro.“ Sie sprach das Wort zynisch und fast hasserfüllt aus. Man spürte, sie mochte sich nicht und auch nicht ihre Arbeit. Aus ihrem Mund gepresst stand das Wort wie ein politisch brisanter Begriff im Raum. Er passte nicht zu ihr.
Sie war das, was man eine nette Person im besten Alter nennt, trug eine röllchengelegte Frisur um den runden Kopf mit dem immer etwas zu bunt geschminkten Gesicht mit randloser Brille, jugendlich betonte Kleidung rund um den leicht fülligen Leib drapiert oder gewickelt. Die paar Male, die ich sie beim Kopieren erlebt hatte,verrieten: sie konsumierte gern Süßes, trank Auratee und war unpolitisch.

Das Unpolitische war ein bedeutender Teil ihrer Persönlichkeit, wie sie gerne betonte. Sie verwischte mit der Rückhand fahrig ihren Lippenstift. „Aber die da, die, die zwei, die machen sich einen Spaß mit mir. Die kenne ich,“ sie rang nach Luft, „verstehen Sie, ich bin für die ein Opfertyp, Ost gegen West, Sie verstehen, ich könnte ganze Romane darüber zusammenschreiben, wenn ich es hier nach Feierabend nur länger aushielte.“ Mit leisem Stolz fügte sie, auf die Maschine weisend, hinzu: „Das Ding da, das schreibt nämlich wie gedruckt.“ Und dann, gequält: „Ach, und die Ablösungen! Tagtäglich diese Ablösungen! Wenn man nur die Uhr danach stellen könnte!“ Sie setzte ein unbeteiligtes Gesicht auf. Es wirkte wirklich aufgesetzt. Und mit flüchtigem Blick auf das Blatt in meiner Hand tadelnd: „Was soll das, Verschwenderin? Sie haben das leere Blatt belichtet.“ Ich sagte: „Tut mir leid, ich habe das weiße Blatt nicht belichten wollen. Naja, ganz leer ist es nicht. Dieses eine Wort darauf ist vielleicht in Ihren Augen nicht der Mühe wert. Was in mich gefahren ist, es doch zu kopieren, weiß ich nicht. Vielleicht diese immer gleichen Handgriffe der letzten Tage. Ich kann mich an dieses Wort gar nicht erinnern. Sie wenigstens tun mit Kopf und Hand das Ihre. Ich aber tätige das meinige nur mit den Händen.“
Ich muss mir das Mitdenken leider immer verbieten“, sagte die Schreibkraft plötzlich patzig, als habe ich ihr gerade ein Privileg genommen. „Ob ich was abschreibe oder nach skizzierten Anweisungen oder vom Diktaphon schreibe – ich schalte das da ab.“ Dabei tippte sie mit dem rosa lackierten Zeigefinger gegen die Stirn. Sie hatte Stummelfinger, an deren stumpfen Enden lange rosa Fingernägel klebten. Was sie sagte, glich ihren Fingern. „Immer ab schalte ich, immer ab. Ich entscheide hier nicht – , nein, niemals! – eigenmächtig. Ich arbeite eins zu eins. Man vertraut mir vollkommen.“
„Sie ist nun ausgeklinkt“, dachte ich.
Meine Schulter berührte die ihre. Ihr fades Parfüm vermischte sich mit dem Schweiß eines 8-stündigen Bürotages. Wir standen nebeneinander vor dem Fenster, jede mit einem weißen Blatt Papier in der Hand, auf dem ein einziges, das selbe Wort in Druckbuchstaben stand. Irgendwie gelang es uns nicht, vom Fenster wegzutreten. Wir hätten auf dem Gang eine rauchen können, um die Motten zu erschrecken. Im Archivraum einen Kaffee trinken können.
Auf unseren Gesichtern brannte der Fernblick der fremden Grenzbeamten. Menschen, die wir niemals kennenlernen würden. Ihre Blicke wanderten über die Flächen unserer Gesichter, tasteten unsere Körper ab, untersuchten jeden Gegenstand im Raum. In mir schwelte eine fast leidenschaftliche Unlust an der Situation, eine lähmende Gemütstrübnis, der keine Übelkeit folgen wollte, Überdrussempfinden, das aus Ohnmacht entsteht. Wir waren wie abbildhaft fixiert und vollkommen unsinnlich, wir hätten nackt dastehen können, beschmutzt, vergreist. Als Fremde oder als Feindinnen und zu niemandes Freude.

„Es muss eine Verbindung geben zwischen dem Kopiergerät und Ihrer elektrischen Schreibmaschine,“ sagte ich angesichts der deckungsgleichen Worte auf den Blättern in unseren Händen. Damals war es tatsächlich unvorstellbar, was heute selbstverständlich ist. Und es konnte auch keine Verbindung geben, weil niemand je eine solche in Betracht gezogen hatte. Man schrieb in der Regel in normalen Büros auf einer mechanischen oder elektrischen Maschine, und wenn man es wünschte, kopierte man das Getippte noch einmal. Der Kopiervorgang pro Blatt dauerte eine Zeitlang. Es war ein langsamer Umwandlungs- und Produktionsprozess, bei dem man als Wartender mitdachte. Man stand, atmete flach und gestaltete Zeit ganz für sich, bis so ein Blatt langsam das Gerät verlassen hatte. Man atmete Gase ein, die das Gebläse ausstieß. Das Gerät, in dessen Innern chemische und physikalische Prozesse lärmend an einem sichtbaren Ergebnis arbeiteten, war rigide, launisch und in seiner Erscheinung aufdringlich und nahezu gewalttätig. Wenn ich heute das damals so Selbstverständliche zu erklären versuche, schäme ich mich etwas. Ich habe das Gefühl, etwas Vertrautes zu verraten.

„Es gibt keine Verbindung,“ sagte die Schreibkraft schroff, fast böse.
„Dann sind es Strahlungen“, erwiderte ich aufs Geradewohl.
Plötzlich fuhr die Schreibkraft auf. “Darf man erfahren, was Sie seit einer Woche ständig zu kopieren haben?“ Sie steigerte sich in einen Verhörjargon: „Wie ich beobachten konnte, sind das immer nur ein paar Worte auf den vielen Blättern, lohnt sich das? Für wen machen Sie das? Wozu? Sie verschwenden Zeit und Material. “ Ich war verletzt und stürzte in zittrige Unsicherheit, als sei ich dabei, wissentlich einen irreparablen Fehler zu begehen. „Für mich.“ sagte ich nicht ohne leise Beschämung, die sich aus der Erkenntnis schälte, dass tatsächlich niemand verstehen könne, was es mit den Textfragmenten auf sich hatte. „Ich erforsche, wie sich Buchstaben, wenige Buchstaben und Buchstabenformationen, auf dem Papier verhalten…sozusagen. Ich füge ihnen später etwas Eigenes hinzu.“ Ließ sich das so erklären? Und nach einer Atempause sagte ich: “Andere Buchstaben. Ich füge neue Buchstaben hinzu. Der Sinn verändert sich dadurch. Der Sinn wird ein völlig anderer dadurch!“ Ich war erleichtert. Ich konnte meine Arbeit Menschen erklären, die nicht einen Schimmer von ihr hatten. „Und außerdem“ setzte ich noch eins drauf, „habe ich einen Kopierschein. Rt ist Teil meiner Förderung. Es geht Sie nichts an, was ich kopiere.“
Erforschen, hinzufügen, verändern!“ Die Worte kollerten verächtlich aus dem verwischten nassrosa Mund der Frau, wertvolle Worte, die gefangen gehalten wurden in ihrem verstümmelten Lachen, das die Atmosphäre im Raum hässlich färbte.
Ich blieb verletzt. Ich rückte von ihr ab und sah auf den dämmrigen Grenzstreifen an diesem isabellfarbenen Oktobernachmittag hinaus. Was reimte man sich wohl dort hinten zusammen, während man uns beobachtete? Auf einmal fühlte ich mich dorthin mehr zugehörig als hierher.

Ein Wurf Spatzen balgte sich in den exakt gezogenen Furchen der nahezu unkrautfreien Erde des Niemandslandes. Lebendige kleine Schattenvögel auf grauer Erde im gelbgrau gesprenkelten letzten Tageslicht.
Dort müsste einmal Saat aufgehen, dachte ich wehmütig. Ein Beet ausgewachsener Kohlköpfe, violetter, grüner und gelber Kohlköpfe. Dazwischen scheckige Kaninchen. Kleine goldene Hamster und gefleckte Meerschweinchen. Und bunte Futterhäuschen dazwischen.

Im Turm drüben regte sich etwas. Was die beiden Grenzer in Bewegung brachte, gehörte nicht zum üblichen Dienstvollzug dieser Männer, das spürte ich. Einer der beiden hastete in dem kleinen Hochverlies zwischen den 4 Fenstern hin und her. In Richtung der gegenüberliegenden verwaisten Balkone riss er mehrfach sein Glas hoch und ließ es wieder sinken, hastete zwischen den Himmelsrichtungen hin und her. Erwarteten sie etwas? Das schnurgerade auf die Grenze und auf unser Büro zulaufende Grau wurde durch ein zweimenschengroßes, helles Geschoß plötzlich verstört. Verstört und dann aufgerissen. Eine kleine, helle, bewegliche, menschenkompakte Masse. Und schon hielt im herüberkreischenden Bremslärm, umwölkt vom Rauch des Dreitakters ein knallgelber Trabant. Sein Fahrer entwich dem Gefährt wie ein Gas, nicht unähnlich den unter grell eingeschalteten Scheinwerfern dinghaft geballten Auspuffgasen.

Er verschwand im Schatten der Mauer.

Wie gebannt hatten die beiden Uniformierten das undecodierbare Geschehen vom Wachturm verfolgt. Uns verband ein gemeinsames Bildgeschehen, ein Augenblicksfilm. Dann verschwanden sie aus dem Blickfeld des Turmfensters und tauchten auf dem Streifen vor dem Turm wieder auf, anonyme, uniformierte unbewegliche Verwischungen.

Hatte die Bürodame gar nichts bemerkt? „Das ist Blattverschwendung!“ stieß sie in meine Richtung hervor, als habe es die wenige Sekunden zwischen uns andauernde Solidarität in Notwehrstimmung nie gegeben. Ich registrierte diesen Satz und beantwortete ihn sofort mit einem unsanften Puff in ihre gepolsterte Seite. Denn in diesem Moment hechtete ein gedrungener, eher kleiner Herr in dunklem Anzug, mit großen, seiner Körpergröße unangemessenen Sprüngen über den Todesstreifen Richtung Kontrollturm.

Der darf“, ließ die Schreibkraft anerkennend vernehmen, sie hatte den Grund ihrer Verärgerung vergessen. Aus den verwaisten Abschottungen der Fenster und Balkone auf der anderen Seite konnten plötzlich bewegliche grelle Lichtstreifen nach außen dringen und uns ungebrochen erreichen.

Der fliehende Mann war ein Fremdkörper. Er hielt beim Laufen in seiner rechten Hand etwas Rundes, Kompaktes hoch wie einen Ausweis. Erst war es nur eine Scheibe mit gleichmäßig bemustertem Rand, wurde plastisch im Näherkommen. Es war ein Wecker, ein billiger nostalgischer Wecker, wie man ihn im Kaufhäusern bekommt, ein Wecker für ein grausames, gänzlich untherapeutisches Wecken, der jetzt im Scheinwerferlicht bronzefarben aufblitzte. Einer der Uniformierten verharrte mit dem Rücken zu uns unbeweglich, während sich ihm der Weckermann näherte. Der zweite Grenzposten war nicht mehr zu sehen.

„Ein hohes Tier“, murmelte die Schreibkraft hypnotisiert, „ein sehr hohes Tier. Dabei rollte sie auf russische Weise das r. Und weiter: „Das ist keine Kontrolle und auch keine Ablösung, auch kein Fall von Republikflucht,- oder ist es…die Ablösung?“ Und sie wiederholte: „Die Ablösung?“ Als der Posten beflissen Dienstmütze, Jackett und Koppel richtete, um schließlich mit herab gefallenen Armen mit Blick auf den Weckermann zu erstarren, murmelte sie noch einmal : „Das ist was Höheres.“ Drüben tockerte noch immer der gelbe Trabi, produzierte dicken grauen Nebel.

Die Lichtstreifen hinter den Fenstern und Balkonen schalteten sich alle zugleich ab. Die beiden Menschen im Niemandsland schienen in verwischter Zeitlupe weiterzuexistieren. Die Berliner Dämmerung, die schon Ende Oktober ab mittags fast überall Zimmerbeleuchtung erforderlich macht, verbreitete jetzt eine falsche Traulichkeit, verödete diesen Ort am Ende alles Weltläufigen.

„Es gibt also auch hier Schlupflöcher“, bemerkte ich in Verkennung der Lage, „man müsste sich seine Spuren merken und dann…“
„Das probierʼn Se mal,“ berlinerte die Bürokraft zurück. Sie hatte ihr distinguiertes Angestelltengebaren abgestreift, als sie mich anfuhr : “Sie…Sie falsches Original! Nichts verstehen Sie! Sehen Sie genau hin! Der da, der da jetzt dem Grenzer den Wecker auf seinen ollen Duckschädel haut, der da….“ und tatsächlich sank der Uniformierte unendlich langsam nieder, „…der da weiß es! DER wiederholt sich nie!“

Der gedrungene Zivile mit dem Wecker wirkte unbeholfen. Wer verwendete schon einen Wecker als Waffe? Und das auf einem der gefährlichsten Grundstücke der Welt? Gefahren warten doch nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren. Ein wenig hektisch geworden, als habe er mit der Ohnmacht des Beamten nicht gerechnet, versuchte er ihn Richtung Kontrollturm zu schleifen, ja, er musste ihn die Treppen hoch gezerrt haben, denn nach einer Weile sah man ihn oben angelangt mit dem erschlafften Körper agieren, – einmal sah man einen hochgerissenen Arm, eine flatternde Hand, einen grobbeschuhten Fuß, in der Luft abgeknickt. Endlich schien er zur Ruhe gekommen zu sein und sichtlich erschöpft stützte sich der gedrungene Zivile irgendwo auf. Der zweite Posten blieb verschwunden. Plötzlich sahen wir das Fernglas auf uns gerichtet. Der fremde Zivile – seine etwas unbeholfenen Bewegungen ließen auf einen Mann um die fünfzig schließen – nahm uns ins Visier. „Schluss jetzt!“, schrie die Bürodame,“ ich hab auch was! Ja, da wirʼste staunen, ich kann nämlich auch!“ Sie riss ihre Brille vom Gesicht, das auf einmal ganz flach geworden war und wehrlos wirkte.

Wie der Mann drüben, so hechtete jetzt sie mit Riesenschritten durch den schlauchartigen Büroraum zu ihrem Schreibtisch an der Tür, riss eine Lade auf und beförderte ein elegantes gold-glitzerndes Opernglas zutage. Triumphierend hielt sie es hoch und war schon wieder am Fenster. Was passiert, wenn zwei Augenpaare über eine erhebliche Strecke hinweg durch Ferngläser einander treffen? Verschmelzen sie zu e i n e m Augenblick jenseits beider Blicke?
Dort draußen standen die spätherbstlichen Abendnebel unwirklich und kompakt mit durchsichtigen Zwischenräumen: Gestalten aus noch unentschiedener Materie auf dem Niemandsstreifen. Drüben produzierte noch immer der gelbe Trabi Lärm und dicken grauen Nebel.

Und ich hielt noch immer das umsonst belichtete Blatt Papier mit dem einen Wort in der Hand. Ich sah auf das Blatt und las das Wort Wiederholung: noch einmal.
„Ich wiederhole ihn, ich kopiere ihn!“ rief die Sekretärin unbeherrscht, ließ das Glas sinken und riss mir das Blatt aus der Hand. Sie las das Wort noch einmal still für sich, wobei sie die Lippen lautlos bewegte. „Sie werden sehen, er versteht uns!“ Sie gab mir das Blatt zurück. „Halten Sie es hoch, nein, nicht so Herzchen, so, ja, zu ihm, mit der Schriftseite zu ihm, in seine Richtung! „ Sie kommandierte: „Sie geben das Signal, ich überprüfe die Wirkung!“ Und legte das kleine Glitzerfernglas wieder an. Ich dachte: „Wenn du jetzt nicht einfach gehst, landest du in einem Albtraum. Nicht zu wissen, warum die Dinge geschehen, stürzt dich aus allen Halterungen vertrauter Ichvisionen.“

Ich blieb.
Ich hielt das Blatt hoch. Ich nehme ein Blatt vor den Mund, dachte ich. Der Zivile schien es zu lesen, gelesen zu haben. Es löste eine kleine Freude in mir aus, dass er mich bemerkt hatte, war ich doch Teil eines Ablaufs von vielleicht schon lange geplanten Vereinbarungen, an denen ich keinen Anteil hatte. Dann ließ er sein Fernglas sinken und wandte sich wieder ins Innere des Turmraumes.
Ich legte das Blatt beiseite, nahm der Anderen das Opernglas aus der Hand. Seltsamerweise ließ sie es geschehen. Ich richtete die Schärfe des Glases ein und erschrak vor der Nähe des fernen Ortes. Er wirkte karg und leer geräumt in dem matten Neonlicht. Der vorherrschende Ton tendierte zu einem matten Oliv-schwarz- weiß. Der mutmaßlich von der Weckerwaffe unschädlich gemachte junge Soldat hatte sich aufgerichtet. Wie er so wackelig dort stand, zeigte sein Gesicht Verblüffung und – ich war fassungslos – Respekt. „Er hat ihn nicht niedergeschlagen“, fasste ich meinen Eindruck zusammen „der Mann ist beim Anblick des anderen Mannes ohnmächtig geworden und sein Kamerad hat die Fassung verloren und ist geflohen!“ „Halt den Rand!“ ließ die Bürofrau vernehmen und nahm das Glas wieder an sich, ehe ich noch das Gesicht des Zivilen erforschen konnte, „Ihr Studierten wollt es immer anders gesehen haben, damitʼs hinterher einen Rest Aufklärungsbedarf gibt, so oder so, euch ist das Geheimnisvolle immer passender, statt der nackten Wahrheit ins Auge zu blicken!“ Und nach zwei hektischen Atemzügen: „Er schlug ihn mit dem Wecker nieder, pariert? Er schlug ihn nie-der, zack – und basta! Der Grenzer hat nur seine Pflicht getan!“

„Indem er niedersank“, ergänzte ich. Der gedrungene Zivile bewegte sich langsam, ungeübt, ungelenk. Der Grenzer war nicht mehr zu sehen. Er war – wohin auch immer – gegangen, wohl, um Meldung zu machen. Das Motorengeräusch des gelben Trabis gehörte nun ins Bild – als zweite Sinneswahrnehmung- oder Täuschung. Doch das Fahrzeug war in dem selbst produzierten Nebel nur noch zu ahnen.

Offenbar schaltete der Fremde drüben an Kontrollvorrichtungen herum, die man nicht sehen konnte; der Kopf war halb gesenkt, sein ab und zu aufschauendes Gesicht verriet ratlos konzentrierte Anspannung. Im Turm wurde es um einige Nuancen heller, es reichte aber kaum aus, Vertrauen in einen mutmaßlich alltäglichen Vorgang zu verbreiten. Der zu Kräften gekommene Grenzsoldat bewegte sich nur minimalistisch nah am Körper des Anderen, es wirkte, als versuche er ihm vergeblich Deckung zu geben. Manchmal hielt er sich die Hand vor den Mund, als ob er hustete. Dann umklammerte die Hand des Zivilen etwas Längliches, Dunkles mit einer langen Schnur daran, ein Mikrophon! Er versuchte, dahinein zu sprechen; seine legere Haltung signalisierte, dass er keine Befehle erteilte. In kleinen Schritten durchmaß er das nüchterne Turmzimmer, der Soldat in kleinen Schritten folgend, er schien zu plaudern, gestikulierte sparsam wie ein Moderator, doch mit fahrigen Blicken. Dann legte er das Mikrophon ab, griff in die Innentasche seines Jacketts, um ein weißes, offenbar beschriebenes Papier herauszuziehen.

„Aha?“, ließ die Bürofrau vernehmen, als habe sie genau das erwartet, sei aber nicht völlig sicher. Der Mann auf der anderen Seite faltete das Blatt langsam auseinander. Mit der rechten Hand hielt er das Blatt vor sein Gesicht, genauer gesagt, vor den Mund, denn die Augen blieben sichtbar. Die andere hielt wieder den Wecker in gleicher Höhe hoch. Dabei blickte er eindeutig in unsere Richtung. Die Sekretärin legte ihr Opernglas ab.

„Wiederholung“ stand auf meinem Blatt, das ich noch immer in der Hand hielt. Es war „mein“ Wort, aber ich wusste nicht, woher es gekommen war. „In Herzhöhe Ihr Blatt halten!“, befahl die Sekretärin und: „in seine Richtung – Herz gegen Herz!“ Ich parierte, warum, war mir nicht klar. „Eine Minute lang“, befahl die Frau und zählte leise bis 60. Dabei ließ sie ihren Blick nicht von dem Mann gegenüber, der wie ich nun das Blatt in Herzhöhe hielt. Dort war so etwas wie ein schmales, länglich kompaktes nicht ganz in den Aufgaben gelöstes Rechenkästchen, in der Mitte des Blattes platziert, erkennbar. Als gäbe es zwischen beiden Blättern eine Verbindung, dachte ich und:

Gibt es Fernsympathie? fragte ich mich. Warum mochte ich diesen wildfremden ein wenig dicklichen Menschen an einem so wildfremden Ort, der mir ferner als Australien war in dieser mehr als absurden Situation? Dann lachte die Bürofrau irre auf. Es hörte sich wie ein Schluchzer an. „Jetzt dürfen Sie“, und ich wusste, was gemeint war, ergriff das Opernglas erneut. Meine Augen fanden schnell hinüber, er hatte Blatt und Wecker niedergelegt und schaute mich per Fernglas direkt an. Ein volles, gebräuntes, wirklich nicht unsympathisches Gesicht, der ganze Mann atmete in einer Art energetischer Gefasstheit, ein Mann Mitte fünfzig, die ganze Gestalt durch ein Lächeln geprägt,- aber dieses Lächeln war schmerzlich neutral, unbeteiligt, ein Medienlächeln, ich war enttäuscht – hatte ich diesen Mann schon gesehen?

Auf seinem fast kahlen Kopf war eine dunkle Spur zu sehen, rötlich landkartenartig zur Stirn hin ausuferndes Gerinsel, war er verletzt worden? Da war etwas, das ich sicher kannte, etwas war durch die Medien gegangen, an mir vorbei, eine Stimme, sie sprach nicht meine Sprache, eine Tribüne, eine Delegation, alte Männer, Blitzlichter, Menschenmassen, die an der Tribüne teilnahmslos bunt und kontrolliert lärmend und doch irgendwie teilnahmslos vorbei glitten.

Jetzt hat es mich auch gepackt, dachte ich traurig. Zu Beginn meines Studiums hatte ich Descartes zu denken gelernt und riskiert, ein lebenslanges Getäuschtwerden vorzudenken, undecodierbare Wahrnehmungsprägungen. Ich fand mich damit ab, mich eines Tages in nicht mehr wieder erkennbaren Zusammenhängen vorzufinden, und damit hatte ich eine Tür geöffnet, mit Blick auf neue Namen, Bilder, Denklandschaften, Bücher.

Ich sah seine weinrote Krawatte, seine Hände lagen plan auf einem Tisch oder Schaltpult nahe dem Fenster, neben ihm der Wecker, dessen Zifferblatt in unsere Richtung schaute, hinter ihm der fast reglose Uniformierte, der es aufgegeben hatte sich vor ihm zu platzieren. Statt der Ziffern erkannte ich Buchstaben, 12 Buchstaben, und das Wort mit den 12 Buchstaben war ein deutsches, u n s e r Wort, es hieß Wiederholung, mit dem großen W auf der 12. Der Mann auf der anderen Seite bewegte sich kaum, er schaute mich an, er wusste, dass meine Augen seine Augen suchten. Meine Augen tränten. Dort drüben war es still und auch hier war es still. Ich wollte mir alles genau einprägen. Die Frau neben mir atmete gleichmäßig. Sie litt stumm in starrer Haltung. Das Büro war jetzt ein hermetisch abgeschlossener Behälter, verschworen seine Einrichtung gegen eine erst spät vom Menschen erfundene Zeit, und seine beiden Insassen verloren allmählich an Farbe und Willenskraft. Draußen verwischtem die endgültig eingefallene Düsternis und ein fein einsetzender Schneeregen die Sicht auf Einzelheiten. Der unerwartete Schnee verbindet beide durch den STREIFEN voneinander getrennten Umgebungen, dachte ich. Da gab es den Mann mit der weinroten Krawatte und dem Wecker mit den 12 Buchstaben in der hell erleuchteten Wachturmkabine und hinter ihm jemand, der seinen Posten, vielleicht sein Leben, ab heute verwirkt hatte. Ein scharf entwickeltes, beseeltes Fensterfoto mit wegretuschiertem Umraum. „Man sieht uns genau“, sagte die Sekretärin, ihre Stimme war kraftlos, als habe sie lange genug gegen etwas angeschrien. Dann ging es sehr schnell. Aus dem Nichts hatten sich mit Höchstgeschwindigkeit 4 oder 5 schwach erleuchtete Militärfahrzeuge der Mauereinfriedung von der anderen Seite genähert. „Das sind Kleinkübelwagen“, sagte die Sekretärin tonlos, ich kenne die Motoren von den Kontrollfahrten zwischen den Führungstürmen und sie entriss mir das Glas. Ich sah sie an, – ihr Körper hatte sich gelockert und ihre Bluse raschelte. Die lärmenden Dreitakter zerfetzten die Stille.

Sie eilte zum Lichtschalter und löschte das Licht und wir pressten unsere Gesichter an die Scheibe. Eine fast geräuschlose Aktion, die Uniformierten glitten durch die Nacht. Einmal hörten wir den deutlich gesprochenen Satz „Die Welt ist erkennbar!“. „Das ist die Kennung und normal“, reagierte die Sekretärin mit leiser Stimme darauf. Sie hatte sich wieder im Griff. Unter Führung zweier leitertragenden Uniformierten preschte der Trupp geduckt zur Mauer vor (gab es denn keine Tür, keinen Durchlass, wie war denn der gedrungene Zivile auf den STREIFEN gelangt?) und blitzschnell sah man diese explosive Traube bereits darauf agieren, nachdem man nur eine Sekunde lang unschlüssig auf freier Bahn – ein lebendes Militärdenkmal – gestanden hatte. Dort war die Stelle dunkel, der Schnee war sofort unter ihren erhitzten Stiefeln geschmolzen. Die zehn, fünfzehn Meter bis zum Turm überwanden sie alle ohne Zögern, sie trollten sich voran wie junge Hunde, ausnahmslos junge Grenzer. Warum geht keine Mine hoch, fragte ich mich? Ich entriss ihr das Fernglas wieder, und blickte ins Gesicht des Mannes im Turm am Fenster. Seine neutrales Medienlächeln war eingefroren und einer gespannten Erwartungsmimik gewichen. Er bewegte sich nicht. „Er ist ein Pantomime“, sagte ich. „Eine Attrappe, meine Liebe“, ergänzte sie, als habe sie auf diese Bemerkung gewartet. Die Kopiermaschine setzte sich augenblicklich wieder in Gang und stieß wohl endlich mein kopiertes Fragmentgedicht Blatt aus.

Ein Teil der Soldaten war in den Turm eingedrungen, der Rest nahm kreisförmig Stellung um den Turm herum ein. „Es sind 12 Mann“, sagte die Bürofrau. Sie schien etwas begriffen zu haben, von dem sie nicht wusste, auf welchem Wege es sie erreicht hatte. Ich sah den Mann am Fenster nicht mehr, gegenüber im Turm war das Licht gelöscht worden und der Truppe setzte sich als dicht schließendes Menschenmosaik über den Streifen hinweg in Bewegung. Mich beschlich ein Gefühl, ab jetzt nicht mehr hinschauen zu dürfen. Die Andere schaltete das Licht ein. „Feierabend, Sie Wiederholungszwang“, rief sie. Noch geblendet vom kalten Neonlicht tastete ich mich zum Kopierer und griff nach dem Blatt, das er endlich freigegeben hatte. Es war das Fragment, rechenkästchenartig mit halbgelösten Aufgaben, flatternd an den Rändern. Das Trabimotorengeräusch drüben, es war noch immer zu hören.

 

 

Weiterführend → 

Lesen Sie auch das Kollegengespräch, das A.J. Weigoni mit Angelika Janz über den Zyklus fern, fern geführt hat. Vertiefend ein Porträt über ihre interdisziplinäre Tätigkeit, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ebenfalls im KUNO-Archiv: Jan Kuhlbrodt mit einer Annäherung an die visuellen Arbeiten von Angelika Janz. Und nicht zuletzt, Michael Gratz über Angelika Janz‘ tEXt bILd