Dies ist kein Wiegenlied

Über das Schaukeln:

Collagierter Wach-Traum und Fremd-Sein in eigenen Bildern bei Herta Müller

Immer dieselbe Frage sickert tröpfchenweise in mein Denken, wenn ich versuche, Herta Müller zu lesen: Wo fange ich diesmal an und wo ende ich? ‒

Diese Frage ist redundant, sie schwimmt, denn bei Müller gibt es weder Ende noch Anfang; auch kein Eintauchen oder Wellen umspülte Körper, nur ein Sich-Hinein-Stoßen oder Sich-von-sich-selbst- Abstoßen, ein geteiltes Ersetzen/Entsetzen des Selbst, ein Sich-zersetzen; ertrinken oder verzweifelt schwimmen, solange bis einem der Atem schaukelt.  ‒

Denn ein ganzes Meer kann ich nicht trinken.

Herta Müller spricht von einer „süßen Wiege ganz aus Stahl“[1], als sie am 15. März 2018 die Lieder Ada Mileas auf der Leipziger Buchmesse ins Deutsche übersetzt und vorträgt. Ein schaukelndes Leben, das „Skelett der Erde“[2], eine Wiege, von der man nicht weiß, wann ihr Schaukeln gefährlich wird und wann sie einen in Gänze schluckt: „Und wer weiß, ob jeder seine eigene Wiege hat, oder ob wir womöglich alle miteinander geschaukelt werden in einer gemeinsamen Wiege, wenn das Leben bodenlos wird.“[3] Dabei möchte sie die vertonten (Sprach-)Bilder verstehen, wie es Kinder tun, sie wortwörtlich nehmen. So kann der „Wiegenstahl“ in Mileas Liedern beispielsweise nur deshalb süß sein, weil er eigentlich aus kandiertem Zucker sein muss.

Um die Verwandlung von Stahl zu kandiertem Zucker nachzuvollziehen und schließlich wieder beim Rosten der Pflanzen anzugelangen, muss man Müllers Bildketten zunächst sondiert, Glied für Glied, betrachten. Den „Kettenschlüssel“ reicht der einstige Nachbar: „Wenn man vom Dorf zum ersten Mal in die Stadt fährt, muss man dort am Bahnhof die rostige Eisenkette durchbeißen, erst dann darf man in die Stadt hinein.“[4] Hier vollzieht sich eine doppelte Transition: zum einen der Übergang vom Dorf in die Stadt, zum anderen wird der Stahl süß, weil hinter dem Bild des Stahls eine rostige Eisenkette schaukelt, aus der nasser Zucker rinnt; Anorganisches wird zu Organischem. Rost und Zucker treffen sich im Braun und einer stellenweise ähnlich anmutenden Materialität, die jedoch zunächst verborgen bleibt, also hinter dem Vorgang, der Metamorphose, sitzt. Aus Erfahrung weiß jedes Kind im Dorf, dass braungefleckte, rostende Pflanzen krank sind. Es schließt: „Kandierter Zucker ist eine Krankheit, wie bei uns Menschen.“[5]

Auf unbefriedigende, aber poetisch schöne Antworten folgen unaufhörlich aneinander gekettete Fragen, die sich Autorin und Leser teilen: „Ist die Wiege an unserem Körper angewachsen, weil sie das Leben selbst darstellt?“[6]

Die Verkettung der Bilder im Schreiben, Wirken und Sprechen Herta Müllers findet eigene Wege, findet „Umwege, weil es die richtigen Wege beim Schreiben gar nicht gibt.“[7] Das trifft sich auch in der musikalisch theatralischen Performanz Ada Mileas, deren Lieder auf der Bühne immer wieder neu und unerwartet interpretiert werden: „Unterwegs schneide ich etwas heraus, füge hinzu und bei manchen Konzerten denke ich mir, dass ich eine bestimmte Passage gar nicht singen muss, weil es keinen Sinn macht. Das Lied verändert sich […].“[8] Demnach entgleitet die zuvor (scheinbar) ausgeübte Kontrolle über das Sagen und Singen, über Worte. „Wörter können und dürfen alles“[9], sie erheben sich über jene, aus denen es spricht und tönt. „[D]ie Wörter finden sich aufgrund von Takt und Klang, und sie werden auf unerwartete Weise genau und sagen, was ich nicht wusste, dass ich es weiß, zum ersten Mal.“[10]

Dieser Vorgang verbildlicht sich in Müllers Collage, in der die „Lieder und Liederinnen“ das lyrische Ich offenbar „innen“ gesungen haben. Auch wird die Vielschichtigkeit der Lieder selbst (sie werden direkt angesprochen) wortbebildert:

[11]

Das Diktat wird durch die „Wahrnehmung, die sich selbst erfindet“, sich neu kompositioniert, ausgewählt durch den „Zeigefinger im Kopf“[12], über das Wahr-nehmen, selbst außer Kraft gesetzt. Es flüchtet sich in Absurdität oder gipfelt in einer surrealen Klarheit, die es sich selbst nicht zugetraut hätte. So wie der Rost Ketten und Pflanzen mit der Zeit gleichermaßen frisst und zerstört, so ist Schreiben auch hören.[13]

Bei Müller geht es hier um die Neu-Kombination und Komposition von gewöhnlichen, man könnte sagen, zunächst „volksnahen“, vertrauten Worten. In einer literarischen Montage fügt sie Textteile neu zusammen und besetzt Vertrauen erweckende Worte inhaltlich neu. Das kann zur Entlarvung einer versteckten bzw. getarnten Bedeutungsebene führen. Schlimmstenfalls sogar zur Omnipräsenz eines lauernden Zustandes. Bestenfalls öffnen ihre Collagen ganz bildlich gesprochen unverhoffte Türen im Raum der eigenen verblüfften Gedanken.

Das Wunder geschieht im Moment der Befremdung, der Irritation, genau dann, wenn wir kein stimmiges inneres Bild mehr an das äußere anlagern können. Durch das Lesen, das Sehen, das versuchte Erfassen der Bild-Text-Collagen Müllers gerät der Rezipient in einen trunkenen, Tag-Traum-ähnlichen Zustand. Dabei dient der auf den ersten Blick sporadisch auftauchende Reim der Einprägung, der Verankerung des Zustandes und erleichtert dem Leser das Hinein-Gleiten in Müllers montierte Wort-Welten, „denn auch was man still liest, klingt im Kopf.“[14] Nicht zuletzt schafft der Reim noch einen weiteren sinnlich erfahrbaren Zugang, was uns zurückwirft auf die „taumelnde“ Musik Ada Mileas: „Bolnava este roze de scleroza“  – „Die Rose leidet an Sklerose“[15].

Schon beim Erzeugen der Collagen spielt die körperliche Ebene eine übergeordnete Rolle: „Diese vielen Farben! Mir haben die Augen wehgetan. Und ich habe mir bei den Zeitschriften gedacht: Mein Gott, was für schönes Papier. Und die Schriften, die Bilder!“[16]

Neben der Materialität der Worte, auch in Form des ausgeschnittenen Papiers, erfährt die Nobelpreisträgerin den Prozess der Herstellung ihrer Montagearbeiten folgendermaßen: „Das Kleben der Wörter ist so sinnlich, die Wörter können und dürfen alles. Ich nehme immer nur ganz gewöhnliche, und wenn ich sie zusammenstelle, dann entsteht etwas, was neu ist, es fängt an zu glitzern.“[17] Das „Glitzern“ kann bloße Reflexion sein, organisch (feuchte/funkelnde Augen) oder anorganisch (Glas, Kristall, Edelstein, Metall). Führt es zurück in das Sehen/Lesen des Rezipienten, begegnen sich Autor und Leser möglicherweise in einem sehr intimen Moment. Vielleicht ertappt der Eine den Anderen und das Spiel mit den Worten vollzieht sich „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. – Auch dieser alte Rechtssatz schließt den Kreis und reflektiert unter anderem auf Silberminen, die den Schaden verletzter Körperteile bzw. das Abtrennen selbiger aufwiegen sollten, wenn es nicht mehr möglich war, ein Auge für ein Auge, einen Zahn für einen Zahn zu verlangen.

So entgehen auch Müller die Worte nicht, die sich in anderen Wörtern „aufhalten“. Im Diebstahl sitzt der Stahl und der Stahl wird in Tonnen pro Kopf berechnet. Er ist „Kopfgeld“ und Geld pro Kopf.

[18]

Das hier abgebildete Text-Bild zeigt u.a. einen angeschnittenen[19] grauen Puppenkopf, in dessen Auge sich ein schwarzes Glänzen, ein Glitzern abzeichnet. Das ebenfalls angeschnittene rechte Auge des Kopfes verleiht ihm eine Lebendigkeit, die trügerisch ist, denn es handelt sich um einen Puppenkopf, dessen leblose Augen nicht vor Feuchtigkeit glänzen können, und doch blickt das „Schwarze im Auge“ auf andere Werke Müllers und auf die Bildketten, die sie alle durchziehen. Das Schwarz taucht in der Collage auf unterschiedlichen Ebenen auf. Es ist mit dem Glanz oder Schimmern zu verbinden, der hinter den Worten sitzt, auch Seide schimmert und glänzt. Das ausgeschnittene Wort „Seide“ ist schwarz geschrieben, verbindet sich beinahe nebensächlich über die Farbgebung mit dem Puppen-Kopf-Auge und mit dem Anzugträger in schwarz, auch mit der feuchten Pupille des Betrachters und zuvor mit der der Wort-Künstlerin. Der Rezipient liest nicht nur, vielmehr sieht er; „Angst macht große Augen, die Dinge werden fremd. Und weil sie fremd werden, beobachtet man sie genau, [denn, J.K.] beobachten hält auch beschäftigt.“[20]

Die einzelnen Worte sind über Farben, Anordnung, die Wahl der Majuskeln und Minuskeln sowie die verschiedenen Schrifttypen miteinander vernetzt oder stoßen sich regelrecht ab. Sie bekommen Leichtigkeit, Schwere, Starre oder Bewegung durch die Art, wie sie untereinander kombiniert und zusammengesetzt werden, geschrieben sind, wie sie mit anderen Collagen Müllers oder bspw. der Musik Ada Mileas in Korrespondenz treten und so immer neuen Konsens erzeugen.

Dabei geht es Müller nicht um die Liebe zum Wort oder der Sprache per se. Wörter werden lediglich zeitweise zu Verbündeten erklärt, um etwas unsichtbar „Lauerndes“ zu materialisieren, um es sichtbar und erfahrbar zu machen. Sprache „kann sich mit allem verbünden. Sie kann auch töten, sie kann retten, in einer Situation, in der es auf das richtige Wort ankommt.“[21]

So sind auch Leben und Tod durch das Schaukeln der Wiege, das Lied (Geräusch des Schaukelns, Taumelns, Verzückt-Seins/Verrückt-Singens) miteinander verschaltet und/oder verwandt. Es ist ein einschläferndes oder zu lautes, ein taumelndes Singen und Lauschen, in dem der eigene Atem mit der Wiege schaukelt. Es sind die Wellen ganzer Ozeane und zwischendurch wird getrunken, um besser singen zu können oder die Klarheit des Liedes zu ertränken. Zurück bleibt der versuchte Schlaf einer Nation in gezuckertem Wiegenstahl in den Liedern Ada Mileas „… und es wird am Ende sehr kurz, denn die Essenz ist kurz, und mir gefällt es nicht, mit Gerede Zeit zu verbringen.“[22]

„Das alles ist in der ’süßen Wiege aus Stahl‘ enthalten ‒ auch die Vermutung, dass die Wiege sich mit der Zeit selber frisst, so wie die Lebenszeit uns frisst.“[23]

Dies ist kein Wiegenlied.

 

 

 

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Julia Kulewatz erhällt für den Essay „Zum Dazwischen als generative Grauzone im Schreiben Herta Müllers“ den KUNO-Essay-Preis 2023

Mit dem Essay „Königin der Nacht“ begründet die Schriftstellerin, Literaturwissenschaftlerin und Verlegerin Julia Kulewatz die Edition Schwarzer Kater – eine Reihe, in der auf den ersten Blick vor allem ungewöhnliche literarisch-wissenschaftliche Texte veröffentlicht werden. Der vorliegende Text verhandelt die Frage nach der Gegensätzlichkeit von Sein und Schein, Wahrheit und Lüge, Licht und Dunkelheit anhand der Königin der Nacht in Mozarts / Schikaneders Zauberflöte. Die Autorin legt damit einen wertvollen Forschungsbeitrag vor: „Werden und Vergehen reichen einander die Hand. Mit Tagesanbruch hat sich das Spektakel erledigt, und so mancher Betrachter meint, einem Traum oder einer betörenden nächtlichen Sinnestäuschung erlegen zu sein.“ Die kraftvolle Metaphorik, durch die sich ihre zahlreichen Texte auszeichnen, spiegelt sich auch in diesem Essay wider.

Weiterführend →

Ein Rückblick auf die Verlagsgründung von kul-ja! finden sich hier.

→ Wir begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.

 

 

 

Zitiert nach:

[1] Müller, Herta: „Grenze in der Tasche“, in: DIE ZEIT, Nr. 13/2018, 21.03.2018 (Artikel online abrufbar unter: https://www.zeit.de/2018/13/herta-mueller-ada-milea-rumaenien, letzter Aufruf: 12. Juni 2018).

[2] Ebd.

[3] Ebd.

[4] Ebd.

[5] Ebd.

[6] Ebd.

[7] Müller, Herta: Mein Vaterland war ein Apfelkern, Fischer Taschenbuch, 2. Auflage: 2016, S. 51.

[8] Zitiert nach Friedrich, Grit: „Die rumänische Liedermacherin Ada Milea. Beobachtungen aus Absurdistan“, in: Deutschlandfunk, 02.03.2018 (http://www.deutschlandfunk.de/die-rumaenische-liedermacherin-ada-milea-beobachtungen-aus.2590.de.html?dram:article_id=411893, letzter Aufruf: 12. Juni 2018).

[9] Müller, Herta: „Ich habe die Sprache gegessen“, in: Der Spiegel, Nr. 35/2012, 27.08.2012 (Artikel online abrufbar unter: http://www. spiegel.de/spiegel/print/d-87908042.html, letzter Aufruf: 12. Juni 2018).

[10] Müller, 2016, S. 51.

[11] Dies.: Vater telefoniert mit den Fliegen, Fischer Taschenbuch, 2. Auflage: 2015, S. 83.

[12] Dies.: Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet, Rotbuch-Verlag, 2. Auflage: 1995, S. 19.

[13] Vgl. Müller, Herta: „Ich habe die Sprache gegessen“.

[14] Ebd.

[15] Zitiert nach Friedrich, Grit. „In der rumänischen Folklore gibt es vergnügte Trinklieder, das heißt Trinken als Lebensfreude. Im Vergleich dazu sind die Lieder Ada Mileas taumelnde Lieder. Hier geht es um das Trinken aus Verbitterung“ (Müller, Herta: „Grenze in der Tasche“).

[16] Müller, Herta: „Ich habe die Sprache gegessen“.

[17]Ebd.

[18] Müller, 2015, S. 112.

[19] Es handelt sich hier auch um verschiedene Ebenen/“Layers“ (im Sinne von Schichten) des Anschneidens und Ausschneidens.

[20] Müller, Herta: „Ich habe die Sprache gegessen“.

[21] Ebd.

[22] Zitiert nach Friedrich, Grit.

[23] Müller, Herta: „Grenze in der Tasche“.