Erinnerung an einen Sprechsteller

Die menschliche Stimme ist das erste Instrument. Sie ist die direkte Verbindung zu den tiefsten Energien und Gefühlen, für die wir keine Worte haben.

Meredith Monk

Der Ausspruch „Stadtluft macht frei nach Jahr und Tag“ umschreibt einen Rechtsgrundsatz des Mittelalters, das im Deutschen Reich am 8. Mai 1945 endete. A.J. Weigoni lernte diese Freiheit in den 1970er Jahren in der Stadt von Else Lasker-Schüler, Pina Bausch und Peter Brötzmann kennen. Die Erfahrung von reimfreier Lyrik, entpflichteter Körperbewegung und befreiten Melodien durch den Jazz haben den angehenden Lyriker für sein weiteres Leben geprägt. Gemeinsam mit dem Jazzer Frank Michaelis hat er der Wuppertaler Schwebebahn eine Liebeserklärung gemacht.

Im Tal an der Wupper bleibt man hängen oder man klettert über die Hügel hinaus.

A.J. Weigoni bei einer poetischen Performance in der „waschSalon“-Galerie, Frankfurt am Main

Der „Ratinger Hof“ bildete in Düsseldorf eine subkulturelle Scharnierstelle. Die Rheinmetropole war so etwas wie die heimliche Hauptstadt der alten BRD, im Bermuda-Dreieck zwischen der Uel, dem Einhorn und dem Ratinger Hof traf man auf geballte Zeitgeist-Kompetenz. In der Landeshauptstadt NRWs der ausgehenden 1970er und frühern 1980er Jahre betrieben A. J. Weigoni und Frank Michaelis im Kunstakademie-Umfeld mit der Literatur eine multimediale Hörspielerei zwischen Performance, Theater und Lesung, dokumentiert durch die Kassette the vera strange tapes. Unter zuhilfenahme eines Vier-Spur-Kassettenrekorders bemächtigten sich die Künstler rigoros der Produktionsmittel. Dieses analoge Medium brachte für diese widerständige Kultur einen Emanzipationsschub mit sich, ein Zugewinn an künstlerischen Mitteln, der mit der Digitalisierung fast in Vergessenheit geriet, weil sich ein noch einschneidenderer Fortschritt vollzog. Die Kassettenkünstler nutzten dies als Möglichkeit, Aufnahmen unabhängig zu produzieren.

Die Kunstakademie hatte sich als installativer Diskursraum aus die Ratingerstraße ausgedehnt.

Als künstlerische Grenzgänger betreiben A. J. Weigoni und Frank Michaelis  mit der Literatur, in einem hocharbeitsteiligem Virtuosentum mit den Schauspielern Marion Haberstroh und Kai Mönnich, eine multimediale Hörspielerei zwischen Performance, Theater und Lesung, und setzen Elemente der Minimalmusik ebenso ein, wie die des Jazz. Es ist beeindruckend, wie unbekümmert sie Stile, Genres und Ausdrucksmittel mischen. Es entstand eine Poetik der Verflüssigung, einer Auflösung fester Grenzen zwischen den Kunstformen. Diese Artisten schätzen Experimente mit akustischen und elektronischen Klängen, sie haben ein Faible für die freiere Rhythmik von Regungen und Bewegungen, der Verbindung von Melodie und Experiment, der Offenheit und das In-der-Schwebe-Halten von Stücken; das Ausbrechen aus vermeintlich vorhersehbaren Strukturen.

Ein Live-Hörspiel mit Marion Haberstroh und Kai Mönnich, uraufgeführt  im Gutenberg-Museum zu Mainz

Mit Live-Hörspiel verbindet man immer noch Orson Welles CBS-Live-Thriller Krieg der Welten. Die Ansprüche an das heutige Hörspiel schienen lange Zeit unabhängig vom Genre in Anspruch und Produktionsweise kaum mehr für den Live-Auftritt geeignet. Dennoch gibt es einen Gegentrend, der mit der Produktion Schland* angetestet wurde: Die abendfüllende Qualität in der Regie von Ioona Rauschanzeigte die Uraufführung von Live-Hör-Spiel „5 oder die Elemente“ im Gutenbergmuseum zu Mainz, ein Hörspiel, das sich Gedanken macht über die veränderten Wahrnehmungen durch eine von Medien dominierte Welt.

Ein Blick in die Zukunft, rekonstruiert aus Fragmenten der Vergangenheit. Sprache als Material, als musikalische Vorlage für eine Stimmenfuge. Kai Mönnich und Marion Haberstroh begeben sich auf einem akustischen Spaziergang am Meer. Nicht an irgendeinem Meer, am Strand von Panthalassa, dem sagenumwobenen Ur-Ozean, der den Urkontinent Pangäa vor dem Kontinetaldrift umspülte… Als „Strandgut“ sammeln Kai Mönnich und Marion Haberstroh die Hinterlassenschaft der Menschheit ein. Ihr Erzählen ist eine Form der Erkenntnis im Wiedererkennen, diese Form gleicht einem Stein, der im Wasser versinkt und Kreise zieht… Einst schöpften Götter und Menschen ihr Wissen aus dem Wasser. Sie empfingen es aus Mnemosynes Schoss und gaben es als Oral-History weiter. Erst als Prometheus den Menschen die Kunst des Schreibens brachte, verliess das Gedächtnis das Wasser und ging an Land… An der Küste von Panthalassa treffen Kai Mönnich und Marion Haberstroh auf die Elemente und erzählen vom dauernden Vergehen durch das Entstehen. Beim Element Wasser wird die Sprachfindung thematisiert. Beim Element Erde ist der Vulkanausbruch ist auch ein körperlicher Ausbruch: Emotionen. Die Sprachwerdung beim Element Feuer trifft auf unterschiedliche Energieströme, auf Widersprüche, die sich im Element Luft in Poesie auflösen. Der Kreis hat sich geschlossen, das Ende ist der Anfang. Die negative Utopie kippt um.

Kai Mönnich, A.J. Weigoni, Marion Haberstroh, Frank Michaelis. Photo: Anja Roth

Das Live-Hör-Spiel „5 oder die Elemente“ verdankt seine Wirkung vor allem den darstellerischen Fähigkeiten von Kai Mönnich und Marion Haberstroh, die sowohl exzellente Sprecher, als auch äußerst wandlungsfähige Schauspieler sind. Bravourös meistern sie die Klippen der komplexen Textcollage, verschmelzen philosophische Reflexionen, Streitgespräche und lyrische Passagen zu einer Einheit, die das Publikum bald in ihren Bann zieht. Eine Rolle leben und erleben ist für Kai Mönnich das Ziel seines Schaffens. Unprätentiös, aus der emotionalen Welt agierend und der Spur der inneren Logik seiner Figuren nachfolgend, landet Kai Mönnich in den Herzen der Zuschauer.

„Bad“ Mülheim im Ruhrgebeat

Tonstudio an der Ruhr, historische Aufnahme – Das Urheberrecht für dieses Photo liegt Andreas Mangen.

Als Tom Täger 1989 im Tonstudio/Ruhr Helge Schneiders allererste Schallplatte „Seine größten Erfolge“ produzierte, hat man ihn für verrückt gehalten. Als A.J. Weigoni 1991 sein erstes Hörbuch LiteraturClips mit Frank Michaelis auf CD realisierte, hat man ihn für verrückt gehalten, weil er viele Hörstücke live eingespielt hat. Fast logisch, daß diese Artisten sich über den Weg laufen mussten. Täger begleitete Weigoni in der 25 Jahren der fruchtbaren Zusammenarbeit nicht nur als Hörspielkomponist, er realisiert mit dem Sprechsteller auch die faszinierendsten Live-Aufnahmen.

Versehen mit einer wunderbaren Akustik steht auf einem Plateau zwischen Haarstrang und Möhnetal, nahe der Möhnetalsperre, die romanische Kapelle Drüggelte.

Drueggelter Kapelle, Photo: Asio

Der Studioarbeit von Weigoni und Michaelis liegen umfangreiche poetische Performances zugrunde, die u.a. mit dem Life-Mitschnitt Amaryll dokumentiert sind. Als zwölfeckiger Zentralbau wurde die romanische Kapelle Drüggelte vermutlich in der Mitte des 12. Jahrhunderts erbaut. Von außen wirkt das „Kirchlein“ recht unauffällig: Ein polygonaler Zentralbau mit zwei sichtbaren Anbauten (Vorhalle und Apsis), abgeschlossen von einem schiefergedeckten Dach, bekrönt von einem kleinen Glockentürmchen. Beim Betreten der Kapelle wird die Besonderheit des Bauwerks sichtbar. Insgesamt 16 in zwei Ringen angeordnete Säulen tragen die Decke des nur etwa 11 m im Durchmesser messenden zwölfeckigen Raumes. Der äußere Säulenkranz besteht aus 12 Säulen. Auf schmalen Pilaster und ebendiesen Säulen ruht ein Kreuzgewölbe. Der innere Kranz besteht aus zwei Säulen und zwei deutlich dickeren, gemauerten Pfeilern. Zwischen dem ersten und dem zweiten Säulenkranz ist ein Tonnengewölbe gespannt, in das die Stichkappen des Kreuzgewölbes einschneiden. Die vier Innensäulen tragen ein kleines Kuppelgewölbe, in dem eine Klappe den Zugang zum Dachboden bildet. Der Klang der Kapelle gab der Rezitation einen Nachhall, den Weigoni durch ironische Brechungen vor dem weihevollen bewahrt.

Bei der Jürgen-Diehl-Hommage auf Drüggelte ging es am 24. April 2004 um die Wahrhaftigkeit des Wortes. Die Arbeiten, die zum Vortrag gelangen, sind tonale Kompositionen mit sprachlichen Mitteln. Die Artisten vermögen es, poetische Performances zu Ereignissen zu machen, weil sie den richtigen Rhythmus und die angemessene Melodie finden. Das Mondäne vereinigt sich mit dem Musikalischen, der Intellekt mit dem Sinnlichen. Die Artisten lassen mit Lust an der gesprochenen Sprache, an der Schönheit von Worten Tonfall, Melodie und Rhythmus hören.

Die Jürgen-Diehl-Hommage auf Drüggelte ist ein Platz für den artistischen Bau autarker Sprachkonstrukte ausserhalb der alltäglichen Rede und normierter Sprachregularien. Dieses Freigelassene, Strömende entsteht durch Präzision, Klarheit und Konzentration. Die Arbeiten oszillieren zwischen dem lyrischen Protestgedicht und dem politischen Liebesgedicht. Einst waren Interpreten Barden, Schamanen, Seher, Troubadoure, waren Reisende in Sachen Liebe und Moral …- im digitalen Zeitalter geht der Schrift der Sinn, und damit die Sinnlichkeit, immer mehr verloren; so scheint es jedenfalls. Diese Veranstaltung soll daran erinnern, was Poesie ursprünglich war: Gesang, Melodie und Rhythmus, Reim und Versmass, Litanei und Mythos.

Die Stimme von Marion Haberstroh besitzt eine lyrische Qualität, die dem reinen Wohlfühlklang, auf den andere Interpretinnen setzen, mit einer sanft vibrierenden Spannung unterlegt.

Marion Haberstroh

Über all die hier skizzierten Jahre arbeitete Weigoni mit der Schauspielerin Marion Haberstroh zusammen. Sie führt uns vor, dass Literatur Mundwerk im buchstäblichen Sinn ist: Sie entsteht im Rachenraum. Da zischt und schnattert, da hämmert’s und gurgelt es. Unangestrengt schafft sie gesprochene Sprachkunstwerke. Ihre Stimme erzeugt eine atemberaubende Intimität. Sie ist weich und schwingend wie der Körper einer Katze, und sie kann kalt leuchten wie Mondschein. Dann bricht sie manchmal und zeigt raue Stellen; sie entzieht sich in Momenten der Heiserkeit, um dann umso schöner wiederzukommen. Sie braucht nicht zu denken sondern nur den Lauten zu folgen, voller Respekt, schon ist eine Geschichte erzählt und im Geist des Zuhörers entstehen die Bilder, so auch bei ihrer letzten gemeinsamen Produktion Wortspielhalle, die mit dem mit dem lime_lab ausgezeichnet wurde. Dieser Preis trägt zur Entwicklung experimenteller, medienüberschreitender Hörspiele bei und versteht sich als Experimentierraum für Sprache, Technik und Sound – mit dem Ziel, künstlerische Möglichkeiten für die auditive Kunstproduktion auszuloten.

A.J. Weigoni, in puncto moderner Sprachtheorie und Ästhetik ganz auf der Höhe, setzt die verdinglichten Wendungen und Sprechhaltungen kritisch gegeneinander… Seinem zornigen Elan fehlt es bei alledem nicht an Pathos und Sehnsuchtsausdruck. Unversehens entsteht bei dieser linguistischen Abräumarbeit ein faszinierender Phantasieraum eigener Art.

Prof. Dr. Franz Norbert Mennemeier

Sprache, Musik und Kunst gehören zu den Grundsteinen der abendländischen Kultur. Sie verhandeln den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft. Auf diesem Hörbuch der Edition Das Labor sind grenzüberschreitende ‚artIQlationen’ zwischen unterschiedlichen Artisten auf analoger Basis zu hören.  Als einen gegenseitig befruchtenden Dialog zwischen bildender Kunst, improvisierter Musik und sprachlicher „VerDichtung“ sollte man das spartenübergreifende Projekt Prægnarien verstehen. Hieß es einst „Wer nicht hören will, muß fühlen.“, könnte man nun behaupten „Wer leben will, muss wahrnehmen.“ Auf allen Ebenen.

Buchstaben, Geräusche und all das, was dazwischen liegt, spielen eine grosse Rolle.

Weigoni-Porträt bei seinem letzten Auftritt: Jesko Hagen

Weigoni interessiert der Einklang der Vokale, Konsonanten und mehrwortigen Verbindungen, das durch vokabuläre Zusammenfügung hergestellte künstliche Bild. Weigoni wetzt die Konsonanten, bis sie schärfer schneiden als jedes Rasiermesser, vermag poetische Performances zu Ereignissen zu machen, weil er den richtigen Rhythmus und die Melodie findet. Weigoni hat wie kaum ein Lyriker sonst begriffen, daß das Gedicht Mundwerk im buchstäblichen Sinn ist: Es entsteht im Rachenraum. Da zischt und schnattert, da hämmert’s und gurgelt es. Manchmal versteht man nicht den Sinn, aber die Gedichte sind durch den Sprachgestus und -duktus immer evident. So musikalisch diese Poesie ist, so falsch wäre es, sie als Musik oder reine Lautmalerei zu verstehen. Der Rezitator arbeitet in seinen poetischen Performances mit Wörtern, und seine Worte haben Bedeutung. Selbst und gerade da, wo er ihnen die herkömmliche unter den Füssen wegzieht, zitiert er sie durch das Sprachspiel, in dem er sie verwendet. Er läßt die Glossolalie der Metropolen-Slangs und die Patois-Eloquenz anklingen, retextualisierend, gewissermassen wieder neu auf: Dialekte, Soziolekte, Fach- sowie Fremdsprachenpartikel unangestrengt schafft er geflüsterte, gesprochene Sprachkunstwerke. Dieser Lyriker legt gleichsam jedes Wort, jede Silbe, jeden Ton unter das Mikroskop, prüft jede Nuance der Artikulation, der Vokalfärbung, der Konsonantenakzentuierung, der Klangschattierung und der dynamischen Abstufung.

A.J. Weigoni und Philipp Bracht gelingt es, Wahrnehmungsgrenzen zwischen Klang, Musik, Stille und Aufführung zu verschieben

Der Posaunist Philipp Bracht spielt Noten abseits der vorgeschriebenen Linien. Bei seinem letzten öffentlichen Auftritt zerrt Weigoni an den Worten, dehnt und zelebriert sie. Auf der Bühne sah man ihm immer weniger. Gegen Ende seiner poetischen Performances gelang es ihm die Scham und Scheu vor dem Auftritt zu überwinden. Hier läuft er letztmalig zu großer Form auf. Weder in der Malerei noch in Poesie und Musik ist „Lebendigkeit“ eine Voraussetzung für unser Staunen, daher wollen diese Artisten als Künstler nicht bewundert, sondern in treusorgender Ironie betrachtet werden, ein Augenzwinkern ist nicht ausgeschlossen.

Rezitieren ist hier Millimeterarbeit.

Dieses Mosaik aus sprachlichen und klanglichen Details wächst zu einem farbigen und zugleich präzisen Gesamtbild zusammen, dies liegt zum einen an seiner stimmlichen Reaktionsschnelligkeit und Wendigkeit, zum anderen an der klugen Planung seiner interpretatorischen Disposition. Ein wirklicher Lyriker weiß, daß er der Sprache das Meiste verdankt. Wenn er ihr folgt, folgt sie ihm. Das merkt man auch, wenn man Weigoni zuhört bei der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden. Seine Sprache trägt und treibt, und man wird mitgetragen und mitgetrieben. Jede Einzelheit steht nicht für sich, sondern verweist aufs Ganze, steht in einem Zusammenhang und wird in den Dienst einer umfassenden Ausdrucksintention gestellt. Weigoni artikuliert so, als ob er durch jedes Wort auf den Grund der Bedeutung sieht. Das Mondäne vereinigt sich mit dem Musikalischen, der Intellekt mit dem Sinnlichen. Seine Stimme erzeugt eine atemberaubende Intimität. Sie ist weich und schwingend wie der Körper einer Katze, und sie kann kalt leuchten wie Mondschein. Aber vor allem ist sie groß, wenn er leise spricht. Dann bricht sie manchmal und zeigt raue Stellen; sie entzieht sich in Momenten der Heiserkeit, um dann um so schöner wiederzukommen. Nicht nur als Sammler von Sprachblüten ist er eine Gelehrtennatur von idealistischem Fleiß und positivistischem Systemdrang, man muß vor seinem polemischen Talent auf der Hut sein. Weigoni wollte nicht einfach ein weiterer experimenteller Lyriker sein und im Bastelparadies arbeiten, er wollte eine eigene Sprache und hat aus der Analyse der Tradition heraus die Poesie der körperlichen Erfahrung, der Klangrealistik, bei welcher die Energetik des Hervorbringens eines Klangs ebenso freigelegt und existenziell wird wie die Worte und ihr Inneres selber: Senkblei in die Seele.

Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.

Matthäus 12,34

Philipp Bracht, Photo: Jesko Hagen

Der Lesende ist im Grunde immer ein Zuhörer. Er kann nicht ausweichen. Der Ton des Textes trifft ihn, eifersüchtig, obsessiv, unbarmherzig. Das Denken ist hier körperlich, jede Idee muss durch Fleisch und Blut. Vieles führt die Sprache ganz allein weiter, wenn man sie läßt. Für diese Artisten ist das Künstlerbuch Prægnarien eine Partitur, die es in Konzerten der Sprache aufzuführen gilt. In der künstlerischen Auseinandersetzung treffen sich Bracht, Hieronymus und Weigoni regelmäßig an der Grenzlinie, dort, wo Schrift in Zeichnung, und auch in Klang übergeht. Es geht bei dieser Performance um die Sehnsucht nach Körperlichkeit, sinnlicher Unmittelbarkeit. Der Ton der Posaune wird von Philipp Bracht mittels Anregung der natürlichen Resonanzen des Instruments durch Lippenschwingungen des Bläsers erzeugt. Kein anderer Klang lebt so sehr vom Atem. Keine andere Musik verlangt ähnlichen körperlichen Einsatz. Bläser und Angeblasene verschmelzen zu einer Einheit, werden Teil eines großen atmenden Klangkörpers. Keine Maschinen, sondern allein die Lungenzüge und der „Stimmzug“ geben den Rhythmus vor. Ein. Und aus. Und wieder von vorn.

 Diese Texte muss man akustisch aufnehmen. Weigoni liest sehr gekonnt und in solch einem gut langsamen Tempo, dass ich mich dabei ertappt habe, in den Zwischenräumen das nächste Wort erraten zu wollen, was mir manchmal gelungen ist. So macht er wirklich neu auf Sprache aufmerksam.

Dr. Christiane Schlüter, Bücher-Wiki

A.J. Weigoni und Frank Michaelis im Schwebebahn-LiteraturClip

Ergänzt wird die Live-Aufnahme des letzten Auftritts aus dem Theater im Bogen (Arnsberg) durch frühe Hörspielereien von Frank Michaelis und A.J. Weigoni, die von Tom Täger remastered wurden. Es ist ein Wagnis vor dem Mikrofon zu bestehen, eine Gefahr zu meistern. Die Kunst gewinnt aus der Bedrohung etwas Neues, einen Überlebenston, dem man in Zuneigung verfallen kann, weil er sich weder für die Tragödie noch für die Komödie entscheidet. Den aggressiven Bezichtigungston sollte man auf keinen Fall mit der zärtlichen Verzweiflungklarsicht zu verwechseln. Weigoni und Michaelis veranstalten ein furioses Stimmenkonzert aus Reimen und Kalauern, den Tücken der deutschen Grammatik und ihren Wortzusammensetzungen. Es gibt in diesen Gedichten Buchstaben als etwas Hörbares. Weigoni ist ein exzeptioneller Lyriker und Performance-Künstler, im Sprechen liefert er seinen Existenzbeweis, das Sprechen und Schreiben, jener hochmusikalische Rhythmus der Wiederholung wird zum einzig möglichen Aufschub gegen den Tod.

Man kann diesen Artisten beim Durchdenken und Durchdringen der Worte auf der Bühne zuhören.

Diese Gedichte sind von bestechender Rhythmik und gezielt eingesetzter Lautlichkeit, schön auch in ihrer eigenwilligen Bildsprache und den intellektuellen Verknüpfungen. Hier trifft Eigenwilligkeit auf Eigenständigkeit und Eigensinnigkeit. „Beinahe verschwörerisch rezitiert Weigoni seine Wortfelder und Frank Michaelis bläst ein Saxophon, dessen bewußt blecherne Schwüle leicht eine ganze New Yorker U-Bahn-Station unterhalten könnte“, stand nach einer poetischen Performance auf der Minipressemmesse in einer Mainzer Zeitung zu lesen. Keinen Millimeter Abstand hat Michaelis zum Text halten müssen. Nichts hat er verschludert. Selbst die Atemlosigkeit nicht. Michaelis Hommage an Thelonious Monks Well you need’nt ist ein Resümee, das in der eleganten und weitläufigen Stimmführung Weigonis paradoxerweise nicht wie Resignation, sondern als ideales psychisches Gleichgewicht daherkommt. Weigoni liefert den Beweis, wie klug das Textverstehen einer poetischen Performance sein kann. Wir Zuhörer sind geradezu angewiesen auf jemanden, der gekonnt rezitiert. Man kann es nicht genügend würdigen, in Düsseldorf arbeiteten Weigoni und Michaelis im Kunstakademie-Umfeld als Hörbuchpioniere, sie produzierten sogenannte LiteraturClips zu einer Zeit, als Marketingspezialisten den Claim Hörbuch noch nicht einmal erfunden hatten**. Überlassen wir das Schlußwort der vom Netz gegangenen Lyrikwelt.de:

„A.J. Weigoni kommt damit das Verdienst zu, die Lyrik nach 400 Jahren babylonischer Gefangenschaft aus dem Buch befreit zu haben.“

 

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András (A. J.) Weigoni (* 18. Januar 1956 in Budapest/Ungarn, Flucht mit den Eltern nach dem Volksaufstand; † 26. Januar 2021 in Düsseldorf)

*Zur Ausstellungseröffnung wurde 1992 der Super-8-Film Schland mit einem Ohr-Ratorium von A.J. Weigoni uraufgeführt. Frank Michaelis, Saxophon (Komposition), Marion Haberstroh und Kai Mönnich, Schauspieler. – Remastered von Tom Täger für die Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr als DVD.

**Erst in 1993 schlossen sich mehrere bekannte belletristische Verlage zusammen (unter anderem Suhrkamp, Hanser und Rowohlt und gründeten den Hörverlag (DHV) in München um das Audiobuch auf CD zu vermarkten.

Alle besprochenen Aufnahmen sind erhältlich über: info@tonstudio-an-der-ruhr.de

 

Hörproben → Probehören kann man Auszüge der Schmauchspuren, von An der Neige und des Monodrams Señora Nada in der Reihe MetaPhon. Zuletzt bei KUNO, eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung.