Zeitlupe im Daseinskino. Nataly pellt sich aus dem Schlafsack. Während sie die Teekanne vom Feuer nimmt, registriert sie aus den Augenwinkeln wie Max einem Touareg eine Zigarette anbietet. Der Scheich zieht die ovale Hülse der Länge nach unter der Nase durch. Riecht. Kramt seine Streichholzschachtel aus der Tasche. Fackelt. Die äussere Gemarkung, der am Realen festgezurrte Landstrich, spiegelt seine innere Topographie, eine morastige Seelenlandschaft, deren Reichtum die Sprödheit des Bodens konterkariert, auf dem der Berichterstatter wurzelt.
»Wer einer Lüge verdächtigt wird und das nicht widerlegen kann, muss ein glühendes Eisen dreimal langsam ablecken«, murmelt der Touareg, streckt die Zunge heraus und befeuchtet zur Bestätigung des Gesagten das Zigarettenpapier. Dieser Seelenführer ist ein Philosoph des Glücks, seine Theorie handelt von nichts anderem als von dessen Abwesenheit. Die Narben, die er äusserlich und innerlich davonträgt, spielen die Rolle von Erkennungszeichen. Weil der Scheich das Leben ausschöpft, kann er es sich leisten, es darzustellen und einen langen Streifzug durch eine zersplitternde Welt unternehmen. Die Wüste wird dem Scheich zum Ort für die Rückverwandlung des Menschen in ein Tier. Dieser besänftigte Furor, diese abgebrühte Sensibilität, entspricht der Metamorphose des Anubis in einen Schakal,der mit allem rechnet und sich immer noch überraschen lässt. Nataly setzt sich zu den Männern und reicht jedem von ihnen eine blecherne Teetasse.
»Wir tun der Landschaft unrecht, wenn wir sie einfach nur schön finden«, erklärt Nataly leichthin im gebrochenen Französisch. Die Genesende ist fasziniert durch die enge Symbiose mit der Natur, in der man den Elementen ausgeliefert ist und bereit, den Rhythmus des Lebens dem Wechsel der Jahreszeiten anzupassen.
»Schön sein heisst vor allem: sich erlauben, schön zu sein«, verneigt sich der Scheich. Anders als im Westen, wo man die Geheimnisse der Natur ergründet, um sie zu beherrschen, ist das höchste Ziel der Touareg die Harmonie mit der Natur. Die Durchreisenden erfahren durch den Scheich, dass die Anschauungsweise, Zivilisation bedeute Kampf gegen die Wildnis, grundverkehrt ist. Sie versuchen fortan, die Natur als Verbündeten zu begreifen und Wildnis in sich aufnehmen. Die Gesetze der Ténéré schreiben vor, dass ein Touareg nicht lügen oder stehlen und nicht die Frau des Anderen begehren, aber auch seinem Gegner zu trinken geben soll. Die Sahara ist elementar, immer fehlt ein Element, ohne das man nicht überleben kann. Diese Wüste ist die Erfüllung aller Sehnsüchte, doch ohne Kamel kann ein Nomade sich in ihr nicht bewegen. Die Feuerung knistert in den Flammen und zerfällt zu Asche. Zuweilen schnarrt einer der Kamelsättel, die als Windschutz um die verglimmende Flamme herum gruppiert sind.
Nach dem Sonnenaufgang geht es mit der Karawane weiter an den oberen Nil, zum Kalashaba–Tempel von Beit–el–Wali. Am Assuan–Staudamm entdecken sie einen Schwarm von Flamingos. Ihr Schnabelrand weist eine Lamellenstruktur auf, die zusammen mit der fleischigen Zunge einen Filterapparat bildet, mit dem die KiemenfüsserPlankton aus dem Nil filtern. Diese Flamingos beginnen die Brutsaison mit einem Tanz. Ihre Flügel sind abgewinkelt, gleichzeitig wird der Kopf nach hinten gebogen, als wolle das Männchen sein Gefieder unter der geöffneten Schwinge putzen. Das Weibchen streckt ein Bein zu einer Seite aus, winkelt es an, schüttelt die Flügel und legt sich in den Wind.
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Vignetten, Novelle von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.
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Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Einen weiteren Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.