Präzision ist Suche, Sprache ist Wortsuche und Wortauswahl. Erzählung wählt aus, was in welcher Form zur Wahrnehmung gebracht wird.
In der Literaturwissenschaft bezeichnet man Vignetten als impressionistische, meist kurze Szenen, die auf einen Moment fokussieren oder einen Eindruck über eine Figur, eine Idee oder einen Ort vermitteln. Diese Vignetten finden sich insbesondere bei Theaterstücken und Drehbüchern, aber auch in narrativen Texten wie beispielsweise bei Hemingways In Our Time, und gerade Heinrich von Kleist hat in diesem Zusammenhang etablierte Regeln des novellistischen Erzählens verletzt und so das klassische Gattungsverständnis irritiert. Die Abfolge dieser Vignetten unterliegt der geschlossenen Form, es ist eine straffe, überwiegend einlinige Handlungsführung, ein gezielter Einsatz szenischer, filmschnittartiger Partien an den Höhepunkten. Weigonis Novelle grenzt an lyrische Formen, die ins Prosaische ausufern – als Referenz sei das Monodram Senora Nada genannt. Die Sprache seiner Poesie bietet einen Zufluchtsort, ein Reich der Imagination, eine Utopie jenseits der Wirklichkeit.
Über den Rhein hinaus ins Weite einer Landschaft, die dem Auge keine Grenzen zu setzen scheint.
„Weisen des Glücklichseins“ nannte Borges das Lesen – und dies trifft uneingeschränkt zu auf die Lektüre dieser Vignetten zu. A.J. Weigoni praktiziert in dieser Novelle das Schauen, ohne hinzusehen, das ungesteuerte Wahrnehmen und lädt das Sprachmaterial mit neuer Sinnhaftigkeit auf. Man erinnert sich an seinen wie beiläufig klingenden Umgang mit biblischen und mythologischen Anspielungen, kennt diesen ganz besonderen, mit fingierter Naivität anhebenden, dann in Traumbildern von großer Plastizität ausschweifenden, stark rhythmisierten Erzählton. Max und Nataly gehen über Metafiktionen im Sinne einer Autoren-Figuren-Interaktion weit hinaus. Eigentlich betreiben sie eine neue Form von Metafiktion. Der Lesende wird zu einem Verbündeten, zu einem dritten Bezugspunkt in einer ohnehin schon verschachtelten Fiktion. Die Grenzen zwischen fiktionaler Erzählebene und ausserfiktionaler Realität lösen sich fliessend dabei auf. Die Novelle entfaltet ihre volle Kraft im Augenblick des Schocks, wenn plötzlich – in einer Geste, einem Bild oder in einer kurzen, abrupten Formel – der Abgrund erkennbar wird, aus dem er seine Protagonisten für Momente ans Licht zieht.
Die Vignetten sind ein fein gesponnenes Psychogramm
Kein Schreibakt wird vollzogen ohne eine selbstreflexive Prüfung auf seine Bedingungen hin. Weigoni übersetzt das Hörbare in Schrift, er erzählt nicht nur, sondern er gestaltet seine Geschichte, Buchstabe für Buchstabe, Seite für Seite, Figur für Figur. Bei ihm entsteht das Schreiben aus sprachlicher Verdichtung, seine Novelle ist eine bewegende Hommage an das Leben in und aus der Möglichkeitsform: das Lesen. Seine gleichsam magische Begabung liegt darin, sich alles, wofür er Worte findet, spontan anverwandeln zu können. In seiner semantischen Mehrschichtigkeit zeigt er zugleich exemplarisch, was ihn als Prosa-Autor so heraushebt: eine poetische Genauigkeit und doch Offenheit der Sprache, die bewirkt, daß sich jedem einzelnen Wort hinterher lauschen läßt, als enthalte es eine ganze Welt. – Folgen viele solcher Worte aufeinander, entsteht etwas, das am ehesten als eine Art assoziativer Klangraum bezeichnet werden könnte, ein schwer zu fassendes Phänomen, das eng mit der offensten aller Künste, der Musik, verwandt ist. Lese-Musik im Kopf. Seltener als man glauben möchte, gibt es unter Schriftstellern jene Solitäre, die vor allem ihrer inneren Stimme folgen und auf deren Werk der Markt und seine Moden oder die Eigenbewegung der Kunst nur wenig Einfluß haben. Manche werden berühmt, andere kommen und gehen weitestgehend unbemerkt.
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Vignetten, Novelle von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2009 – Limitierte und handsignierte Ausgabe als Hardcover.
Ein Hörprobe findet sich hier.
Weiterführend →
Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Einen weiteren Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.