Ich verirre mich in dieser unsinnigen Welt

 

JANUS: Ich verirre mich in dieser unsinnigen Welt voller Korruption, Lüge, Täuschung! Ich fliege übers Kuckucksnest

Vintery, mintery, cutery, corn,

Apple seed and apple thorn …

und fliehe in umgedachte Wirklichkeiten, in denen ich mich teuflisch wohl fühle. Je toller die Ideen, umso besser.

STELLA: Entsetzlich, wie du dich in deine extravaganten Spinnereien verstrickst. Du frisst Bücher wie Drogen. Du verwechselst im Gehäuse deiner wahnhaften Identifikationen die erdachten Welten mit der Wirklichkeit, in der du dich behaupten musst. Du bastelst dir deine Firmamente aus Seegarn, Phantasmen, Fragmentalitäten, Sibyllarien, enigmathematischen Themen, poethischen Allyren mit Metapotential und Grammur …

JANUS: Weißt du, der Alltag ist eine furchtbare Bedrohung! In einem anderen Leben werde ich den ganzen Tag Caipirinha trinken, bildlich gesehen …

STELLA: Du träumst vom Jenseits als Schlaraffenland oder vom Leben als mehrfachem Versuch. So schön der Gedanke klingt, so schrecklich kann er sich realisieren, mein Lieber – etwa wenn es den ganzen Tag lang nichts anderes gibt als Caipirinha. Frag lieber: Was wird aus dir? Du läufst durch eine winterliche Lebenslandschaft, in der du erfrierst, verschollen in dir selbst.

JANUS: Vielleicht ist das Leben ein unheimliches Labyrinth, in dem wir uns verirren, bis uns die Augen aufgehen. Ich gehe träumerisch durch mein Leben, was mir meine Lehrer schon auf meinem ersten Schulzeugnis bescheinigten. Ich sehe Romanhandlungen, wenn ich durch die Straßen laufe oder im Bistro sitze. Ich sehe meine Gedanken in vielen Dingen poetisch gespiegelt, meine Handlungen als Teil einer Dichtung. Das war schon immer so. Wenn ich mein Leben nicht spielen könnte, hielte ich es nicht aus.

STELLA: Dein Spiel mit dem Tod führt dich ad absurdum.

JANUS: Ich träumte. Es war Nacht. Die Masten schwankten, als schwerer Wind gegen die Zeltwände stürmte. Die Zuschauer auf den kreisrunden Rängen starrten in das riesige Maul eines Hais. Die Zähne schimmerten weiß und rot im Blinklicht. Die Arena war schwarz. Im Herzen des Hais schlugen Trommeln den Takt eines langsamen Marschs ohne Schritt. In der Kuppel kreisten Scheinwerfer und strichen langsam über die Wellen der knallenden Stoffwände. Die Lichtkegel wühlten in den Reihen der Zuschauer, die ihre Hälse ins Licht reckten, ohrfeigten das aufgerissene Maul und flossen immer wilder in die schwarze Mitte, bis sie im Trommelwirbel alle Strahlen des Lichts in den Rachen schossen. Zwischen den Zähnen schritten zwei Männer ins Licht. Die Trommeln verstummten. Das Licht verschluckte die Zeit. Die Männer waren eingehüllt in ein langes weißes Tuch. Es war um die Beine geschlungen, um den ganzen Rumpf, die Arme und den Hals, auch um den Kopf – bis auf einen kleinen Schlitz für die Augen. Sie blieben, verfolgt von den gleißenden Funken zitternder Lichtkegel, im stumpfen Sand der Arena stehen. Während die Trommeln wieder schlugen, stieg aus dem Hai eine Frau, ebenfalls in ein Tuch gewickelt. Als sie zu den Männern stieß, bildeten sie zu dritt einen Stern, Schulter an Schulter, mit dem Rücken zur Welt.

Aus der Kuppel fielen drei Seile. An jedem hing ein lederner Fahrradsattel. Sie nahmen die Sättel vom Seil und verankerten sie fest im Sand, die Rohrstange nach oben. Der Rand des Rohrs war scharf geschliffen. Die runde Klinge schimmerte … glitzerte … blitzte … blendete … Eis für die Augen! Jeder der drei ging zwei schnelle Schritte rückwärts, sprang in den Handstand, mit dem Kopf genau über dem Rohr. Die drei Gesichter sahen in die Menge. Die Trommeln stockten. Dann flogen die Arme gleichzeitig auseinander, die Köpfe rammten ins Rohr, die Hände fassten die Hände der Anderen. Sie hielten sich fest. Alle sahen das Knirschen der Stange in den Schädelknochen. In ihren Köpfen raste das kurze Zischen und Brechen weiter. Die Körper standen aufrecht, fest im Sattel. Da lösten sich, angestachelt vom Sturm, der durch die Nähte der Welt in ein Vakuum einbrach, die Knoten des Tuchs an den Füßen und, erst langsam, dann immer schneller, drehten sich die Stoffe länger und länger von den Körpern, nie aber wirbelten sie gegeneinander, sondern peitschten immer härter die gierigen Augen der Zuschauer. Die aufgespießten Köpfe, zum Publikum gerichtet, starrten ins Leere, die Augen geöffnet, die Münder geschlossen. In dieser Haltung verharrten sie.

STELLA: Was soll das? Willst du leben oder sterben spielen?

JANUS: Jeder versteht nur seine eigene Wirklichkeit, wenn überhaupt. Ich muss mich selbst fortwährend übersetzen, um mich zu verstehen. Dabei komme ich über Ahnungen nicht hinaus. Verstünde ich mich, durchschaute ich alle meine Selbstlügen – ich verstünde die ganze Menschheit. Ich brauche die Imagination einer Welt, die ich ertragen kann. Ich kann ohne meine Träumereien nicht leben. Ich will mein Leben auskosten.

STELLA: Du bist ein Kind, das nicht aufhören will zu weinen.

JANUS: Vielleicht ist die Kunst so ein Weinen. Manche suchen und finden Rettung in der Religion, anderen genügt der Trost der Philosophie oder die Liebe. Wahrscheinlich irren wir am Ende alle.

STELLA: Du liebst nur deine Phantastereien. Noch nicht einmal dich selbst. Auch diese langstielige Sternschnuppe nicht, die du seit zwei Wochen anhimmelst. Die steigt die steile Treppe zu deiner Gedanken-Show runter. Das gefällt dir natürlich. Aber du merkst nicht, wie sie dich nur sammeln will, so ein Exemplar hatte sie noch nicht.

JANUS: Das ist meine Spielebene.

STELLA: Du hast keine Ahnung. Sie zieht dir das Blech von der Seele.

JANUS: Das werden wir sehen.

STELLA: Ach so. Du merkst gar nicht, wie du dich betrügst. Du lässt die Hose fallen wie eine Maske. Und im schönen Schein ihrer Worte regnet es feine Schwaden vor deinen Augen.

JANUS: War’s das?

STELLA: Ja. Das war’s.

 

 

***

Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022

Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.

Weiterführend →

Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.

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