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Nekropole. Abydos ist der Hauptkultort des Osiris. Sie sind mit der Karawane unterwegs. Die Augen sind geblendet von der Weite der Landschaft, der Mund versiegelt von der Schönheit, die Ohren verschlossen von der Stille. Sie schlafen auf Pritschen. Leben in Lehmhütten oder in einem Zelt.

Speicher der Vergangenheit. Ein schwer zugänglicher Bilderkosmos erwartet sie in diesem Gedächtnisraum. Verlorene Seelen ohne Eigentum und persönliche Bindungen, sogar ohne Namen. Viertausend Jahre sind dahingegangen, seit eines Menschen Fuss den Boden betrat, auf dem Nataly steht, dennoch vermeint sie, es sei gestern gewesen, als sie die Spuren des Lebens sieht: Vor der Tür den halb gefüllten Eimer mit Mörtel, eine berusste Lampe, den Abdruck von Fingern auf der frisch gemalten Wand oder ein als letzter Gruss auf die Schwelle gelegtes Blumengebinde. Sogar die Luft, die sie einatmet, blieb durch all die Jahrhunderte die Gleiche; Nataly hat sie mit denen gemein, die einst die Mumie zu ihrer letzten Ruhe bestatteten. Derlei kleine intime Einzelheiten schalten den Begriff Zeit aus und zwingen ihr das Gefühl auf, Eindringling zu sein.

„Wann ist eine Leiche ein Toter, den man betrauert, und wann findet der Übergang zum Objekt statt?“, sinniert Nataly. Bei ihrer Archäologie der Kommunikation erkennt sie eine Schrift, die den Charakter der Bildlichkeit noch nicht verloren hat. Diese Schrift macht einen Teil des Raums der Sprache aus, deren Sphäre insgesamt dem unendlichen Raum des Unartikulierten abgewonnen wird. Nataly verspürt das Bedürfnis, Flüchtiges festzuhalten und Unsichtbares sichtbar zu machen, von einem Trieb nach geistiger Kolonisierung. Schrift umgibt alles, Menschen und Dinge, sie erscheint als Stempel auf Gefässen, in Schriftbändern gibt sie den Truhen Kontur, den Figuren Namen und Stimme. Die ägyptische Kunst spricht ununterbrochen. Diese Schrift symbolisiert keine Sprache, diese Hieroglyphen entströmen nicht den Lippen… der Körper selbst ist Schrift, der Tote selber Sinn. Die Mythen und Mysterien kreisen an diesem Ort um den getöteten und wiederauferstandenen Osiris, der als Totenrichter die Herzen der Verstorbenen prüft und von dem die Gläubigen sich ein neues, osirisgleiches Leben erhoffen, um die Vergänglichkeit des Seins zu überwinden.

Nataly hat die sieben Pforten der Arrits hinter sich gelassen und betritt das Innere des Tempels. Für die Ägypter gab es keinen Tod. Jeder Mensch konnte versichert sein, auf der anderen Seite der Erde eine neue Existenz vorzufinden, die der hier befindlichen ähnlich war und er konnte sich der verheissenen Ewigkeit erfreuen, ohne dass er im mindesten seine materiellen Reichtümer hätte aufgeben müssen, wenn er ein Gerechtfertigter inmitten der Planeten geworden war.

»Wenn es Gott gibt… besteht er aus Licht«, versteht Nataly mehr Dinge im Leben als nur das, was sie sieht und hört. Licht gibt ihr den Fokus. Ohne Licht gibt es für sie keinen Raum. Licht ist Abstraktion, sie kann es nur anhand seiner Wirkungen erklären. Es bestimmt die Atmosphäre, den Platz der Menschen in der Welt. Natalys Licht essender Körper besteht aus gespeicherter Lichtenergie. Angesichts ihrer Sterblichkeit fasst Nataly den Gedanken des Übernatürlichen. Der Tod bringt sie falkengleich auf die Spur weiterer Mysterien; erhebt ihr Denken vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, vom Vergänglichen zum Ewigen, vom Menschlichen zum Göttlichen.

»Immer wenn man glaubt, vor der Welt geflohen zu sein, wird man wieder von ihr eingeholt«, verzichtet Max auf abrufbare Chiffren und stimmt ihr zu, dass Licht alles ist. Ohne Licht ist alles nichts. Der eigentliche Sand ist reiner Quarzsand. Und Quarz ist transparent. Die Farbe des Sandes geht auf einen hauchzarten Überzug zurück, eine Patina, die nur ein tausendstel Millimeter dick ist und aus Eisenmineralien besteht. Der Überzug entsteht mit den Jahren. Je älter die Sande werden, je mehr sie in den Dünen ruhen, desto dunkler werden sie. Durch den Verwitterungsprozess bilden sich im Lauf der Zeit rötliche Überzüge.

Gezeitenwechsel der Wirklichkeit. Die Stille verdeutlicht, was Nataly und Max fürchten. Es gelingt ihnen nicht, das Alte vom Neuen zu unterscheiden, sie wissen nicht einmal, dass dies kein Geschichtsunterricht mehr ist, sondern eine Lehrstunde für die Zukunft. Wahrnehmungsschwäche ist eine Knacknuss der hypermodernen Menschen, die Wirklichkeit, ihre Wahrnehmungen und ihre Worte, sie finden nicht zusammen. Nataly und Max sind Nischenbewohner zwischen Wort und Wirklichkeit. Wer redet, erklärt nicht, sondern klingt in einem ganz eigentlichen Sound. Die Weggefährten erproben ein Leben, in dem sie sich kaum wieder erkennen und doch ganz zu sich selbst gekommen sind.

Übersinnliche Suchbewegung. Nataly hält jeden Splitter eines Gedankens fest. Ägyptische Hieroglyphen sind eine auf Bildern basierende Kombination aus Konsonanten– und Sinnzeichen. Die Schrift erscheint ihr unveränderlich, sie versucht den Text durch synkopische Versetzungen aufzubrechen, doch lebt das Ergebnis mehr denn je von Gnaden dieses Textes, ohne dessen heimlich vorausgesetzte Präsenz das vor Augen und Ohr gebrachte auseinander fällt.

Brunnen der Vergangenheit. Menschheitsgeschichte lässt sich in die Stadien mythisch, religiös und metaphysisch aufteilen. Die Ungeheuer der Evolution kämpfen gegen die Monster der Mythologie. Nataly hat die Wahl zwischen der Umkehr zum wiederverzauberten Menschen der verklärten Vormoderne oder den gewaltbereiten Durchbruch zum Übermenschen. Sie fragt sich, inwieweit sie mythische Symbolbedeutungen aktuell gesellschaftskritisch deuten kann. Die Sonne symbolisiert das männliche, rationale Prinzip. Sonnengötter traten im alten Ägypten als weltenferne Schöpfergötter auf, später als zentrale Figuren von Fruchtbarkeitskulten, worin sich solarische und vegetarische Elemente verbanden. Und schliesslich wird die Sonne zum Symbol der Auferstehung. Der mythische Sonnenhengst soll dem Reitpferd ebenso vorausgegangen sein, wie das Totenschiff den Schiffen der Lebenden. So besehen, können Mythen durchaus technische Utopien enthalten. Heutigentags freilich ist die Technik selber Mythos.

Metaphysisches Rollenspiel. Nataly zögert, sich auf solch‘ abstrakte Wege zu begeben, weil sie sich auf nichts Substantielles beziehen, sie kann ebenso gut verstehen, dass sie in ihrem Inneren nichts kennt, was unsichtbar ist und sich fortentwickelt, ohne dass sich der Gang dieser Entwicklung ihrem Verstand oder Gefühl einprägt. Im Verlauf der täglichen Sonnenbahn findet sie das Bild für ihre eigene Seelenwanderung. Sie flieht den Ort mit dem Wissen, dass auch dem Leben mit Logik und klarer Vernunft manchmal nicht beizukommen ist. Es gibt im Leben Momente, denen man nur mit Gefühl näher kommt. Sie ist froh, dass sie mit der Karawane abseits der eingetrampelten Pfade an der lang gestreckten Niloase inmitten einer unendlichen Wüste auf der Durchreise ist.

 

 

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Vignetten, Novelle von A.J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.

Covermotiv, Schreibstab von Peter Meilchen

Weiterführend →

Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Einen weiteren Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.

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