Sternblumen

 

Stella sagte: „Es wird kühler.“ Die Sonne verschwand hinter den Häusern, und die steinernen Bischöfe des Brunnens über uns wurden dunkler, fast schwarz, wir spürten das fallende Wasser im Rücken. „Ich will dir schnell noch eine Geschichte meines Großvaters erzählen.“ Sie schaute an mir vorbei. „Die Geschichte hat auch mit dem Eis zu tun, auf dem wir tanzen und fallen, wenn es so weit ist …“ Ich wusste, dass Stella ihren Großvater liebte. Sie besuchte ihn oft in der großen Stadt am Rhein. Er brachte ihr alles bei, was es in der Musik gibt, und philosophierte mit ihr, seit sie sprechen konnte. „Als Großvater spürte, dass es ans Sterben ging, zitierte er, wenn er von seiner Gebrechlichkeit sprach, immer wieder die Worte: ‚Es ist vollbracht. Amen. Komm, Herr Jesus.’ Obwohl er weder an die Theologie der Evangelien noch an die Göttlichkeit Jesu Christi glaubte. Er blieb bis zu seinem zweiundsiebzigsten Lebensjahr Organist, spielte ein Credo nach dem anderen, gab Konzerte, improvisierte in Sankt Peter die Musik von Stummfilmen – ich erinnere mich besonders an ‚Faust’ und ‚Metropolis’ – und komponierte Orgelmessen, Kantaten und Oratorien. Nachdem er im Ruhestand war, zog er in ein kleines Appartement im Souterrain einer Villa am Rhein. Er erkannte mich erst gar nicht wieder, als ich ihn kurz vor seinem Tod besuchte. Ich glaube, er tat nur so, weil wir uns bei der letzten Begegnung gestritten hatten. Es ging um eins seiner Gedichte. Ich kapierte nicht, was er damit sagte. Heute weiß ich, er wollte damals schon sterben. Ich stand im Wohnzimmer und blickte mich um. Überall lagen beschriebene Notenblätter herum, auf dem Schreibtisch vorm Fenster mit Blick auf die Rosenbüsche, den beiden kleinen Tischen in den Ecken, auf dem Spinett, auf allen Stühlen, auf dem Büfett, auf dem Sofa und neben dem Kopfkissen des Bettes. Auch auf dem Fußboden Stapel von Notenblättern ohne erkennbare Ordnung. Mit dickem Filzstift geschrieben, sahen die schwarzen Noten mich an. Großvater zeigte auf den Schreibtisch. ‚Lies das Blatt in der Mitte!’, sagte er. Ich beugte mich über den Schreibtisch –

 

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Gionos Lächeln, ein Fortsetzungsroman von Ulrich Bergmann, KUNO 2022

Vieles bleibt in Gionos Lächeln offen und in der Schwebe, Lücken tun sich auf und Leerstellen, man mag darin einen lyrischen Gestus erkennen. Das Alltägliche wird bei Ulrich Bergmann zum poetischen Ereignis, immer wieder gibt es Passagen, die das Wiederlesen und Nochmallesen lohnen. Poesie ist gerade dann, wenn man sie als Sprache der Wirklichkeit ernst nimmt, kein animistisches, vitalistisches Medium, sondern eine Verlebendigungsmaschine.

Weiterführend →

Eine liebevoll spöttische Einführung zu Gionos Lächeln von Holger Benkel. Er schreib auch zu den Arthurgeschichten von Ulrich Bergmann einen Rezensionsessay. – Eine Einführung in Schlangegeschichten finden Sie hier.

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