Die Poesie bahnt sich ihren Weg

 

Vorbemerkung der Redaktion: Seit 2000 wird jedes Jahr der Welttag der Poesie gefeiert. Er soll an „die Vielfalt des Kulturguts Sprache und an die Bedeutung mündlicher Traditionen erinnern“.

Eine Designerikone, das erste Logo von Twitter

Die Redaktion erinnert an das Gezwitscher, das am 21. März 2006 begann. Jack Dorsey verschickte den ersten „Tweet“ mit dem Inhalt: „just setting up my twttr.“. In 2009 erschien Twitterature. The World’s Greatest Books Retold Through Twitter von Alexander Aciman und Emmet Rensin, die Sammlung enthält Palimpseste einiger Werke der Weltliteratur in netzaffiner Jugendsprache. Twitteratur ist ein Kofferwort, gebildet aus Twitter und Literatur. Als literarisches Genre ist es eine Adaption verschiedener Genres der sogenannten sozialen Medien. Der Schreibstil ist experimentell oder spielerisch, wobei einige Autoren oder Initiatoren herausfinden möchten, wie sich das Medium Twitter auf das Geschichtenerzählen auswirkt (siehe auch die Kurznovellen von Herrn Nipp) oder wie sich eine Geschichte über das Medium verbreitet. .

Der Traum des Kritikers ist es, eine Kunst durch ihre Technik zu definieren.

Roland Barthes

Auf Twitter finden wir ein Interesse am Mikroskopischen, am Outrierten, am Abseitigen. Technische Neuerungen sind eine Chance für überholte literarische Formen. Bisher bilden die Aphorismen in der Systematik der Literaturwissenschaft neben Epik, Lyrik und Dramatik mit unterschiedlichen Bezeichnungen eine Randgruppe: Epigramm, Sprichwort, Prosagedicht, Kürzestgeschichte und der Aphorismus. Dank des Kurznachrichtendienstes Twitter ist das Bonmot in Form des Mikroblogging eine auflebende Form.

Die Lesenden erkennen eine Tendenz zur Suberversion, zu einer permanent den Zeitgeist unterlaufenden ästhetischen und widerständigen Literaktion.

Die Mikrogramme von A.J. Weigoni erschienen nicht als Buch sondern als Online-Publikation auf  KUNO von 2006 – 2011 zum Themenschwerpunkt Twitteratur. Die Abfolge enthält mitunter fragmentarisch anmutende literarische Miniaturen, die scheinbar unzusammenhängend aufeinanderfolgen. Darunter befinden sich Erinnerungen, Sentenzen und Aperçus, Stillleben und Skizzen. Diese Bruchstücke aus der Realität sind verwandt mit den Miszellen (von lateinisch miscella ´Gemischtes`), dies ist eine Bezeichnung für eine Rubrik, unter der Kürzesttexte variierenden literarischen Inhalts veröffentlicht werden. Von der Kalendergeschichte über dem Aphorismus, der gegenseitige Durchdringungsprozess von Form und Inhalt bleibt bei diesen medienpoetischen Miniaturen wirksam. Für Weigoni ist nichts trivial und nichts einfach klar. Alles kann zum Gegenstand staunender Untersuchung werden. Keines dieser Mikrogramme steht allein, sie sind immer eingebettet in den digitalen Stream. Im Zeitalter der Lichtgeschwindigkeitskommunikation ist die Kürze eine Chance für das Konzise und die Erkenntnis, dass Skurrilität, Tempo, Witz und analytischer Tiefgang keine Gegensätze sein müssen. Die Variante der digitalen Mikrogramme stammen nicht aus dem Bleistiftgebiet, wie die des Robert Walser. Was sie gemeinsam haben ist, dass sich dem Lesenden eine poetische Welt eröffnet, wie sie vielfältiger und reizvoller kaum sein könnte. Auch die Mikrolithen von Paul Celan kommen dem Leser in der Sinn, seine bissigen und zugleich auch bitteren Aphorismen, betrachtet die Redaktion als ´Gegenlichter`, hier wie dort wird von den Fragmenten her ein neuer Blick möglich aufs Ganze auf Dichtung und Leben möglich. Weigonis Bagatellen sind der Versuch, Miniaturen gleichrangig nebeneinander aufzureihen, ein dichtes Gewebe, das seine poetische Qualitäten erst durch die Lektüre gewinnt. Die einzelnen Beiträge lassen sich am besten unter der neuen literarischen Gattung Twitteratur zusammenfassen; die Mikrogramme von A.J. Weigoni sind aber auch der Vorläufer des Projekts Wortspielhalle, das sowohl online, als Buch/Katalog-Projekt sowie als CD erschien.

Bei transmedialen Projekten legt sich avancierte Literatur seit 1989 nicht mehr auf das Medium Buch fest.

Sophie Reyer, eine Schriftstellerikone aus Wien.

Das Projekt Wortspielhalle von Sophie Reyer und A.J. Weigoni wurde mit dem Förderpreis des lime_lab  im Rahmen des „steirischen herbst“ unterstützt. Dieser Preis fördert die Entwicklung experimenteller, medienüberschreitender Hörspiele. Es ist folgerichtig, dass es eine akustische Umsetzung der Sprechpartitur gibt. Der mit einer professionell ausgebildeten Sprechstimme Weigoni arbeitete dafür mit der Schauspielerin Marion Haberstroh zusammen. Mit einem sprachspielerischen Angang zur Lyrik eröffnen der Sprechsteller und die Schauspielerin der Poesie eine neue Handlungsfreiheit. In einem zweckfreien Spiel über Zufälle und Möglichkeiten erforschen sie die ludische Wende, die durch die Dominanz von Spielanwendungen auf dem Computer gekennzeichnet ist. Ihr Spiel mit der Sprache verändern die Elemente einer Situation so zu, dass Neues und Unbekanntes entsteht.

Die Wortspielhalle ist ein kulturübergreifender Zugang zur Andersheit

Hören kann man Marion Haberstroh in der Wortspielhalle. Sie führt uns vor, dass Literatur Mundwerk im buchstäblichen Sinn ist: Sie entsteht im Rachenraum. Da zischt und schnattert, da hämmert’s und gurgelt es. Unangestrengt schafft sie gesprochene Sprachkunstwerke. Ihre Stimme erzeugt eine atemberaubende Intimität. Sie ist weich und schwingend wie der Körper einer Katze, und sie kann kalt leuchten wie Mondschein. Dann bricht sie manchmal und zeigt raue Stellen; sie entzieht sich in Momenten der Heiserkeit, um dann umso schöner wiederzukommen. Indem sich die Hörspielinszenierung in ihrer luziden Schlichtheit zeitgenössischen Modespielereien verweigert, ist sie hörenswert. Ein Auszug aus der Wortspielhalle findet sich in der Reihe MetaPhon oder auf einer CD, die im Tonstudio an der Ruhr von Tonmeister Täger aufgenommen und produziert wurde.

 

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Mikrogramme von A.J. Weigoni, KUNO 2006 – 2011

Wortspielhalle, eine Sprechpartitur von Sophie Reyer & A.J. Weigoni, mit Inventionen von Peter Meilchen, Edition Das Labor, Mülheim 2014

A.J. Weigoni, porträtiert von Anja Roth

Weiterführend Die Redaktion hat Holger Benkel gebeten einen einführenden Rezensionsessay über den Aphorismus zu verfassen. Ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur. Mit ‚TWITTERATUR | Digitale Kürzestschreibweisen‘ betreten Jan Drees und Sandra Anika Meyer ein neues Beobachtungsfeld der Literaturwissenschaft. Eine unverzichtbare Lektüre zu dieser neuen Gattung. Die Sprechpartitur Wortspielhalle wurde mit dem lime_lab ausgezeichnet. Ergänzend empfohlen sei das Kollegengespräch :2= Verweisungszeichen zur Twitteratur von Reyer und Weigoni zum Projekt Wortspielhalle. Eine höherwertige Konfiguration entdeckt Constanze Schmidt in dieser Collaboration. Holger Benkel lauscht Zikaden und Hähern nach. Ein weiterer Blick beleuchtet die Inventionen von Peter Meilchen. Ein Essay fasst das transmediale Projekt Wortspielhalle zusammen.

Elon Musk kauft die Social-Media-Plattform Twitter, nennt sie in X um und macht aus ihr ein profitorientiertes Unternehmen. Friede seiner Masche.