1

 

Blinklicht: Fasten Seat Belt. Turbinen wirbeln das erste Laub über die Startbahn. Der Jet faucht an trapezförmiger Funktionsarchitektur vorbei, die an ein Kühlhaus erinnert, weiss und steril. Langsam, stetig entgleitet ihnen der Heimatboden unter den Füssen. Eine Kehre markiert den Wendepunkt am letzten Ort des Ortlosen. Es geht den Weggefährten um das Getriebensein, um schweigendes Blau, um den unergründlichen Raum, um Abreise.

Zoom. Nataly und Max fliehen vor dem geregelten Leben. Das Flugzug erreicht seine Reisegeschwindigkeit. Die Landschaft wird unter den Wolken zu bunten Farbtupfern, über den Wolken zu einer ultramarinen Verheissung. Schattenwesen erblicken das Licht der Welt. Gedanken fliegen auf goldenen Flügeln… in einem traumschönen Moment leuchtet der alte Zauber noch einmal kurz auf.

Mit tieferen Einsichten in die Welt und ihre Zusammenhänge erkennen sie Licht als sichtbare elektromagnetische Schwingung. Es beginnt die Konfrontation des Individuums mit der Natur, deren Schönheit und Schrecken es nicht kalkulieren kann, die es entzückt oder ängstigt, erhebt oder zerstört. Vor dem Sprechen liegt das ungläubige Staunen; bis es in Gedachtes umgesetzt wird, dauert es eine Weile. Mit gläubigem Staunen kann man jeder Faszination erliegen.

Action. Langsam, stetig entfernen sich auch ihre Gedanken vom gewohnten Rhythmus, und grosse Fragezeichen versperren die Rückkehr. Fragezeichen, die sich in dem Satz aufrichten: „Dort, wohin wir wollen, was wollen wir überhaupt dort?“ Neben diesen gibt es andere, unfassbare. Sie sollen bei dieser Reise hinter den Spiegel diskret verschwiegen werden. Elaboriertes Achselzucken. Der Inhalt des Koffers betäubt ihre Sinne, so dass sie Postkarten mit Fragezeichen bemalen und die Welthaltigkeit befragen. Nachdem diese Widersprüchlichkeiten ihr Recht abgegolten haben, blicken sie über die Altstadt von Iskenderiya, trinken den Mokka bis zum Kardamomrest aus, lehnen sich zurück… und warten darauf, anzukommen.

Exerzitien der urteilsfähigen Klarsicht. Der Himmel wird zu einer Blue Box in gleichmässig tiefem Blau, vor der kulissenhaft Objekte gestellt worden sind. Zwischen Art–Deco–Hotels am Strand steht eine Batterie von Frachtcontainern, als hätte dort ein Tanker seine Bruttoregistertonnen abgeladen. Nataly und Max lassen die Penetranz des Postkartenhimmels als in sich stimmiges Klischee auf sich wirken und erträumen sich den Pharos des hellenistischen Ägyptens. Gedanklich stöbern sie im Schrein des Wissens, der Mutter aller Bildungsmythen, dem Gefäss der Erinnerung, der Bibliothek von Alexandria, in welcher ein Buchbestand von mehr als 420.000 Rollen lag; der Traum vom Kraftzentrum der Geistesfreiheit wurde aus dem Universum des Wissens in das 21. Jahrhundert transferiert. Der kreisförmige Nachfolgebau ragt genau an der Stelle schräg aus dem Boden, an welcher der Standort der alten Bibliothek vermutet wird. Schwere Granitplatten umhüllen das Gebäude; als seien es moderne Hieroglyphen wurden Buchstaben aus unterschiedlichen Alphabeten in die Aussenhülle eingraviert. Die neue Bibliotheca Alexandrina am östlichen Abschnitt der Corniche gleicht einer verspiegelten Chromscheibe, einem Fundstück am Strand, herangespült aus den Tiefen der Zeit, von der Gischt umwogt, halb versunken im Sand.

 

 

***

Vignetten, Novelle von A.J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.

Covermotiv, Schreibstab von Peter Meilchen

Weiterführend →

Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Einen weiteren Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.