Mein Klassiker, la pizza

 

Dein Christus ist ein Jude Dein Auto ist ein Japaner Dein Mittagsmahl ist chinesisch Dein Champagner ist französisch Deine Demokratie ist griechisch Dein Kaffee ist brasilianisch Dein Urlaub ist türkisch Deine Schrift ist lateinisch Deine Pizza ist italienisch. Wenn es auch mutmaßlich keine *echte, unverfälschte Pizza ist.

So ist das heutzutage. Global. Making multiculturalism. Multiculturing. Während Multitasking laut Frank Schirrmacher das Gehirn vermanscht, bereichert multiculturing zuweilen, sei es kulturell, zwischenmenschlich im Alltag oder gar in der Liebe, in der Forschung, auf Reisen oder eben durch die Wahl eines japanischen Autos. Unsagbar gewinnend kann es im kulinarischen Bereich werden.

Pizza: ist ein internationaler Megaseller, ein Feldzug, eine Invasion. Pizza ist Kult. Die Teenage Mutant Ninja Turtles lieben sie auch. Essen eigentlich nichts anderes. American style. Ein bisschen fettig.

Ob die Pizza außerhalb Italiens dauerhaft ein gustiöser Gewinn ist, lässt sich aus heutiger Sicht schwerlich einschätzen; zu weit hat sich vielerorts der hochwertige, saubere und überhaupt nicht kalorienreiche tomatige Hefeteigfladen von der Qualität des Ursprünglichen entfernt. Pizza ist heute nicht nur ein Lieblingsessen, sie ist vor allem ein Global Player, der rund um die Welt gereist ist und die Mechanismen und Machenschaften von Wirtschaft und Nahrungsmittelindustrie erklären kann, behauptet der österreichische Agrarjournalist Paul Trummer in seinem Büchlein Pizza globale.

Männer mögen sie mehr, Frauen weniger, wenn man der Nationalen Verzehrsstudie II des Max Rubner Institutes, ehemals Bundesforschungsanstalt für Ernährung und Lebensmittel, glauben darf. Augenfällig ist in dieser Studie die Vorliebe männlicher Jugendlicher für Tiefkühlpizza, was die Statistik unangenehm verwässert.

Pizza ist unpolitisch – aber auch ein Streitthema. Leider wird mittlerweile das bunt belegte leckere Teigrondell zu oft auf einen ungesunden, kalorienreichen, falls mit fleischiger Auflage versehen sogar krebserregenden, irgendwie prekären Dreck auf dem Niveau von Convenience Food reduziert: das aus Hybridweizen, der seine Pestizide gewissermaßen gleich mitbringt, Hefe und Backtriebmitteln, Stabilisatoren, Emulgatoren und gehärteten Pflanzenfetten zusammengerührte, ausgestochene, auf Fließbändern dahersausende, mit schlapper, an Tomatensaft erinnernder Sauce und allerlei Kram bekleckerte Ding aus einer anderen Welt – einer sterilen, industriell robotisierten Schutzatmosphäre – gefrostet oder „frisch“, das nichts mehr gemein hat mit dem Anflug schmeichelnder Wärme aus dem Steinofen, dem Duft des raucharmen Buchenholzes, dem Flair aus waberndem Biergeruch und fuseligen Chiantiwölkchen. Klingende Gläser übertönen das Knallen und Knistern und – beinahe unhörbar – das Rauschen des Feuers. Begrüßung durch den padrone mit einem Gratisgrappa. Wenn man Glück hat, erfährt man von der bestenfalls langen Tradition des Lokals – wennschon nicht 1738 gegründet, wie die Antica Pizzeria Port’Alba in Neapelvielleicht hat wenigstens der Großvater oder der Vater des heutigen Inhabers den imposanten Kuppelofen selber gebaut – eventuell lauscht man ziemlich südländischen Anekdoten, über einen früheren Inhaber zum Beispiel, der sich mit dem Gewinn der letzten Jahre und so einigem Schwarzgeld samt seinem Ferrari nach Sizilien abgesetzt hat; ohne seine Steuern bezahlt zu haben, selbstverständlich; eine kleine dickliche heulende Ehefrau und fünf bambini, seinen Pizzaofen, ja sein bisheriges Leben zurücklassend.

Während die Wärme am Tresen zu einer vorübergehenden, grappabedingten Hitzewelle wird, macht sich im Hintergrund ein wahrhaftiger pizzaiolo an sein Handwerk. Sprachfetzen erreichen die Umstehenden, möglicherweise ein Dialekt, der selbst nach 3 Jahren Volkshochschulitalienisch unverständlich bleibt. Neapolitanisch-Kalabresisch. Oder es ist einfach nur Kalabresisch. **D’u rispettu mi parru mi veni. Vom Respekt möchte ich sprechen. Denn Pizzateig kneten, das funktioniert für unseren Beispielpizzaiolo nur mit Liebe und Respekt.

Die Herstellung einer echten, begehrenswerten Pizza, die den Sabber-Reflex auslösen soll, benötigt neben ausgesuchten und frischen Zutaten und einem optimalen Teig einiges an Fingerfertigkeit; und die rechte Portion an Esprit, oder anders gesagt, Grundhaltung. Eine vera pizza ist Ritus und Symbol, sie ist Kunst und gelegentlich kann obendrein göttliche Vorsehung eine Rolle spielen. Wer das nicht glaubt oder hier, gerade an diesem Punkt, mitleidig oder verächtlich lächelt … aber dazu später.

Damit wir einer Pizza ungeduldig entgegenspeicheln können, muss zuvor ein Priming stattgefunden haben. Ein Pizzaereignis, vorzugsweise das erste, als (prägende) Vorerfahrung. Die erste Tiefkühlpizza im Alter von 12 Monaten könnte zu einem negativen Priming führen, lieber ein bisschen warten auf das erste Mal, dann wird es um so schöner.

Den Beginn meiner heißen und andauernden Pizzaaffaire muss man sich so vorstellen: hinreichend versiert im mitunter heiklen Flirten mit jungen glutäugigen Südländerinnen, dessen familiärer Anhang – damals war das noch so – sich in irgendeiner Form, und sei es nur ein Cousin dritten Grades, jederzeit in Sichtweite, idealerweise in Hörweite, befindet, und gleichermaßen vertraut mit Spaghetti Bolognese und anderen Klischees, befinde ich mich in der Nähe von Napule – Neapel. Wir schreiben das Jahr 1986.

Eingeladen von der gastgebenden Familie, eine Pizza zu entdecken, wie ich sie in Deutschland bestimmt noch niemals gegessen hätte, zog unser bescheidenes Ensemble, aus Afragola kommend, los – Capo di Casa, Ehefrau, ein Bruder, eine Schwägerin, und der deutsche Gast.

Nach Bewältigung des qualvollen Verkehrschaos einer gedrängt verbauten Stadt, in der bekanntermaßen der zuletzt bremsende Fahrer sein Recht bekommt, ergattert mein Gastgeber einen der raren Parkplätze, relativ zentral.
Wir möchten ins Quartiere Pendino, das zum historischen Zentrum gehört und gleichwohl zu den sozioökonomisch benachteiligten Ecken zählt.

Nach längerem Fußmarsch biegen wir, an der Chiesa di Santa Maria delle Anime del Purgatorio ad Arco angelangt, in eine via ein, ein Gässchen, oder besser hochdeutsch: via heißt Weg. Obgleich wirklich keine Straße, reihen sich hunderte Fensteröffnungen, unmittelbar gegenüber, durch wenige Meter getrennt, Balkönchen mit Brüstungen aus rostendem Eisen kleben an den blätternden Fassaden. Neapel regt die Sinne an, erregt, ständig und überall, mal betörend, mal verstörend. Die Schuhe der Damen klacken auf rautenförmig verlegtem Steinpflaster. Muffige Tabbachi und ein paar Bars, vereinzelt Graffiti, was seinerzeit noch Schmiererei genannt wurde. Manche Geschäfte sind bereits geschlossen und mit den typischen, von Hand zu bedienenden silbergrauen Rollläden aus Metall verbarrikadiert. Es ist Abend. Es ist eng. Es riecht nach Altstadt und immerhin geringfügig nach Meer. Neapel bietet nicht nur pulsierendes Leben und Chaos, Geschichte und Geschichten, Armut und Lebenskunst und Pizza, es brachte desgleichen die Mandoline hervor.

Noch ein paar Meter. Gänsehautgefühl ob des Ortes und des Ambientes. Jetzt riecht es nach heißem Öl; aber nach gutem.
Und endlich: die Pizzeria e Friggitoria – einfach und alt, seit bald 80 Jahren in Neapel, wie so viele der urigen Restaurants und Bratstuben.

Drinnen duftet es: nach Buchenholz und unterschwellig nach Zigarettenrauch.

Weil mein Gastgeber den padrone kennt, werden feuchte Wangenküsschen unter Männern ausgetauscht, die beiden ungeheuer attraktiven Frauen unserer Runde gehen bemerkenswerterweise leer aus. Den schnellen Aperitif im Stehen bekommen neuerdings nur noch ausgesuchte Gäste angeboten, wobei es keine Rolle spielt, wie lange die amicizia besteht.

Bereits der Blick auf die kalten Delikatessen und feinen Antipasti in einer langgestreckten Kühlvitrine geben erste Hinweise darauf, warum dieses frugale Restaurant eine der migliori pizzerie di Napoli sein soll. Ohne den Geschmack erkundet zu haben, bestechen Auswahl und Präsentation der Speisen. Eat, pray, love: Pizza Napoletana, Pizza Fritta, Calzone, Scagliuozzi (frittierte Polentahappen), Panelle (Ölkuchen aus Kichererbsenmehl), Arancine (frittierte Reisbällchen, auf Sizilien werden sie in manchen Provinzen konisch geformt), und – obwohl typisch sizilianisch – Pane ca meusa, hochitalienisch panino con la milza, eine Art Burger mit in Schmalz gebratener Milz garniert, oft mit Ricotta verfeinert.

Daneben die Antipasti: parmigiana di melanzane, peperoni imbottiti, carcioffole dorate e fritte, panzarotti, zeppoline di alghe, insalata di mare, gamberi in salsa rosa, carpaccio di polipo, moscardini al pomodoro, und und und – ein Universum an bekömmlichen Köstlichkeiten, dem schier grenzenlosen gastronomischen Schöpfergeist der Italiener, nicht nur der Neapolitaner, entsprungen. Eat, pray, love – hier ist der Ort dafür.

Und – nein – es ist übrigens nicht die Pizzeria, in der Julia Roberts eine Filmpizza verdrückte und durch diese und andere Schlemmereien sichtbar an Umfang gewann.

Weil in Neapel, möchte ich selbstredend eine Pizza Napoletana probieren, nicht jene Pizza Napoli, die mit Sardellen belegt wird. Die authentische napoletana kommt mit einer minimalen Zutatenliste aus: Mehl („Tipo 00“), Wasser, Hefe, Salz. Schon das Wasser ist entscheidend für den Teig: weich soll es sein und kalkarm. In Neapel erzählt man sich, das Geheimnis der vera pizza napoletana sei vornehmlich das weiche Wasser der Stadt, das zum Teil aus einer Quelle in Avellino stammt. Wichtig für den Teig: es kommt kein Olivenöl hinein. Die Pizza darf allenfalls unmittelbar vor dem Backen mit dem Öl beträufelt werden.

Der Belag des Teiges gibt sich puristisch, für die Version als Marinara neben den gehäuteten Tomaten und dem Öl, Knoblauch und Oregano – für die Margherita Basilikum und Büffelmozzarella oder Fior di latte – gemeint ist nicht die in  Deutschland bekannte Eiscremespezialität, sondern ein Käse, der „quasi-identisch“ mit dem Mozzarella ist, allerdings eine höhere Festigkeit aufweist. Fior di Latte wird aus Kuhmilch oder einer Mischung aus Kuh- und Büffelmilch hergestellt.

Seit 2010 ist die pizza napoletana auch als garantiert traditionelle Spezialität (g. t. s.) von der Europäischen Kommission anerkannt.

Ich wähle die Marinara, die Urversion – und während der Wartezeit folgt ein kurzer Exkurs des padrone, der schnell spricht; er hat gute 90 Sekunden Zeit für mich, den Deutschen, der hier und heute die Pizza seines Lebens essen soll:

So wirklich italienisch ist die Pizza gar nicht. Man könnte sagen die moderne Pizza ist italienisch.

Nach der Etymologie ihres Namens wird in verschiedenen Richtungen gefahndet: Langobardisch, Häbräisch, Griechisch, Mittelägyptisch, Lateinisch oder Neapolitanisch: piceà, was in etwa zupfen bedeutet, oder piza, etwa als Druck oder Ruck zu übersetzen. Das Wort Pizza taucht um 1000 nach Christus im neapoletanischen Dialekt auf.
Eine der beliebtesten Entstehungsmythen erzählt uns von Etruskern und Griechen, die um 800 vor Christus mit Öl und Kräutern verfeinerte Teigfladen auf heißen Steinen gebacken haben sollen. In dieser Urform existiert noch heute die Focaccia, außerordentlich populär um Genua, in der Region Ligurien. Dann käme der Name wohl vom griechischen pēktos, lateinisch pikta, italienisch pitta.

In Kalabrien ist die pitta eine regionale Brotspezialität, eine Art Teigring, also typischerweise mit einem Loch in der Mitte. Neben Weizenmehl, Wasser und Hefe enthält dieser Brotfladen Schweineschmalz und optional ein wenig Malz, präziser: Backmalz.

Gegen 1500, wage, kam die Tomate nach Europa, beziehungsweise wurde sie mitgebracht aus Südamerika. Und es verging noch einmal reichlich Zeit, bis seit Mitte des 18. Jahrhunderts ein ungefähres Vorbild der heutigen Pizza nachweisbar ist, ein Teigfladen, der mit Olivenöl beträufelt und mit Tomatenscheiben belegt wurde. Oregano oder Basilikum soll auch schon drauf gewesen sein.

Die wohl älteste Pizzeria der Welt, die schon erwähnte Antica Pizzeria Port’Alba, wurde 1830 von der ursprünglichen Verpflegungsstätte für Wanderhändler zu einem veritablen Restaurant erweitert.

Seit 1889 kommt Käse auf die Pizza, nämlich mit der Kreation der Margherita. Pizzafans kennen die Geschichte: 11. Juni 1889, König Umberto I. und seine Frau Margherita weilen in Neapel, haben dekadente Lust auf Pizza, das Armeleuteessen; der pizzaiolo Raffaele Esposito von der Pizzeria Brandi in der Salita S. Anna di Palazzo 1-2 spielt patriotisch mit Zutaten in den italienischen Nationalfarben: Basilikum, Mozzarella und Tomaten. Guarda qua! – die Königin ist begeistert.

Veronika Pohl, fällt mir ein, vom Norddeutschen Rundfunk, brachte es einmal auf den Punkt … „Und so begab es sich, dass eine lange und freudige Liebe unter den Menschen entfacht ward: Die Liebe zur Pizza.“

Diese Erfolgsstory der Pizza Margherita findet sich noch heute in der Eigenwerbung der Pizzeria Brandi, ist jedoch von Historikern widerlegt worden. Die Königin kannte zuvor bereits andere Pizze von anderen Pizzabäckern. Esposito war wohl lediglich der einzige, der die Empfangsbestätigung des Hofes aufbewahrt hatte.

Pizza Marinara und Pizza Margherita sind die bevorzugten Pizze in Neapel. Was heißt bevorzugt: es sind die ursprünglichen, original Pizze eben.

Antonio Pace, als Mitbegründer des 1984 gegründeten Vereins zum Schutz der wahrhaftigen neapolitanischen Pizza, der Associazione Verace Pizza Napoletana, der Capo der neapolitanischen Pizzabäcker, geht noch weiter: „Es gibt eigentlich nur zwei Arten von Pizze“, meint er, „die Pizza napoletana und die Imitation der Pizza napoletana“. Wobei die Marinara und die Margherita de facto lediglich zwei Variationen der Napoletana darstellen.

Die Associazione bewertet Fertigpizza aus der Tiefkühltruhe als „kulturelle Deformation“. Gar nichts hält sie von den von Fastfoodketten angebotenen Abarten, und mit den in anderen Regionen Italiens, weit weg von Neapel, häufiger üblichen Pizze mit dünnem, knusprigem Teig steht sie auf Kriegsfuß.

Gleicherweise hat das viereckige Modell, also vom Blech geschnitten, im Pizzaland ein Imageproblem, es zählt in Italien zu den Segnungen des Fast Food.

Verwirrend übrigens die Bezeichung Pizza Marinara: Anders als der Name uns vermuten lässt, finden wir keine Meeresfrüchte auf der Pizza Marinara. Frische Tomaten, Oregano, Knoblauch und Öl wurden einstmals von der Marinara, des Seemanns Frau, auf den Teigfladen gelegt, um mit der ofenwarmen Speise ihren Liebsten zu begrüssen und zu stärken, wenn dieser von den Fischzügen vor Neapel müde und hungrig heimkehrte. Auch konnten die Fischer diese Pizzen als Bordverpflegung mit auf See nehmen, weil sie ohne besondere Umstände haltbar waren.

Und da ist sie fertig gebacken, meine Pizza! Sie ist schön. „Genuin ästhetisch“, denke ich; ascheträchtiger Rand, glutroter Tomatenspiegel, Einsprengsel von frischem Oregano. Der Duft: fruchtig, sonnig, heiß, ein Anklang von Knoblauch und Holzfeuer. Der erste Schnitt offenbart den perfekten Pizzaboden, außen knusprig, innen weicher, nicht zu dünn, nicht zu hoch aufgeblasen.

Der erste Bissen beschert eine für mich tatsächlich unbekannte Dimension! So schmeckt Italien, denke ich augenblicklich. Warum? Schwer zu sagen. Da taucht sie eben unverhofft auf, transzendiert von erlebten Bildern mit Sonne, Strand und Vespa, amicizia und amore zu einer Sinneswahrnehmung jenseits des Erklärbaren: die „teutonische Italiensehnsucht“ als gustatorische Interpretation.

Ja, besonders die pizza napoletana lebt vom Teig – und vom einzigartigen optimal ausgeklügelten Verhältnis zwischen Teig und Tomaten, den wenigen Gewürzen, der richtigen Hitze für kurzes Backen.
Dieses erste Mal war der Moment, als ein somatischer Marker geschrieben wurde. Kribbeln in den Mundwinkeln. Angenehme Wärme im Bauch, die nicht mehr vom Grappa stammte.

Heute, ob in Neapel oder anderswo, mache ich vor der Wahl einer Pizza im ristorante die „Pizza-Probe“, wie das am Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie I der Universität Zürich genannt wird. Ich befrage mein emotionales Erfahrungsgedächtnis, was es von den verschiedenen Varianten hält. Die Frage, für welche Pizza ich mich entscheiden werde, lasse ich im Stirnhirn bearbeiten. Die Antwort ist fast immer klar und dringlich: die Napoletana!

Außerhalb Neapels sind dann – man könnte sagen: naturgemäß – wiederkehrende Enttäuschungen normal. Bis heute jedoch ist der positive somatische Marker aus dem Jahr 1986 intakt.

Pizza ist klar, einfach, effizient. Reste verwerten, auch so ein brüchiges Vorurteil, ja, kann man das? Muss man nicht, sollte man nicht. „Eine Pizza ist doch kein Mülleimer“, lehrt uns sogar das Bayerische Fernsehen in der „Schmidt Max sei Sendung“. Dabei hat Bayern auf den ersten Blick jetzt nicht so sonderlich viel mit Pizza zu tun; außer dass es speziell in München so manch empfehlenswerte Pizzeria gibt und dass im Mai dieses Jahres der Herr Max Schmidt für eine Reportage Giuseppe Conte besucht hat – nicht Conte, den Schriftsteller und Dichter aus Porto Maurizio, der 2009 den Premio Stresa di Narrativa für seine Erzählung L’adultera erhielt – Conte, den Pizza-Weltmeister des Jahres 2011 (und Pizza-Olympiasieger von 2007) aus Bardolino am Gardasee suchte das Bayerische Fernsehen beziehungsweise der Schmidt Max auf. Ich erwähne das so ausführlich, weil Giuseppe Conte eine Pizzaschule ins Leben gerufen hat. Nicht so skurril gewichtig wie die Associazione Verace Pizza Napoletana, aber immerhin. Tüchtig. Dort dürfen Touristen das Kneten, Belegen und Backen erlernen. Mit Spitzenteig und hausgemachtem Sugo.

Die Zubereitung einer Prunkpizza im Sinn von edel und teuer muss ebensowenig sein, wie den Kühlschrank nach Übrigbleibseln zu durchsuchen; Pizza di lusso mit Lachs, Riesengambas, Hummerschwänzen, dio mio – perchè? Ausprobieren, okay, aber die Pizza verbreitete sich in den armen Vierteln Neapels, in den kargen Dörfern des Latiums, Apuliens, Kampaniens, in der Basilikata, in Kalabrien und auf Sizilien; dort vermisste sicher niemand eine „Pizza alla Bischof“, wie sie 2013 im hessischen Limburg das Feuer des Steinofens kennenlernte, erfunden von Giuseppe Rizzo – eine Spottaktion auf den Protzbischoff Tebartz-van Elst, witzig, aber immerhin eine Satire für 24,70 EUR das Stück. Die Einnahmen sollten für einen gemeinnützigen Zweck gespendet werden.

Und zum Schluß, wie versprochen, noch ein paar Sätze zur göttlichen Offenbarung.

Im Spiegel Nr. 15 dieses Jahres las ich „die Geheimnisse des besten Pizzabäckers in Europa“. Der frischgebackene – hier im Kontext mit Pizza und Kuppelöfen ein beunruhigendes Bild – Europameister Daniel Favero erklärt fragenden Gästen seinen Erfolg mit „göttlicher Vorsehung“; alles für ihn sei vorherbestimmt, von Geburt an. Denn, so Favero, er sei „ins Mehl geboren“. Zu meinem Bedauern erhellte der knappe Spiegel-Artkel nicht, wie wir uns diese Geburt vorzustellen haben. Ist das eine Redensart des Pizza-Europameisters? Oder müssen wir diese Mehlgeburt wörtlich nehmen? Als Tatsache? Die schlichte Trattoria Ometto in Carrara vor Augen, Anno 1993, ein paar Großgebinde Weizenmehl, „Tipo 00“, jedes 50 Kilogramm schwer, in hinterster Ecke der Küche, auf dem Boden; einige sind vielleicht beschädigt, eingerissen, oder aufgeschnitten; Mehl auf, neben und vor den Säcken; Daniels hochschwangere Mutter hilft trotz Unwohlsein beim Vorbereiten des Pizzateiges – und da passiert es: die Wehen setzen verfrüht ein, Übelkeit, Schwäche, die Mutter des heutigen Europameisters sinkt … – richtig: auf die Mehlsäcke und krümmt und windet sich dort und schreit hysterisch und es ist zu spät, alles läuft nunmehr übergangslos ab und – … so genau wollen wir uns den glibberigen blutigen Säugling in Mehlkruste gar nicht ausmalen. Falls es sich so oder ähnlich ereignete, ist Daniel Faveros Gottesglaube nachvollziehbar.

Für alle, die jetzt noch immer über den Mythos Pizza lachen, eine Anekdote zu einer sehr persönlichen Erfahrung:

Exakt drei Jahre nach dem unvergesslichen Genuss meiner ersten authentischen pizza napoletana vor Ort in Neapel, führten mich unwahrscheinliche Gründe, die ich nicht näher beschreiben möchte, in die süditalienische Stadt Catanzaro, Hauptstadt der Region Kalabrien, und ich hatte die noch unwahrscheinlichere Gelegenheit, dort in einer Pizzeria mich unter „Restaurantbedingungen“ an der Herstellung von Pizzateig zu versuchen. „Mach mal“, sagte eines Nachmittags der mit mir befreundete pizzaiolo. „Hier: Rührmaschine, Mehl, und so weiter. Du weißt wie es geht.“

Tja. Erstmal 10 Kilogramm Mehl in den Hubkneter – und los. Ja, ich weiß wie es geht, das dachte ich. Das Ergebnis war fürchterlich. Der Pizzateig total verbockt; er roch stark nach Hefe, wies eine gelbliche Farbe auf und blieb, allen Korrekturversuchen zum Trotz, auch nach mehrmaligen Knetversuchen per Hand rissig, steif, irgendwie hart, kurz: unrettbar verloren.

Die Leute von der Pizzeria sagten nichts. Mein Freund legte mir eine Hand tröstend auf die Schulter. Ich fühlte mich schuldig.

Am frühen Abend probebacken einer Pizza unter Verwendung meines sogenannten Teiges im, beziehungsweise am Holzfeuer. Das Endprodukt, eine pizza calabrese mit Mozzarella, schwarzen Oliven und schiacciata piccante, eine Art Salami, war nur bedingt genießbar. Der Teig war nun einmal verpfuscht und die Pizza schmeckte insgesamt säuerlich, der Boden war in der Mitte weder fest noch weich sondern „speckig“, der Rand nicht aufgegangen „tuffig wie ein Wölkchen“ und felsig statt knusprig.

Und mein Freund, der pizzaiolo sagte: „Siehst du – das ist so geworden weil du die Pizza nicht wirklich liebst.“

Dochdoch, meinte ich und erklärte, wie sehr ich Pizza liebe.

„Aber nein mein Guter, dann liebst du sie nicht stark genug!“

Und ich beteuerte meine außerordentliche Leidenschaft für die Pizza.

Darauf mein Pizzaprofi: „Wenn das so ist … ja dann … fehlt es bei dir an der göttlichen Vorsehung.“
So hörte ich seinerzeit zum ersten Mal von diesem Unfug von der Vorsehung, eine Ewigkeit bevor ich den Artikel über den Pizza-Europameister 2014 las, und dachte mir nichts dabei.

Die Siegerpizza des Campionato Mondiale della Pizza 2014 kommt aus Australien! Der pizzaiolo aber, der nun amtierende Pizza-Weltmeister, Wirt des Restaurants „400 Gradi“ in Brunswick bei Melbourne, heißt Johnny Di Francesco. Das klingt ungemein italienisch.

Sind es vielleicht die Gene, die über Eignung und darüber hinaus Genialität eines Pizzabäckers entscheiden?
Das schüfe eine geringfügige Erleichterung für mich. Wenn es doch die Gene sind, was will ich da großartig ausrichten.

Inzwischen ist meine Liebe zur Pizza reifer geworden und meine Fähigkeiten als Hobby-Pizzaiolo haben sich entsprechend sublimiert. Dessen ungeachtet bleibt die Erinnerung an das erste Mal in Neapel unverbraucht.

Ich singe wie Paolo mit dem Pizza-Blitz: „Die Pizza schmeckt so gut, is’ viel besser als in blöde Pizza-Bud(Hut?)!“ – und warne vor übermäßigem Verzehr von Foie gras, Schnecken, Hummer, Fugu, Perigordtrüffeln, Felsenaustern; und Kaviar ist genauso überflüssig wie Kobe-Rind. Viel Dekadenz für viel Geld.

Pizza essen macht zufrieden und somit schön, sagt man in Neapel.

So einfach kann das Leben sein. Zufrieden werden. Schön werden. Wesentlich werden. Pizza essen.

 

 

 

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Weiterführend →

In der KUNO-Reihe “Mein Klassiker” würdigte A.J. Weigoni das 2:1 der wahren B’russia gegen den EffCeh. Enno Stahl Big New Prince von The Fall. Matthias Hagedorns Würdigung ging an die Fernsehserie Raumpatrouille. Ulrich Bergmann näherte sich The Hollow Man von T.S. Eliot an. Peter Paul Wiplingers Klassiker ist der Maler Valentin Oman. Joachim Feldmann spricht Lazy Sunday von den Smal Faces den Klassiker-Rang zu. In einem Kollegengespräch zwischen A.J. Weigoni benennt Mischa Kuball den Lauf des Pheidippides vom Schlachtfeld in das 42 km entfernte Athen als seinen Klassiker. Conny Nordhoff verliebte sich gar in eine ganze Stadt. Joachim Paul analysiert Technikmythen anhand der Heftreihe Perry Rhodan.

 

*genuina)

**Del rispetto voglio parlare. Hochitalienisch.

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