Wunderhorn Verlag

 

In seiner Besprechung von Ohne Punkt & Komma antwortet Herbert Sleegers auf meine Aufforderung, die vielen Lücken des Buches mit eigenen Gedanken zu schließen: „Gar so viele Lücken kann ich beim besten Willen nicht entdecken.“ Aus dem Hinterland. Lyrik nach 2000 ist meine Antwort, Herr Sleegers! Und auch dieses Buch kann nur exemplarische Einblicke liefern, glauben Sie mir. Die Lyrik unserer Tage ist ein wundervolles Füllhorn, das sich folglich nie leert und von dem der einzelne Leser, und sei er noch so lyrikgierig, nur fragmentarisch resorbieren kann. Auch das Programm des Heidelberger Wunderhorn Verlags trägt zu dieser üppigen Vielfalt bei. Neben Einzeltiteln von Michael Buselmeiser, Jürgen Theobaldy, Hans Thill u.a. ist hier mit Das verlorene Alphabet (1999) die originellste Anthologie zur Lyrik der 1990er Jahre erschienen, die gerade heute wieder mit besonderem Interesse gelesen werden kann: Hat sich etwas Signifikantes verändert seit Beginn bis Mitte der 1990er Jahre, und wenn ja, an welchen Gedichten, Büchern bzw. Autoren können wir diese Entwicklung festmachen? Stellen der Tod von Ernst Jandl im Jahr 2000 und/oder das Ableben von Thomas Kling im Jahr 2005 eine Zäsur dar im deutschsprachigen Lyrikschaffen? Das verlorene Alphabet ist ein in sich (viel-)stimmiges kakophonisches 90er-Jahre-Konzert, das ich mit Assoziationen wie Astels Andeutungen, Beyers Befunde, Czernins Charisma, Derschaus Deutlichkeit, Eichs Ernst, Franzobels Fragmente, Grünbeins Grönland, Heins Himmel, Ingolds Ideen, Jandls Jovialität, Klings KlangArt, Laschens Landschaft, Meckels Metamorphosen, Novaks Numinosität, Oleschinskis Offenheit, Pastiors Pocken, Rühmkorfs Rhythmus, Samsons Sehnsucht, Techels Tulpen, Waterhouse-Wörter, Ziebritzkis Zögern nur spröde anklingen lassen kann. Dieser Aufgalopp von Gedichten, die die Zeit nach 2000 einläuten, will gelesen sein.

Poesie der Nachbarn. Dichter übersetzen Dichter: Auf der Grundlage philologisch genau erarbeiteter Interlinear-Übersetzungen entstehen im Künstlerhaus Edenkoben die Übersetzungen, Übertragungen, Nachdichtungen; im Gegenüber zweier Sprachen, zweier Töne, zweier Sprachgebärden entsteht der dem Original in adäquater Weise begegnende neue deutschsprachige Text, eine Fortschreibung des Originals ins Deutsche.

Die wunderbare, von Gregor Laschen begründete Initiative Poesie der Nachbarn. Dichter übersetzen Dichter, deren erste fünfzehn Bände in der edition die horen erschienen, ist mittlerweile in die Hände von Hans Thill übergegangen. [1999 erschien bei DuMont der von Gregor Laschen edierte Sammelband Schönes Babylon, eine Auswahl aus den ersten zehn Bänden der Reihe Poesie unserer Nachbarn.] Die Publikation der zweisprachig edierten Reihe der Stiftung Bahnhof Rolandseck und des Künstlerhauses Edenkoben wurde von Wunderhorn übernommen. 2004 erschien der von Gregor Laschen und Hans Thill gemeinsam herausgegebene sechzehnte Band Leb wohl lila Sommer. Gedichte aus Rußland. Die russischen Dichter Timor Kibirov, Olíga Martinova, Vera Pavlova, Aleksej Purin, Evgenj Rejn und Olíga Sedakova, Vertreter unterschiedlicher literarischer Strömungen, wurden von Sylvia Geist, Sabine Küchler, Gregor Laschen, Hans Thill, Jan Wagner und Ernest Wichner ins Deutsche übertragen. 2005 publizierte Hans Thill als nunmehr alleiniger Herausgeber Wozu Vögel, Bücher, Jazz. Gedichte aus England. Der Sammelband will belegen, „daß es in keiner Lyrikszene gegenwärtig so brodelt und pulsiert wie in der englischen“, wie es im Nachwort heißt. Helen Macdonald, Frances Presley, J.H. Prynne, Craig Raine, Keston Sutherland und Tim Turnbull heißen die englischen Autoren, die von Franz Josef Czernin, Elke Erb, Norbert Hummelt, Ulf Stolterfoht und Hans Thill übersetzt wurden. Umfangreiche Nachworte, ausführliche Auskünfte über die beitragenden Autorinnen und Autoren, attraktiver Hardcovereinband, kurz, vorzüglich edierte und gestaltete Bücher laden dazu ein, die Poesie aus den europäischen Nachbarländern weiterhin näher kennenzulernen.

 

 

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Weiterführend Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.