In ein anderes Blau

Schreiben, eine Art sich zu verhalten, etwas zu tun.

Jürgen Beckers Satz aus „Sätze zum Gedichteschreiben“ (gelesen in: Sabine Küchler und Denis Scheck (Hg.), Vom schwierigen Vergnügen der Poesie, Verlag Straelener Manuskripte, Straelen 1997) trifft auf Menschen, die Gedichte nicht nur schreiben, sondern sie zusätzlich – und das 37mal – abschreiben, in doppeltem Sinne zu. Zum sechsten Mal haben wir für ein handgeschriebenes Buch in der edition bauwagen lyrische Handschriften gesammelt. Nunmehr sind es bereits 120 verschiedene Autographen, die wir in dieser Reihe zusammengebracht haben. Leben wir in erneut schwierigeren Zeiten? Mir wohlbekannte Untergrundbahnhöfe einer Weltstadt, in der ich mich heimisch fühle, werden zur Todesfalle. Fernsehen nach der Jahrtausendwende bedeutet in erster Linie: Sport und Mord. Der Druck am Arbeitsplatz nimmt ständig zu, wird phasenweise unerträglich. Wohin? „In ein anderes Blau.“ Es werden wahrscheinlich mehr Bücher gedruckt denn je. Ein Verbrechen an den Bäumen. „Müßte man jedes Wort kaufen und teuer bezahlen, es würde sorgfältiger geschrieben.“ (Jürgen Becker) Ein Versuch in der Zeit nach 2000, Menschen wieder zum Lesen von Gedichten zu verleiten, heißt: „Poesie in die Stadt“. Was in London mit „Poems on the Underground“ seit vielen Jahren mit großem Erfolg gelingt, scheint hierzulande eher zu versanden.

 

LONDON AIRPORT

Last night in London Airport
I saw a wooden bin
labelled UNWANTED LITERATURE
IS TO BE PLACED HEREIN.
So I wrote a poem
and popped it in.
CHRISTOPHER LOGUE

„Letzten Endes ist das Gedicht eine Sache zwischen zwei Personen und nicht zwischen zwei Seiten.“ (Frank O’Hara)

UND SCHON IST ES ABEND

Ein jeder steht allein auf dem Herzen der Erde
getroffen von einem Sonnenstrahl:
und schon ist es Abend.
SALVATORE QUASIMODO

Ich fühle mich heimatlos und denke: Das Gedicht ist meine Heimat.

 

 

* * *

In ein anderes Blau, Theo Breuer (Hg.), edition bauwagen, 2005
Sechste handgeschriebene Anthologie – in memoriam Rolf Dieter Brinkmann (1940-1975) und Thomas Kling (1957-2005) – mit Gedichten von Theo Breuer, Gerhard Butke, Richard Dove, Margot Ehrich, Gerburg Garmann, Harald Grill, Markus Haupt, Dieter Hoffmann, Klara Hůrková, Peter Ludewig, Michael Mäde, Andreas Rumler, Christian Saalberg, Cordula Scheel, Christiane Schulz, Iris Schröder, Thomas Schweisthal, Ingrid van Biesen und Martina Weber, originale Graphiken von Karl-Friedrich Hacker und Beate Bündgen, 68 Blätter, Bleisatz und Bindung von Karl-Friedrich Hacker.

Weiterführend Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.