Goldener Oktober

 

Trotz langer Feiernacht war er recht früh aufgewacht. Gegen 8 Uhr, anderthalb Stunden später als sonst. Er hatte seine vier Stunden Schlaf bekommen, war hochgeschreckt, im Wissen um die Verpflichtungen schnell aufgestanden, hatte seine Arbeit am Schreibtisch erledigt. Bevor er den Pflichten nachzukommen hatte, musste er allerdings erst einmal das Auto abholen, war es doch am gestrigen Abend vor einer Werkstatt stehen geblieben. Man konnte schließlich nicht vorsichtig genug sein, wenn man allerorten hörte, wer da so den Führerschein für gewisse Zeit entzogen bekam. Ob nun München oder Berlin, das Fahren mit einer gewissen Menge Alkohol im Blut mochte vielleicht selbst nicht so auffallen, dem Gesetzgeber allerdings war es ein Dorn im Auge. Als vernünftiger Bürger, devot und untertänig bis ins letzte Glied, hatte er also seinen Wagen stehen lassen, war zu der nachfolgenden Feier mit einem Freund zu Fuß gegangen und hatte mit ihm darüber nachgedacht, nein gesponnen, wie schön es doch wäre gemeinsam mit einem Schmied, einem Schlosser, einem Gießer und einem Goldschmied einen eigenen Füllfederhalter zu konzipieren und auch zu realisieren. Nicht als Vermarktungsartikel, sondern einfach für einen selber. Man hatte den Entwurf fast schon vor Augen gehabt, hatte überlegt, wer daran alles beteiligt sein könne und so war der Weg kurz geworden, angenehm. Jetzt ging er fast die gleiche Strecke, aber alleine. Ohne Begleitung hat man zwar nicht solch anregende Gespräche, wird wahrscheinlich nicht derart herumflachsen und Spinnereien bauen, doch kann man viel genauer sehen. Die Ablenkung ist nicht so groß. Entweder füllen die Gedanken die Zeit und die Wahrnehmung völlig aus oder es geschieht ein intensives Einlassen auf die Umwelt. Die erste Hälfte des Weges hatte Herr Nipp gar nicht bewusst erlebt, über den gestrigen Abend, die vielen mehr und minder guten Gespräche reflektiert. Alte Bekannte hatte er getroffen und neue kennen gelernt. Nie aber konnte er sich daran erinnern, wie solche Gespräche zustande kamen, wie er mit den Leuten in Kontakt gekommen war. Irgendwie hatte es sich immer ergeben. Letztlich sind die Inhalte auch wesentlich wichtiger. Dann bemerkte er endlich, dass schon seit einiger Zeit das Laub auf den Bürgersteigen konkrete Ausmaße angenommen hatte. Der Herbst war nicht mehr zu verleugnen, voll kindlicher Freude schlurfte er durch die Blätterberge und trat manchmal in die Anhäufungen herein, die gelbbraunen Kastanienblätter bewegten sich dann flatternd in alle Himmelsrichtungen. Kindheitserinnerungen auslösend. Glückzustand, Verstecken spielen in von den Vätern zusammengekehrten Laubhaufen und sich wundern, wenn manchmal seltsam herbe Gerüche aufstiegen. Der mit der Laubharke Blätter vom Baum schüttelnde Nachbar, der die Feinheiten des Rasens im Liegen schnitt, ernsthaft mit einer Küchenschere. Jener Nachbar, der tatsächlich ein mathematisches System entwickelt hatte, wie man mit einem Elektrorasenmäher möglichst so hantierte, dass niemals die Schnur nachzuziehen war. Und das in einem Garten mit damals über zehn Obstbäumen.

Er hatte seine wahre Freude, nur solange, wie nicht gefegt worden war. Welches Idyll, leider nur für wenige Tage, dann würde alles in nassbraunen Matsch zusammensinken. Die letzten zweihundert Meter waren völlig baumfrei, die grob geteerte Straße ins Industriegebiet hustete trockenhellen Staub. Nur ein leises Kratzen lenkte Herrn Nipp von seiner Beobachtungslust ab. Merkwürdiger Ton, schleifend, ein wenig quietschig und völlig rhythmisch, nicht erklärbar. Er machte sich schon Sorgen, denn mit dem Geruch, der in der Luft lag, konnte man annehmen, dass es irgendwo in der Nähe brennen würde. Die Schmiede etwa? Nein, nichts zu sehen. Als Herr Nipp in den Wagen stieg, bemerkte er, dass sich ein Stiel eines Kastanienblattes in das einzige Loch seines linken Schuhs gebohrt hatte und mit jedem Schritt über die Straße geschleift worden war.

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019

Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421

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