Epochen der Dichtkunst

 

Wo irgend lebendiger Geist in einem gebildeten Buchstaben gebunden erscheint, da ist Kunst, da ist Absonderung, Stoff zu überwinden, Werkzeuge zu gebrauchen, ein Entwurf und Gesetze der Behandlung. Darum sehn wir die Meister der Poesie sich mächtig bestreben, sie auf das vielseitigste zu bilden. Sie ist eine Kunst, und wo sie es noch nicht war, soll sie es werden, und wenn sie es wurde, erregt sie gewiß in denen die sie wahrhaft lieben, eine starke Sehnsucht, sie zu erkennen, die Absicht des Meisters zu verstehen, die Natur des Werks zu begreifen, den Ursprung der Schule, den Gang der Ausbildung zu erfahren. Die Kunst ruht auf dem Wissen, und die Wissenschaft der Kunst ist ihre Geschichte.

Es ist aller Kunst wesentlich eigen, sich an das Gebildete anzuschließen, und darum steigt die Geschichte von Geschlecht zu Geschlecht, von Stufe zu Stufe immer höher ins Altertum zurück, bis zur ersten ursprünglichen Quelle.

Für uns Neuere, für Europa liegt diese Quelle in Hellas, und für die Hellenen und ihre Poesie war es Homeros und die alte Schule der Homeriden. Eine unversiegbare Quelle allbildsamer Dichtung war es, ein mächtiger Strom der Darstellung wo eine Woge des Lebens auf die andre rauscht, ein ruhiges Meer, wo sich die Fülle der Erde und der Glanz des Himmels freundlich spiegeln. Wie die Weisen den Anfang der Natur im Wasser suchen, so zeigt sich die älteste Poesie in flüssiger Gestalt.

Um zwei verschiedene Mittelpunkte vereinigte sich die Masse der Sage und des Gesanges. Hier ein großes gemeinsames Unternehmen, ein Gedränge von Kraft und Zwiespalt, der Ruhm des Tapfersten; dort die Fülle des Sinnlichen, Neuen, Fremden, Reizenden, das Glück einer Familie, ein Bild der gewandtesten Klugheit, wie ihr endlich die erschwerte Heimkehr dennoch gelingt. Durch diese ursprüngliche Absonderung ward das vorbereitet und gebildet, was wir »Ilias« und »Odyssee« nennen, und was in ihr eben einen festen Anhalt fand, um vor andern Gesängen der gleichen Zeit für die Nachwelt zu bleiben.

In dem Gewächs der Homerischen sehen wir gleichsam das Entstehen aller Poesie; aber die Wurzeln entziehn sich dem Blick, und die Blüten und Zweige der Pflanze treten unbegreiflich schön aus der Nacht des Altertums hervor. Dieses reizend gebildete Chaos ist der Keim, aus welchem die Welt der alten Poesie sich organisierte.

Die epische Form verdarb schnell. Statt dessen erhob sich, auch bei den Joniern, die Kunst der Jamben, die im Stoff und in der Behandlung der grade Gegensatz der mythischen Poesie, und eben darum der zweite Mittelpunkt der hellenischen Poesie war, und an und mit ihr die Elegie, welche sich fast ebenso mannichfach verwandelte und umgestaltete wie das Epos.

Was Archilochus war, muß uns außer den Bruchstücken, Nachrichten und Nachbildungen des Horatius in den Epoden, die Verwandtschaft der Komödie des Aristophanes und selbst die entferntere der römischen Satire vermuten lassen. Mehr haben wir nicht, die größte Lücke in der Kunstgeschichte auszufüllen. Doch leuchtet es jedem der nachdenken will, ein, wie es ewig im Wesen der höchsten Poesie liege, auch in heiligen Zorn auszubrechen, und ihre volle Kraft an dem fremdesten Stoff, der gemeinen Gegenwart zu äußern.

Dieses sind die Quellen der hellenischen Poesie, Grundlage und Anfang. Die schönste Blüte umfaßt die melischen, chorischen, tragischen und komischen Werke der Dorer, Äolier und Athener von Alkman und Sappho bis zum Aristophanes. Was uns aus dieser wahrhaft goldenen Zeit in den höchsten Gattungen der Poesie übrig geblieben ist, trägt mehr oder minder einen schönen oder großen Styl, die Lebenskraft der Begeisterung und die Ausbildung der Kunst in göttlicher Harmonie.

Das Ganze ruht auf dem festen Boden der alten Dichtung, eins und unteilbar durch das festliche Leben freier Menschen und durch die heilige Kraft der alten Götter.

Die melische Poesie schloß sich mit ihrer Musik aller schönen Gefühle zunächst an die jambische, in welcher der Drang der Leidenschaft, und die elegische, in welcher der Wechsel der Stimmung im Spiel des Lebens so lebendig erscheinen, daß sie für den Haß und die Liebe gelten können, durch welche das ruhige Chaos der Homerischen Dichtung bewegt ward zu neuen Bildungen und Gestaltungen. Die chorischen Gesänge hingegen neigten sich mehr zum heroischen Geist des Epos, und trennten sich ebenso einfach nach dem Übergewicht von gesetzlichem Ernst oder heiliger Freiheit in der Verfassung und Stimmung des Volks. Was Eros der Sappho eingab, atmete Musik; und wie die Würde des Pindaros gemildert wird durch den fröhlichen Reiz gymnastischer Spiele, so ahmten die Dithyramben in ihrer Ausgelassenheit auch wohl die kühnsten Schönheiten der Orchestik nach.

Stoff und Urbilder fanden die Stifter der tragischen Kunst im Epos, und wie dieses aus sich selbst die Parodie entwickelte, so spielten dieselben Meister, welche die Tragödie erfanden, in Erfindung satyrischer Dramen.

Zugleich mit der Plastik entstand die neue Gattung, ihr ähnlich in der Kraft der Bildung und im Gesetz des Gliederbaus.

Aus der Verbindung der Parodie mit den alten Jamben und als Gegensatz der Tragödie entsprang die Komödie, voll der höchsten Mimik die nur in Worten möglich ist.

Wie dort Handlungen und Begebenheiten, Eigentümlichkeit und Leidenschaft, aus der gegebnen Sage zu einem schönen System harmonisch geordnet und gebildet wurden, so ward hier eine verschwenderische Fülle von Erfindung als Rhapsodie kühn hingeworfen, mit tiefem Verstand im scheinbaren Unzusammenhang.

Beide Arten des attischen Drama griffen aufs wirksamste ins Leben ein, durch ihre Beziehung auf das Ideal der beiden großen Formen, in denen das höchste und einzige Leben, das Leben des Menschen unter Menschen erscheint. Den Enthusiasmus für die Republik finden wir beim Äschylos und Aristophanes, ein hohes Urbild schöner Familie in den heroischen Verhältnissen der alten Zeit liegt dem Sophokles zum Grunde.

Wie Äschylos ein ewiges Urbild der harten Größe und des nicht ausgebildeten Enthusiasmus, Sophokles aber der harmonischen Vollendung ist: so zeigt schon Euripides jene unergründliche Weichlichkeit, die nur dem versunkenen Künstler möglich ist, und seine Poesie ist oft nur die sinnreichste Deklamation.

Diese erste Masse hellenischer Dichtkunst, das alte Epos, die Jamben die Elegie, die festlichen Gesänge und Schauspiele; das ist die Poesie selbst. Alles, was noch folgt, bis auf unsre Zeiten, ist Überbleibsel Nachhall, einzelne Ahndung, Annäherung, Rückkehr zu jenem höchsten Olymp der Poesie.

Die Vollständigkeit nötigt mich zu erwähnen, daß auch die ersten Quellen und Urbilder des didaskalischen Gedichts, die wechselseitigen Übergänge der Poesie und der Philosophie in dieser Blütezeit der alten Bildung zu suchen sind: in den naturbegeisterten Hymnen der Mysterien in den sinnreichen Lehren der gesellig sittlichen Gnome, in den allumfassenden Gedichten des Empedokles und andrer Forscher, und etwa in den Symposien, wo das philosophische Gespräch und die Darstellung desselben ganz in Dichtung übergeht.

Solche einzig große Geister wie Sappho, Pindaros, Äschylos, Sophokles, Aristophanes kamen nicht wieder; aber noch gabs genialische Virtuosen wie Philoxenos, die den Zustand der Auflösung und Gärung bezeichnen, welcher den Übergang von der großen idealischen zur zierlichen gelehrten Poesie der Hellenen bildet. Ein Mittelpunkt für diese war Alexandrien. Doch nicht hier allein blühte ein klassisches Siebengestirn tragischer Dichter; auch auf der attischen Bühne glänzte eine Schar von Virtuosen, und wenn gleich die Dichtkünstler in allen Gattungen Versuche in Menge machten, jede alte Form nachzubilden oder umzugestalten, so war es doch die dramatische Gattung vor allen, in welcher sich die noch übrige Erfindungskraft dieses Zeitalters durch eine reiche Fülle der sinnreichsten und oft seltsamen neuen Verbindungen und Zusammensetzungen zeigte, teils im Ernst, teils zur Parodie. Doch blieb es auch wohl in dieser Gattung beim Zierlichen, Geistvollen, Künstlichen, wie in den andern, unter denen wir nur das Idyllion, als eine eigentümliche Form dieses Zeitalters erwähnen; eine Form, deren Eigentümliches aber fast nur im Formlosen besteht. Im Rhythmus und manchen Wendungen der Sprache und Darstellungsart folgt es einigermaßen dem epischen Styl; in der Handlung und im Gespräch den dorischen Mimen von einzelnen Szenen aus dem geselligen Leben in der lokalsten Farbe; im Wechselgesange den kunstlosen Liedern der Hirten; im erotischen Geist gleicht es der Elegie und dem Epigramm dieser Zeit, wo dieser Geist selbst in epische Werke einfloß, deren viele jedoch fast nur Form waren, wo der Künstler in der didaskalischen Gattung zu zeigen suchte, daß seine Darstellung auch den schwierigsten trockensten Stoff besiegen könne; in der mythischen hingegen, daß man auch den seltensten kenne, und auch den ältesten ausgebildetsten neu zu verjüngen und feiner umzubilden wisse; oder in zierlichen Parodien mit einem nur scheinbaren Objekt spielte. Überhaupt ging die Poesie dieser Zeit entweder auf die Künstlichkeit der Form, oder auf den sinnlichen Reiz des Stoffs, der selbst in der neuen attischen Komödie herrschte; aber das Wollüstigste ist verloren.

Nachdem auch die Nachahmung erschöpft war, begnügte man sich neue Kränze aus den alten Blumen zu flechten, und Anthologien sind es welche die hellenische Poesie beschließen.

Die Römer hatten nur einen kurzen Anfall von Poesie, während dessen sie mit großer Kraft kämpften und strebten, sich die Kunst ihrer Vorbilder anzueignen. Sie erhielten dieselben zunächst aus den Händen er Alexandriner; daher herrscht das Erotische und Gelehrte in ihren Werken, und muß auch, was die Kunst betrifft, der Gesichtspunkt bleiben, sie zu würdigen. Denn der Verständige läßt jedes Gebildete in seiner Sphäre, und beurteilt es nur nach seinem eignen Ideale Zwar erscheint Horatius in jeder Form interessant, und einen Menschen von dem Wert dieses Römers würden wir vergeblich unter den spätern Hellenen suchen, aber dieses allgemeine Interesse an ihm selbst ist mehr ein romantisches als ein Kunsturteil, welches ihn nur in der Satire hoch stellen kann. Eine herrliche Erscheinung ists wenn die römische Kraft mit der hellenischen Kunst bis zur Verschmelzung eins wird. So bildete Properitus eine große Natur durch die gelehrteste Kunst; der Strom inniger Liebe quoll mächtig aus seiner treuen Brust. Er darf uns über den Verlust hellenischer Elegiker trösten, wie Lukretius über den des Empedokles.

Während einiger Menschenalter wollte alles dichten in Rom und jeder glaubte, er müsse die Musen begünstigen und ihnen wieder aufhelfen; und das nannten sie ihre goldne Zeit der Poesie. Gleichsam die taube Blute in der Bildung dieser Nation. Die Modernen sind ihnen darin gefolgt; was unter Augustus und Mäcenas geschah, war eine Vorbedeutung auf die Cinquecentisten Italiens. Ludwig der Vierzehnte versuchte denselben Frühling des Geistes in Frankreich zu erzwingen, auch die Engländer kamen überein, den Geschmack unter der Königin Anna für den besten zu halten, und keine Nation wollte fernerhin ohne ihr goldnes Zeitalter bleiben; jedes folgende war leerer und schlechter noch als das vorhergehende, und was sich die Deutschen als golden eingebildet haben, verbietet die Würde dieser Darstellung näher zu bezeichnen.

Ich kehre zurück zu den Römern. Sie hatten, wie gesagt, nur einen Anfall von Poesie, die ihnen eigentlich stets widernatürlich blieb. Einheimisch war bei ihnen nur die Poesie der Urbanität, und mit der einzigen Satire haben sie das Gebiet der Kunst bereichert. Es nahm dieselbe unter jedem Meister eine neue Gestalt an, indem sich der große alte Styl der römischen Geselligkeit und des römischen Witzes bald die klassische Kühnheit des Archilochos und der alten Komödie aneignete, bald aus der sorglosen Leichtigkeit eines Improvisatore zur saubersten Eleganz eines korrekten Hellenen bildete, bald mit stoischem Sinn und im gediegensten Styl zur großen alten Weise der Nation zurückkehrte, bald sich der Begeisterung des Hasses überließ. Durch die Satire erscheint in neuem Glanz, was noch von der Urbanität der ewigen Roma im Catullus lebt, im Martialis, oder sonst einzeln und zerstreut. Die Satire gibt uns einen römischen Standpunkt für die Produkte des römischen Geistes.

Nachdem die Kraft der Poesie so schnell erloschen als zuvor gewachsen war, nahm der Geist der Menschen eine andre Richtung, die Kunst verschwand im Gedränge der alten und der neuen Welt, und über ein Jahrtausend verstrich, ehe wieder ein großer Dichter im Okzident aufstand. Wer Talent zum Reden hatte, widmete sich bei den Römern gerichtlichen Geschäften, und wenn er ein Hellene war, hielt er populäre Vorlesungen über allerlei Philosophie. Man begnügte sich, die alten Schätze jeder Art zu erhalten, zu sammeln, zu mischen, abzukürzen und zu verderben; und wie in andern Zweigen der Bildung, so zeigt sich auch in der Poesie nur selten eine Spur von Originalität, einzeln und ohne Nachdruck; nirgends ein Künstler, kein klassisches Werk in so langer Zeit. Dagegen war die Erfindung und Begeisterung in der Religion um so reger; in der Ausbildung der neuen, in den Versuchen zur Umbildung der alten, in der mystischen Philosophie müssen wir die Kraft jener Zeit suchen, die in dieser Rücksicht groß war, eine Zwischenwelt der Bildung, ein fruchtbares Chaos zu einer neuen Ordnung der Dinge, das wahre Mittelalter.

Mit den Germaniern strömte ein unverdorbener Felsenquell von neuem Heldengesang über Europa, und als die wilde Kraft der gotischen Dichtung durch Einwirkung der Araber mit einem Nachhall von den reizenden Wundermärchen des Orients zusammentraf, blühte an der südlichen Küste gegen das Mittelmeer ein fröhliches Gewerbe von Erfindern lieblicher Gesänge und seltsamer Geschichten, und bald in dieser bald in jener Gestalt verbreitete sich mit der heiligen lateinischen Legende auch die weltliche Romanze, von Liebe und von Waffen singend.

Die katholische Hierarchie war unterdessen ausgewachsen; die Jurisprudenz und die Theologie zeigte manchen Rückweg zum Altertum. Diesen betrat, Religion und Poesie verbindend, der große Dante, der heilige Stifter und Vater der modernen Poesie. Von den Altvordern der Nation lernte er das Eigenste und Sonderbarste, das Heiligste und das Süßeste der neuen gemeinen Mundart zu klassischer Würde und Kraft zusammenzudrängen, und so die provenzalische Kunst der Reime zu veredeln; und da ihm nicht bis zur Quelle zu steigen vergönnt war, konnten ihm auch Römer den allgemeinen Gedanken eines großen Werkes von geordnetem Gliederbau mittelbar anregen. Mächtig faßte er ihn, in Einen Mittelpunkt drängte sich die Kraft seines erfindsamen Geistes zusammen, in Einem ungeheuren Gedicht umfaßte er mit starken Armen seine Nation und sein Zeitalter, die Kirche und das Kaisertum, die Weisheit und die Offenbarung, die Natur und das Reich Gottes. Eine Auswahl des Edelsten und des Schändlichsten was er gesehn, des Größten und des Seltsamsten, was er ersinnen konnte; die offenherzigste Darstellung seiner selbst und seiner Freunde, die herrlichste Verherrlichung der Geliebten; alles treu und wahrhaftig im Sichtbaren und voll geheimer Bedeutung und Beziehung aufs Unsichtbare.

Petrarca gab der Kanzone und dem Sonett Vollendung und Schönheit. Seine Gesänge sind der Geist seines Lebens, und Ein Hauch beseelt und bildet sie zu Einem unteilbaren Werk; die ewige Roma auf Erden und Madonna im Himmel als Wiederschein der einzigen Laura in seinem Herzen versinnlichen und halten in schöner Freiheit die geistige Einheit des ganzen Gedichts. Sein Gefühl hat die Sprache der Liebe gleichsam erfunden, und gilt nach Jahrhunderten noch bei allen Edlen, wie Boccaccios Verstand eine unversiegbare Quelle merkwürdiger meistens wahrer und sehr gründlich ausgearbeiteter Geschichten für die Dichter jeder Nation stiftete, und durch kraftvollen Ausdruck und großen Periodenbau die Erzählungs-Sprache der Konversation zu einer soliden Grundlage für die Prosa des Romans erhob. So streng in der Liebe Petrarcas Reinheit, so materiell ist Boccaccios Kraft, der es lieber wählte, alle reizende Frauen zu trösten, als eine zu vergöttern. In der Kanzone durch fröhliche Anmut und geselligen Scherz nach dem Meister neu zu sein, gelang ihm glücklicher als diesem, in der Vision und Terzine dem großen Dante ähnlich zu werden.

Diese drei sind die Häupter vom alten Styl der modernen Kunst; ihren Wert soll der Kenner verstehn, dem Gefühl des Liebhabers bleibt grade das Beste und Eigenste in ihnen hart oder doch fremd.

Aus solchen Quellen entsprungen, konnte bei der vorgezogenen Nation der Italiäner der Strom der Poesie nicht wieder versiegen. Jene Erfinder zwar ließen keine Schule sondern nur Nachahmer zurück: dagegen entstand schon früh ein neues Gewächs. Man wandte die Form und Bildung der nun wieder zur Kunst gewordnen Poesie auf den abenteuerlichen Stoff der Ritterbücher an, und so entstand das Romanzo der Italiäner, ursprünglich schon zu geselligen Vorlesungen bestimmt, und die altertümlichen Wundergeschichten durch einen Anhauch von geselligem Witz und geistiger Würze zur Groteske laut oder leise verwandelnd. Doch ist dieses Groteske selbst im Ariosto, der das Romanzo wie Boiardo mit Novellen, und nach dem Geist seiner Zeit mit schönen Blüten aus den Alten schmückte, und in der Stanze eine hohe Anmut erreichte, nur einzeln, nicht im Ganzen, das kaum diesen Namen verdient. Durch diesen Vorzug und durch seinen hellen Verstand steht er über seinem Vorgänger; die Fülle klarer Bilder und die glückliche Mischung von Scherz und Ernst macht ihn zum Meister und Urbilde in leichter Erzählung und sinnlichen Fantasien. Der Versuch, das Romanzo durch einen würdigen Gegenstand und durch klassische Sprache zur antiken Würde der Epopöe zu erheben, das man sich als ein großes Kunstwerk aller Kunstwerke für die Nation, und nach seinem allegorischen Sinn noch besonders für die Gelehrten dachte, blieb, so oft er auch wiederholt wurde, nur ein Versuch, der den rechten Punkt nicht treffen konnte. Auf einem andern ganz neuen, aber nur einmal anwendbaren Wege gelang es dem Guarini, im »Pastor Fido«, dem größten ja einzigen Kunstwerke der Italiäner nach jenen Großen, den romantischen Geist und die klassische Bildung zur schönsten Harmonie zu verschmelzen, wodurch er auch dem Sonett neue Kraft und neuen Reiz gab.

Die Kunstgeschichte der Spanier, die mit der Poesie der Italiäner aufs innigste vertraut waren, und die der Engländer, deren Sinn damals für das Romantische, was etwa durch die dritte vierte Hand zu ihnen gelangte, sehr empfänglich war, drängt sich zusammen in die von der Kunst zweier Männer, des Cervantes und Shakespeare, die so groß waren daß alles übrige gegen sie nur vorbereitende, erklärende, ergänzende Umgebung scheint. Die Fülle ihrer Werke und der Stufengang ihres unermeßlichen Geistes wäre allein Stoff für eine eigne Geschichte. Wir wollen nur den Faden derselben andeuten, in welche bestimmte Massen das Ganze zerfällt, oder wo man wenigstens einige feste Punkte und die Richtung sieht.

Da Cervantes zuerst die Feder statt des Degens ergriff, den er nicht mehr führen konnte, dichtete er die »Galatea«, eine wunderbar große Komposition von ewiger Musik der Fantasie und der Liebe, den zartesten und lieblichsten aller Romane; außerdem viele Werke, so die Bühne beherrschten, und wie die göttliche »Numancia« des alten Kothurns würdig waren. Dieses war die erste große Zeit seiner Poesie; ihr Charakter war hohe Schönheit, ernst aber lieblich.

Das Hauptwerk seiner zweiten Manier ist der erste Teil des »Don Quixote«, in welchem der fantastische Witz und eine verschwenderische Fülle kühner Erfindung herrschen. Im gleichen Geist und wahrscheinlich auch um dieselbe Zeit dichtete er auch viele seiner Novellen, besonders die komischen. In den letzten Jahren seines Lebens gab er dem herrschenden Geschmack im Drama nach, und nahm es aus diesem Grunde zu nachlässig; auch im zweiten Teil des »Don Quixote« nahm er Rücksicht auf Urteile; es blieb ihm ja doch frei, sich selbst zu genügen, und diese an die erste überall angebildete Masse des einzig in zwei getrennten und aus zweien verbundenen Werks, das hier gleichsam in sich selbst zurückkehrt mit unergründlichem Verstand in die tiefste Tiefe auszuarbeiten. Den großen »Persiles« dichtete er mit sinnreicher Künstlichkeit in einer ernsten, dunkeln Manier nach seiner Idee vom Roman des Heliodor; was er noch dichten wollte, vermutlich in der Gattung des Ritterbuchs und des dramatisierten Romans, so wie den zweiten Teil der »Galatea« zu vollenden, verhinderte ihn der Tod.

Vor Cervantes war die Prosa der Spanier im Ritterbuch auf eine schöne Art altertümlich, im Schäferroman blühend, und ahmte im romantischen Drama das unmittelbare Leben in der Sprache des Umgangs scharf und genau nach. Die lieblichste Form für zarte Lieder, voll Musik oder sinnreicher Tändelei, und die Romanze, gemacht um mit Adel und Einfalt edle und rührende alte Geschichten ernst und treu zu erzählen, waren von altersher in diesem Lande einheimisch. Weniger war dem Shakespeare vorgearbeitet; fast nur durch die bunte Mannichfaltigkeit der engländischen Bühne, für die bald Gelehrte, bald Schauspieler, Vornehme und Hofnarren arbeiteten, wo Mysterien aus der Kindheit des Schauspiels oder altenglische Possen mit fremden Novellen, mit vaterländischen Historien und andern Gegenständen wechselten: in jeder Manier und in jeder Form, aber nichts was wir Kunst nennen dürften. Doch war es für den Effekt und selbst für die Gründlichkeit ein glücklicher Umstand, daß früh schon Schauspieler für die Bühne arbeiteten, die doch durchaus nicht auf den Glanz der äußern Erscheinung berechnet war, und daß im historischen Schauspiel die Einerleiheit des Stoffs, den Geist des Dichters und des Zuschauers auf die Form lenken mußte.

Shakespeares frühste Werke1 müssen mit dem Auge betrachtet werden, mit welchem der Kenner die Altertümer der italiänischen Malerkunst verehrt. Sie sind ohne Perspektive und andre Vollendung, aber gründlich, groß und voll Verstand, und in ihrer Gattung nur durch die Werke aus der schönsten Manier desselben Meisters übertroffen. Wir rechnen dahin den »Locrinus«, wo der höchste Kothurn in gotischer Mundart mit der derben altenglischen Lustigkeit grell verbunden ist, den göttlichen »Perikles«, und andre Kunstwerke des einzigen Meisters, die der Aberwitz seichter Schriftgelehrten ihm gegen alle Geschichte abgesprochen, oder die Dummheit derselben nicht anerkannt hat. Wir setzen, daß diese Produkte früher sind als der »Adonis« und die »Sonette«, weil keine Spur darin ist von der süßen lieblichen Bildung, von dem schönen Geist, der mehr oder minder in allen spätern Dramen des Dichters atmet, am meisten in denen der höchsten Blüte. Liebe, Freundschaft und edle Gesellschaft wirkten nach seiner Selbstdarstellung eine schöne Revolution in seinem Geiste; die Bekanntschaft mit den zärtlichen Gedichten des bei den Vornehmen beliebten Spenser gab seinem neuen romantischen Schwunge Nahrung, und dieser mochte ihn zur Lektüre der Novellen führen, die er mehr als zuvor geschehn war, für die Bühne mit dem tiefsten Verstande umbildete, neu konstruierte und fantastisch reizend dramatisierte. Diese Ausbildung floß nun auch auf die historischen Stücke zurück, gab ihnen mehr Fülle, Anmut und Witz, und hauchte allen seinen Dramen den romantischen Geist ein, der sie in Verbindung mit der tiefen Gründlichkeit am eigensten charakterisiert, und sie zu einer romantischen Grundlage des modernen Drama konstituiert, die dauerhaft genug ist für ewige Zeiten.

Von den zuerst dramatisierten Novellen erwähnen wir nur den »Romeo« und »Love’s Labour’s Lost«, als die lichtesten Punkte seiner jugendlichen Fantasie, die am nächsten an »Adonis« und die »Sonette« grenzen. In drei Stücken von »Heinrich dem Sechsten« und »Richard dem Dritten« sehn wir einen stetigen Übergang aus der ältern noch nicht romantisierten Manier in die große. An diese Masse adstruierte er die von »Richard dem Zweiten« bis »Heinrich dem Fünften«; und dieses Werk ist der Gipfel seiner Kraft. Im »Macbeth« und »Lear« sehn wir die Grenzzeichen der männlichen Reife und der »Hamlet« schwebt unauflöslich im Übergang von der Novelle zu dem was diese Tragödien sind. Für die letzte Epoche erwähnen wir den »Sturm«, »Othello« und die römischen Stücke; es ist unermeßlich viel Verstand darin, aber schon etwas von der Kälte des Alters.

Nach dem Tode dieser Großen erlosch die schöne Fantasie in ihren Ländern. Merkwürdig genug bildete sich nun sogleich die bis dahin roh gebliebene Philosophie zur Kunst, erregte den Enthusiasmus herrlicher Männer und zog ihn wieder ganz an sich. In der Poesie dagegen gab es zwar vom Lope de Vega bis zum Gozzi manche schätzbare Virtuosen, aber doch keine Poeten, und auch jene nur für die Bühne. Übrigens wuchs die Fülle der falschen Tendenzen in allen gelehrten und populären Gattungen und Formen immer mehr. Aus oberflächlichen Abstraktionen und Räsonnements, aus dem mißverstandenen Altertum und dem mittelmäßigen Talent entstand in Frankreich ein umfassendes und zusammenhängendes System von falscher Poesie, welches auf einer gleich falschen Theorie der Dichtkunst ruhete; und von hier aus verbreitete sich diese schwächliche Geisteskrankheit des sogenannten guten Geschmackes fast über alle Länder Europas. Die Franzosen und die Engländer konstituierten sich nun ihre verschiedenen goldenen Zeitalter, und wählten sorgfältig als würdige Repräsentanten der Nation im Pantheon des Ruhms ihre Zahl von Klassikern aus Schriftstellern, die sämtlich in einer Geschichte der Kunst keine Erwähnung finden können.

Indessen erhielt sich doch auch hier wenigstens eine Tradition, man müsse zu den Alten und zur Natur zurückkehren, und dieser Funken zündete bei den Deutschen, nachdem sie sich durch ihre Vorbilder allmählig durchgearbeitet hatten. Winckelmann lehrte das Altertum als ein Ganzes betrachten, und gab das erste Beispiel, wie man eine Kunst durch die Geschichte ihrer Bildung begründen solle. Goethes Universalität gab einen milden Widerschein von der Poesie fast aller Nationen und Zeitalter; eine unerschöpflich lehrreiche Suite von Werken, Studien, Skizzen, Fragmenten, Versuchen in jeder Gattung und in den verschiedensten Formen. Die Philosophie gelangte in wenigen kühnen Schritten dahin, sich selbst und den Geist des Menschen zu verstehen, in dessen Tiefe sie den Urquell der Fantasie und das Ideal der Schönheit entdecken, und so die Poesie deutlich anerkennen mußte, deren Wesen und Dasein sie bisher auch nicht geahndet hatte. Philosophie und Poesie, die höchsten Kräfte des Menschen, die selbst zu Athen jede für sich in der höchsten Blüte doch nur einzeln wirkten, greifen nun ineinander, um sich in ewiger Wechselwirkung gegenseitig zu beleben und zu bilden. Das Übersetzen der Dichter und das Nachbilden ihrer Rhythmen ist zur Kunst und die Kritik zur Wissenschaft geworden, die alte Irrtümer vernichtet und neue Aussichten in die Kenntnis des Altertums eröffnet, in deren Hintergrunde sich eine vollendete Geschichte der Poesie zeigt.

Es fehlt nichts, als daß die Deutschen diese Mittel ferner brauchen, daß sie dem Vorbilde folgen, was Goethe aufgestellt hat, die Formen der Kunst überall bis auf den Ursprung erforschen, um sie neu beleben oder verbinden zu können, und daß sie auf die Quellen ihrer eignen Sprache und Dichtung zurückgehn, und die alte Kraft, den hohen Geist wieder frei machen, der noch in den Urkunden der vaterländischen Vorzeit vom Liede der »Nibelungen« bis zum Flemming und Weckherlin bis jetzt verkannt schlummert: so wird die Poesie, die bei keiner modernen Nation so ursprünglich ausgearbeitet und vortrefflich erst eine Sage der Helden, dann ein Spiel der Ritter, und endlich ein Handwerk der Bürger war, nun auch bei eben derselben eine gründliche Wissenschaft wahrer Gelehrten und eine tüchtige Kunst erfindsamer Dichter sein und bleiben.

 

***

Athenaeum ist der Titel einer Zeitschrift, die zwischen 1798 und 1800 von den Brüdern August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel herausgegeben und in Berlin gedruckt wurde. Vor zweihundert Jahren stellte Friedrich Schlegel das „Athenaeum“ mit der Begründung ein, dass diese Zeitschrift erst in der Zukunft verstanden werden kann. KUNO erinnert daran mit der Begründung des Redakteurs, der im 18. Jahrhundert der modernen Journalismus erfunden hat

Friedrich Schlegel um 1790, Kreidezeichnung von Caroline Rehberg

Weiterführend

Obwohl die nonkonformistische Literatur ehrlich und transparent zugleich sein wollte, war gegen Ende der 1960er nur schwer zu fassen, die Redaktion entdeckt die Keimzelle des Nonkonformismus in der die Romantiker-WG in Jena. Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.