Transmediale Projekte

Der Begriff Multimedia bezeichnet Inhalte und Werke, die aus mehreren Medien bestehen:

Collage, Text, Fotografie, Grafik, Animation, Audio und Video.

Dass moderne Literatur nicht nur im begrenzten Format eines Buches seinen Platz hat, belegen der Multimediakünstler Peter Meilchen, der Sprechsteller A.J. Weigoni oder die visuelle Poetin Angelika Janz nachdrücklich. Alle vorgenannten Artisten arbeiten sowohl mehrperspektivisch, als auch interdisziplinär.

Als Angelika Janz im Rheinland in den 70er Jahren erste Schritte in die Literatur- und Kunstszene unternahm, lehrte in Düsseldorf Joseph Beuys, in der Kunst wurden nicht die Schlachten des 19. Jahrhunderts geschlagen, sondern zwischen Pop Art und Fluxus wurde im Zukunftslabor gearbeitet.

Michael Gratz

Angelika Janz kann noch warten um den Punkt zu setzen

Angelika Janz hat eine Kunstform begründet, bei der Textausschnitte im Sinne der Autorin so erweitert werden, daß aus Einzelteilen ein gänzlich neuer literarischer Text entsteht, die Ausrisse und Schnitte gleichwohl sichtbar bleiben. Gewiss, das Konzept zum Fragmenttext stammt aus analoger Zeit, verbindet sich durch die Zeitläufte jedoch sinnfüllend mit digitalen Präsentationsformen. In diesen Arbeiten finden sich Körper, Technik, Linguistik und räumliche Konstellationen zusammen, mithin Determinanten von Werk und Autorschaft, die in ganz unterschiedlichen Ausprägungen und Gewichtungen auftreten: Der Körper der Schreibenden, ihre Gestik zwischen Ruhe und Bewegung, zwischen Aktivität und Passivität, die Hand, die ein Schreibgerät führt oder bedient, körperliche Stärke oder Schwäche. Den Kunstreiz birgt die Möglichkeit der Zusammenschau von Vergangenheit in Form gewesener Unversehrtheit des Ursprungsmaterials bis in eine zukünftige utopische Daseinskonzeption hinein; beides verkörpert in der Präsenz des Kunstwerkes. Dieses konjunktivistischste Vorhaben wird durch einen regelrechten „Evokationspluralismus“ realisiert: Die Bildelemente, die Angelika Janz in ihren Texten verwendet, werden durch ihre Verunkenntlichung derart verfremdet, daß durch den Drang der Rezipienten zur Monosemierung ein bedeutungsmäßiger „Vielmehrwert“ entsteht, da so viele Umwege begangen werden wie es verschiedene Einstellungen zu und Erfahrungen mit Texten gibt. Das Fragment ist somit Anfang aller Förmlichkeit, die wiederum eine Erweiterung fordert (genauso wie der Inhalt, den sie verkörpert). Das Verfahren scheint im Spekulativen zu schweben, jedoch bedeutet es lediglich die Pflicht zum Offenhalten von Kunstsprache; der vorläufige mögliche Abschluß wird durch die Rezipienten besorgt. Es geht beim Fragmenttext um die physischen Bedingungen des Schreibens und ihre Auswirkungen auf den Text, aber auch um die technischen Hilfsmittel (Kreide, Stift, Schreibmaschine) die diese physischen Bedingungen beeinflussen und verändern.

Eine Art typographisches Tryptichon ist das visuelle Grundmuster der Fragmenttexte, die Angelika Janz in dem vorzüglich gestalteten Band Corridor vorlegt.

Norbert Hummelt

Bild und Text gehören in ihren Arbeiten häufig zusammen. Diese Angangsweise birgt die Möglichkeit der Zusammenschau von Vergangenheit in Form gewesener Unversehrtheit des Ursprungsmaterials bis hin in eine mögliche zukünftige utopische Daseinskonzeption hinein; beides verkörpert in der Präsenz des Kunstwerkes. Dieses konjunktivistischste Vorhaben wird durch einen „Evokationspluralismus“ realisiert: Die Text- und Bildelemente, die Janz in ihren Texten verwendet, werden durch ihre Verunkenntlichung derart verfremdet, daß durch den Drang der Rezipienten zur Monosemierung ein bedeutungsmäßiger „Vielmehrwert“ entsteht, da so viele Umwege begangen werden wie es verschiedene Einstellungen zu und Erfahrungen mit Texten gibt. Das Fragment ist somit Anfang aller Förmlichkeit, die wiederum eine Erweiterung fordert (genauso wie der Inhalt, den sie verkörpert). Das Verfahren scheint zuweilen im Spekulativen zu schweben, jedoch bedeutet es lediglich die Pflicht zum Offenhalten von Kunstsprache; der vorläufige mögliche Abschluß wird durch die Betrachter besorgt.

Das Fragment – geheime Kontinuität des Offenen, Ankunft und Präsenz allen Kunsttuns, dessen Angebot zum Unterwegsbleiben. Aller Anfang ist Zeremonie und – Fragment. Sinn ist überall, ein Sog versprengter Verirrungen, kleinste Reaktionen zertrennter Materie, wenn Stoff von sich selbst getrennt wird.

Angelika Janz

Ihre Fragmenttexte haben als Bild einen ästhetischen Wert, wenn auch einen eher abstrakten oder autonomen. Es gibt Papierschnitte und Collagen, wo Bild und Text, Bildsprache und Wortsprache miteinander korrespondieren oder gleichsam zusammengetackert sind. Diese Text-Bild-Collagen sind Einladungen zur Lektüre. Bild und Text spielen in ihnen zusammen, die Wörter haben unterschiedliche Größe, Farbe und Schrift. Die Collagen sind sinnlich, spielerisch, sprachschöpferisch und stets inspirierend. Wobei der Text bei dieser ästhetischen Prothetik niemals das Bild und das Bild an keiner Stelle den Text illustriert, sondern eine gegenseitige Erweiterung von Bild und Text stattfindet. Ihr Schaffen ist voll von solchen lyrischen Angeboten an die Leserschaft: denn Angebote sind es, unsere Konnotationen sind kein Allgemeingut, können es nicht sein, denn jedes menschliche Individuum hat seinen eigenen Erfahrungshorizont, den es in eine Lektüre mit einbringt und der gewissermaßen in eine Reaktion mit dem Text tritt: Subtext ist nicht einfach da. Es ist eine Durchkreuzung des Nullpunkts der Literatur:

Was schimmert auf der anderen Seite? Was passiert nach dem Durchbruch?

Diese Artistin ist Medium, ihre Leistung besteht darin, einen Platz, einen Raum einzunehmen und dort Schnittstelle zu sein. Fragmente, Scherben, Reste, Bruchstücke, Relikte, Spuren sind für Janz nicht Versprechen auf die Wiederherstellung jener einstigen Ganzheit, die Bruchstücke, Ausrisse, Frakturen ihres Bruchs bleiben, sind irreparabel, sind Bruchstellen der neuen Identität eines möglichen Ganzen, eine Art Imperativ für die Offen-Gehaltenheit ihres künstlerischen Tuns. In jedem dieser Arbeiten halten auf befrag würdige Weise die Begriffe „defekt“ und „wiederhergestellt“ – in einem ursprünglichen Sinn, das eine wie immer gestaltete, bewegte, immer bewegte Einheit voraussetzt, einander in der Balance. Janz stellt eine neue Lesbarkeit her.

Peter Meilchen ist der Jäger eines verlorenen Erinnerungs-Schatzes, für den das „negative management“ das mediale Sinnbild ist: eine Zeit, in der die Effekte mit den Affekten noch eine chemische Verbindung hatten.

Peter Meilchen, Photo: Dieter Meth

Peter Meilchens Kunst war die literarische Negativ- und Doppelbelichtung. Gestochen scharf wirken seine imaginären Erinnerungsbilder aus Linz am Rhein, doch pulst in ihnen auch der Schrecken. Seine skeptisch-ironische Weltsicht einerseits, sein poetisches Engagement anderseits bringen viele Werke hervor, die verschiedene Positionen beziehen. Sowohl als bildender Künstler, wie auch als Autor ist Peter Meilchen ein Beobachtungsvirtuose, der viele Preziosen zu bieten hat, Wahrnehmungen, die vielleicht nicht unbedingt lebenswichtig sind, aber gerade in ihrer Fokussierung des Nebensächlichen dem Leser Aha-Erlebnisse und Wiedererkennungseffekte verschaffen. Er nimmt sich und seinen Figuren kein Blatt vor den Mund, die Brutalitäten in Wort und Bild können uneingeschränkt defilieren. Auch das gehört spätestens seit Rabelais zur Lust am Grotesken, dieses destruktiv-schöpferische Sich-gehen-Lassen, die verbale Ausschweifung. Reich an Adjektiven, an Partizipien und an sich windenden, immer in neue Ecken spähenden Sätzen sind diese ausgefeilten Stücke. Vor allem Farbeindrücke nehmen darin breiten Raum ein. Zwischen Schwarz und Grün bewegt sich eine Beobachtung eines Unsichtbaren. Die Rückkehr ins Rheinland steht bei Schimpfen im Zeichen von Gelbtönen, die so schnell vom Satt-Schönen ins Erdige umschlagen. Und natürlich geht es bei Texte, die so intensiv und bilderreich das Ineinandergreifen von gegenwärtigen und vergangenen Sinneswahrnehmungen ausleuchtet, auch um die Augenblicke, da das Wahrnehmen in das Verlangen umschlägt, das Wahrgenommene schreibend zu fixieren.

Ein Künstler ist der Feind der allgemeinen Wahrnehmung

Ai Weiwei

Wenn Peter Meilchen spazieren ging, begegnet ihm ein Übermaß an Welt. Das muß er bewältigen – mit Sprache, mit Sätzen und Satzfragmenten, in denen die Welt weiter mäandert, vibriert und manchmal auch herausbrüllt. Er porträtiert in seinem Werk eine untergehende Welt – und überwand sie. Opulenz, Würde und Gesellschaftsanalyse verbindet er wie kein anderer. Wenn wir Romantik als Autonomie des Imaginären verstehen, dann handelt es sich hier durchaus um romantische Texte, die sich aus der Spannung zwischen Realität und Imagination, Besitzen und Begehren ergeben. Es sind Texte ohne Gedächtnis, allein von Erinnerungen an Bilder, Gerüche, Gefühle getragen und auf der Suche nach einer zu erzählenden Geschichte. Das ist keine instrumentale Sprache, die ihren Gedanken schon umschlossen hält und dadurch auch für nichts Neues und Überraschendes mehr zur Verfügung stehen kann, sondern eine Sprache des Suchens und Unterwegsseins, der Ahnungen und einer immensen Lust am Entdecken. Wer von seinem Leben erzählt, erzählt immer eine Erfolgsgeschichte. Wer erzählt, lebt. Schon das ist ein Triumph. Wer erzählt, ist der geworden, der erzählen kann. Wer erzählt, ist nicht allein. Er gehört in eine Welt, die seine Welt geworden ist. Ganz auf die Ablagerungen der eigenen Biographie setzend und ohne Attitüde benennt Meilchen so die Quelle seiner reichen und doch nie vagen Texte.

Der Akt des Sehens und der Akt des Filmens, für Peter Meilchen gab es da nie einen Unterschied.

DVD aus dem Nachlass

Exemplarisch läßt sich Meilchens Arbeit an einem Multimediaprojekt verdeutlichen. Schland ist der Versuch, den Blick gleichsam zu konservieren und mit der Kraft der Vergewisserung die Seele des Augenblicks festzuhalten. Diese multimediale Arbeit beschreibt einen akustischen Raum in einem räumlichen Behältnis, dem „neuen“ DeutSchland, einem fiktiven Staat, tiefste Provinz. Schland folgt dem poetischen Kernsatz: „Nur die Fiktion ist noch wirklich, weil die Wirklichkeit durch mannigfaltige Wahrheiten verunstaltet wurde.“ Schland ist nicht nur ein Acker in Herdringen, auf dem Milchproduzenten umherlaufen, Schland ist überall. Es geht (ganz im Sinne Poes: „Man sieht es und sieht doch hindurch“) um den Blick, das Sehen, die Kurzsichtigkeit. In seinem Spiel mit den unterschiedlichen Oberflächen und Texturen, in der Kontrastierung der scheinbar unvermittelten Landschaft bei Herdringen, den mehrfach gebrochenen Ausblicken auf das Sauerland sind diese Fotos – nicht nur im ironischen Kommentar des zusammengekniffenen Photografenauges,  immer auch Reflexionen über das Medium Photografie. Mit dem 16 mm-Film nimmt man auch die Materialität des Zelluloids, die Mechanik und Optik dieser Illusionsmaschinen wahr. Und das, was beim Übergang von den analgogen zu den digitalen Medien verloren gegangen ist.

Bilder zeigen nur, was sie zeigen – aber wissen wir wirklich, was sie zeigen?

Peter Meilchen präsentiert mit Schland ein durchaus ernsthaftes Projekt über ein Tier, dessen Faszinationspotenzial gering scheint, dem aber ein entscheidender Anteil an der Sesshaftwerdung des Menschen, also der wesentlichen zivilisationsgeschichtlichen Wegmarke überhaupt zugesprochen werden kann. Das Kühe, die gütigen Ammen der Menschheit sind, wissen wir seit dem alten Testament, die Gründe dafür, daß der Kuh eher das Image von Behäbig- und Mittelmäßigkeit anhaftet, vollzieht Peter Meilchen in seinem Projekt nach, indem er zeigt, wie ursprünglich biologische Konstitutionsmerkmale oder historische Notwendigkeiten mit symbolischem Gehalt gefüllt werden. Er präsentiert die körperliche Ruhe der Kuh, die sie zum Sinnbild des Stoischen hat werden lassen, mit ihrer Eigenschaft als Beutetier. Für das ist es in freier Wildbahn überlebensnotwendig, weder Panik noch Schmerz zu zeigen, um nicht die Aufmerksamkeit des Raubtiers auf sich zu lenken. Ähnlich: ihre Augen. Sie sind dafür geschaffen, ein maximal großes Sichtfeld zu haben, um Angreifer möglichst früh erkennen zu können. Uns sind sie indes vor allem Ausdruck der psychischen wie physischen Lethargie der Kuh. Wie tief gerade das Bild der Kuh als Indikator von Normalität im kulturellen Gedächtnis verankert ist, wird besonders an jenen Untergangsvisionen augenscheinlich, in denen die Kuh zum Vorboten des Unheils wird, das bald auch den Menschen erreichen wird. Was mit den Kühen in der biblischen Apokalypse-Darstellung beginnt, setzt sich fort in amerikanischen Weltuntergangsfilmen wie Apocalypse Now, Twister oder Jurassic Park, in denen die durch die Luft fliegende oder schwebende Kuh zum untrügliches Zeichen dafür wird, daß die Welt aus den Fugen geraten ist. Sein Trick besteht darin, daß es natürlich gar nicht um die Wahrheit über die Kuh geht, sondern darum, gerade durch die verschiedenen Projektionen etwas über die die Menschen und ihre Zeit selbst zu erfahren.

Tom Täger im Tonstudio an der Ruhr. Photo: Andreas mangen

Ab dem nächsten Jahr wird der Welttag der Poesie gefeiert. Er soll an „die Vielfalt des Kulturguts Sprache und an die Bedeutung mündlicher Traditionen erinnern“.

Traditionelle Techniken sind der Kompass, mit dem man künsterische Ansprüche sinnfällig durch die neuen Medien navigieren kann, dies lehrt A.J. Weigonis Erfahrung bei spartenübergreifenden Projekten seit Beginn der 1990ger Jahre. Sprache erreicht – je nach Aggregatszustand: geschrieben, gezeichnet, gesprochen, performt – unterschiedliche Wirk- und Erkenntnismöglichkeiten. Mit dem HörBuch 1/4 Fund begann ein vierteiliger Zyklus von lyrischen Monodramen in Rezitation und Hörspiel (begleitet durch den Komponisten und Tonmeister Tom Täger), dabei verläßt sich dieser VerDichter auf den ältesten Special-Effekt, den die Menschheit besitzt:

Die Stimme!

Weigoni trägt seine Gedichte nicht einfach vor, er gestaltet und verwirklicht sie. Es geht ihm um die Wahrhaftigkeit des Wortes. Seine Gedichte sind eine tonale Komposition mit sprachlichen Mitteln. Er vermag es poetische Performances zu Ereignissen zu machen, weil er den richtigen Rhythmus und die Melodie findet. Unangestrengt schafft er geflüsterte, gesprochene Sprachkunstwerke. Das Mondäne vereinigt sich mit dem Musikalischen; der Intellekt mit dem Sinnlichen. Er läßt mit Lust an der gesprochenen Sprache, an der Schönheit von Worten: Tonfall, Melodie und Rhythmus hören. Durch Intensität und Differenziertheit der Wahrnehmung, die in eine genuine Sprachmusik umgesetzt ist, rhythmisch, lautmalerisch und konsonantenreich macht er Sprache als Material sichtbar. Als Sprach-Spiel mit der Aufforderung zum Mitspielen.

Sie sind Spielgefährte!

Letternmusik im Gaumentheater ist ein Platz für den artistischen Bau autarker Sprachkonstrukte ausserhalb der alltäglichen Rede und normierter Sprachregularien. Weigoni ist ein Grossmeister in der Kunst der Sprachbefragung. Wieder und wieder dreht und wendet er diese, nimmt die Wörter beim Wort und nicht zuletzt beim Buchstaben, bis ganz neue Dinge aufscheinen. Seine Spracharbeit findet immer und überall zugleich statt, auf der phonetischen über die lexikalische zur syntaktischen bis auf die Textebene kann sich eine sprachliche Wendung in vielschichtiger Weise entfalten. Dieses Freigelassene, Strömende entsteht durch Präzision, Klarheit und Konzentration. Diese Gedichte oszillieren zwischen dem lyrischen Protestgedicht und dem politischen Liebesgedicht. Sie sollen daran erinnern, was Poesie ursprünglich war:

Gesang, Melodie und Rhythmus, Reim und Versmass, Litanei und Mythos.

Mit den ersten Zeilen wird dieser Ton angeschlagen, wie in der Eröffnung einer Cellosonate, drängender Abstieg in gefaßte Melancholie. Vorsichtig, zurückhaltend setzen sie ein, die Langgedichte, aber sie alle variieren ein einziges überwältigendes Thema – was der Mensch ist in seiner Ungeschütztheit, wie er sich darin bewähren kann, vor allem vor sich selbst. Bei »Señora Nada« provoziert Weigoni mit einem stream–of–consciousness durch Inhalte, und nicht durch Dolby–Surround. Darin wird er von Tom Täger begleitet mit einer Musik der befreiten Melodien. Seine Komposition ist durchsetzt mit minimalistischen und improvisatorischen Erfahrungen, das Klangbild wird von experimentellen Klängen zu Trivialklängen in Bezug gesetzt.

Das Monodrama, eine polyperspektivische Dichtung

Ioona Rauschan, Regie

Schwarz ist die Farbe der Stille, Weiß jene des Rauschens auf diesen menschenleeren Bildern, die Meer und Riff, Bucht und Hafen ins wechselnde Licht rücken. Die grammatische Implosion im letzten Wort, das Herausbrechen unbetonter Vokale, versinnlicht sprachlich das Motiv des Schiffbruchs. Über den spärlichen Werken der Zivilisation liegt die Aura schrecklicher Schönheit, Spuren verlieren sich am Strand. Den Kampf um die Dauer hat der Mensch hier immer schon verloren. Die Schönheit von Weigonis Sprache liegt in der lakonischen Präzision des Wortes, der Genauigkeit jeder Beobachtung: in der Poesie des bewußt erlebten Augenblicks. So als habe die Todesnähe, in der die Protagonistin sich befindet, auch das Bewußtsein des Lyrikers beim Schreiben aufs Äußerste geschärft. Wo das Schreiben die Notwehr der Seele gegen den Ansturm des Nichts darstellt, wird alles möglich. Weigoni ist ein Vertreter stilistischer Polyphonie, er schert sich nicht um die klassische Schriftsprache und Forderungen der sprachlichen Reinheit, sondern mischt gehobene mit niederen Ausdrucksweisen und wartet mit einer Fülle von Soziolekten, dialektalen Eigenarten und syntaktischen Fügungen aus der gesprochenen Sprache auf. Er verwendet wissenschaftliche Begriffe wie Ausdrücke der Alltagssprache, nimmt tradierte Metaphern auf und prägt neue. Wiederholungen, motivische Wiederaufnahmen und Inversionen, rhetorische Fragen, aphoristische und apodiktische Formulierungen setzt er stilistisch wirkungsvoll ein und spickt seine Poesie mit Zitaten anderer und Anspielungen auf eigene Werke. Das kaleidoskopische Zitieren verschafft seinen Schriften eine intertextuelle Ebene, die sich als eine Form kultureller Erinnerungsarbeit deuten läßt. In diesen Satzgirlanden, die zuweilen von schelmischem Gelächter durchdrungen sind, geht es um unterschiedliche Anteile von Tradition und Traditionsbruch.

Die Sprache bringt das Geheimnis der Dinge zum Leuchten

»Señora Nada« präsentiert ein schwankendes Daseinsgefühl. Hier geht es um die Krankheiten der Epoche, um Entfremdung, Auraverlust der Kunst und die metaphysischen Konsequenzen, die für den transzendental Obdachlosen aus der Entzauberung der Welt entstanden sind. Dieses Monodram zeigt sich lyrisch hermetisch und auf engstem Raum labyrinthisch, die dahinsurrenden Zeilen sind raffiniert und lapidar zugleich, Stimmungsbilder aus dem Innersten einer äußerst ungesicherten Existenz. Wie im Mondlicht die Dinge eine quecksilbrig harte und zugleich diffus changierende Kontur annehmen, von der einen in die andere Gestalt wechseln, somit der Einbildungskraft doppelt ausgeliefert scheinen, erweist sich »Señora Nada« als somnambul und luzide zugleich. Eine nächtlich phosphoreszierende Welt, Wachtraum und Traumerwachen, die sich nur in ganz wenigen Augenblicken versöhnlich entspannt. Dieses Monodram bietet Momentaufnahmen einer beängstigend sinnlichen Metaphysik des Schwebens, einer gegenständlichen Bodenlosigkeit gleitender, entgleitender Bezugspunkte, einer sich verschränkenden inneren und äußeren Welt. Es ist beides enthalten und gleichfalls bestimmend: Form und Formsprengung, bezogen auf die allgemeine Geschichte der Gattung Langgedicht, und besonders auf die individuelle.

Einst waren Interpreten Barden, Schamane, Seher, Troubadoure, waren Reisende in Sachen Liebe und Moral… im digitalen Zeitalter geht der Schrift der Sinn und damit die Sinnlichkeit immer mehr verloren; so scheint es. Weigoni sucht mit atmosphärischem Verständnis die Poesie im ältesten „Literaturclip“, den die Menschheit kennt: Dem Gedicht!

 

 

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Weiterführende Vertiefungen zu transmedialen Projekten:

Lesen Sie auch das Kollegengespräch, das A.J. Weigoni mit Angelika Janz über den Zyklus fern, fern geführt hat. Vertiefend ein Essay der Fragmenttexterin. Ebenfalls im KUNO-Archiv: Jan Kuhlbrodt mit einer Annäherung an die visuellen Arbeiten von Angelika Janz. Und nicht zuletzt, Michael Gratz über Angelika Janz‘ tEXt bILd

Einen Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Zur Ausstellung erschien das Buch / Katalog-Projekt Wortspielhalle mit der Reihe Frühlingel von Peter Meilchen und einem Vorwort von Klaus Krumscheid. Einen Essay zum Buch / Katalog-Projekt 630 zu finden Sie hier.

A.J. Weigoni, Photo: Thomas Suder

 Jeder Band aus dem Schuber von A.J. Weigoni ist ein Sammlerobjekt. Und jedes Titelbild ein Kunstwerk. KUNO faßt die Stimmen zu dieser verlegerischen Großtat zusammen. Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.

Hörproben Probehören kann man Auszüge der Schmauchspuren, von An der Neige und des Monodrams Señora Nada in der Reihe MetaPhon. Zuletzt bei KUNO, eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung.