DIE KRANKEN OHREN BEETHOVENS

 

Um die wende des achtzehnten und neunzehnten jahrhunderts lebte in Wien ein musiker namens Beethoven. Das volk verlachte ihn, denn er hatte seine schrullen, eine kleine gestalt und einen komischen kopf. Die bürger nahmen an seinen kompositionen anstoß. „Denn“, so sagten sie, „schade, der mann hat kranke ohren. Schreckliche dissonanzen heckt sein gehirn aus. Da er aber behauptet, daß es herrliche harmonien seien, so sind seine ohren, da wir nachweislich gesunde ohren besitzen, krank. Schade!“

Der adel aber, der dank der rechte, die ihm die welt verliehen hatte, auch die pflichten kannte, die er der welt schuldig war, gab ihm das nötige geld, um seine werke aufführen zu können. Der adel hatte auch die macht, eine oper Beethovens im kaiserlichen operntheater zur aufführung zu bringen. Aber die bürger, die das theater füllten, bereiteten dem werk eine solche niederlage, daß man eine zweite aufführung nicht wagen konnte.

Hundert jahre sind seither verflossen, und die bürger lauschen ergriffen den werken des kranken, verrückten musikanten. Sind sie adelig geworden, wie die edlen vom jahre 1819, und haben ehrfurcht bekommen vor dem willen des genius? Nein, sie sind alle krank geworden. Sie haben alle die kranken ohren Beethovens. Durch ein jahrhundert haben die dissonanzen des heiligen Ludwig ihre ohren malträtiert. Das haben die ohren nicht aushalten können. Alle anatomischen details, alle knöchelchen, windungen, trommelfelle und trompeten erhielten die krankhaften formen, die das ohr Beethovens aufwies. Und das komische gesicht, hinter dem die gassenbuben spottend nachliefen, wurde dem volke zum geistigen antlitz der welt.

 

 

***

Adolf Loos war ein österreichischer Architekt, Architekturkritiker und Kulturpublizist. Er gilt als einer der Wegbereiter der modernen Architektur. Seine bekanteste Schrift ist der Vortrag Ornament und Verbrechen (1910). Darin wird argumentiert, dass Funktionalität und Abwesenheit von Ornamenten im Sinne menschlicher Kraftersparnis ein Zeichen hoher Kulturentwicklung seien und dass der moderne Mensch wirkliche Kunst allein im Sinne der Bildenden Kunst erschaffen könne. Ornamentale Verzierungen oder andere besondere künstlerische Gestaltungsversuche an einem Gebrauchsgegenstand seien eine ebenso unangemessene wie überflüssige Arbeit.

Weiterführend → ein Essay über die neue Literaturgattung Twitteratur.