Der Vogelladen

 

Mit den modernen Dichtern ist es so eine Sache: weil nicht jeder einzeln die Welt umspannen kann, so haben sie sich das geteilt; der eine bearbeitet die soziale Not, der andere das verschüttete Venedig, und der dritte protestiert feige und gekränkt Zeit seines Lebens gegen die Schlüsselromane. Jeder seins.

Aber ich wollte ja eigentlich gar nicht von den Dichtern erzählen, sondern vom Vogelladen.

Da gibt es hier in einer belebten Straße der Stadt einen Vogelladen, und das Schaufenster steht vollgepackt mit vielen kleinen Käfigen mit Vögeln, und auch ein Ringelschwanzaffe ist da und ein Kaninchen. In der einen Reihe stehen nur Dompfaffen, dicke braune Kerle, und ihre Käfige sind alle etikettiert, damit man es weiß, was sie alles pfeifen können. Und sie können alle so schöne altmodische Lieder, die kein Mensch mehr pfeifen kann, sondern nur noch diese braunen Vögel und vielleicht die alten Förster, die sie ihnen beigebracht haben. Da gibt es:

„Ach Mädchen, erhör’ mich
Und sei mir gut“ usw.

und:

„Wie die Blümlein draußen zittern“ usw.

und viele andere schöne Gesänge.

Und jeder kann zwei, und er ist mächtig eingebildet auf seine Künste, die da vorn am Käfig stehen, und er blinzelt dich dick und faul an, daß du es gar nicht glauben kannst, daß er das pfeifen kann:

„Ich hab’ mir nur eines erwählet,
Schön Schätzchen, das mir gefällt“ usw.

Und einer ist ein Skeptiker und pfeift:

„Ein Mädchen, das nicht tanzen kann“ usw.

und sein Nachbar, der Humorist:

„Meine Mutter schickt mich her,
Ob der Kaffee fertig wär …“

Und es ist ganz ausgeschlossen, daß einmal der mit dem erwählten Schätzchen das Lied von dem erzitternden Blümelein pfeifen wird und umgekehrt. Da herrscht strenge Arbeitszeit. Sie fressen, saufen, blinzeln faul und träge, und manchmal pfeifen sie, aber jeder seins, jeder seins.

 

 

 

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Tucholsky in Paris (1928)

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