Neither

Ich beschäftige mich mit Schatten. Und darum geht es auch in der Beckett-Oper. Das Thema der Oper ist, dass unser Leben von allen Seiten von Schatten umgeben ist. Wir können nicht in den Schatten hineinsehen. Da wir aber nicht in den Schatten hineinsehen können, geht unsere Existenz nur bis dorthin und wir schwanken zwischen den Schatten des Lebens und des Todes.

Morton Feldman

Man muss schon Samuel Beckett heissen, damit ein 15 zeiliges Gedicht, das auf eine Postkarte passt, zu einem Libretto reicht, zumal der Ire die Oper als Kunstform rundweg ablehnte. Wir lesen im Booklet 87 Wörter, ein Poem ohne konkrete Figuren, von einer Handlung ganz zu schweigen, der Monolog eines orientierungslosen Ich im Niemandsland, im „Neither“: „to and fro in shadow from inner to outer shadow“, „hin und her im Schatten von innerem zu äußerem Schatten“. Feldman seinerseits verfasste dazu eine schwebende, körperlose Musik, die mit einer Opernpartitur im herkömmlichen Sinne eigentlich wenig gemein hat. Wir hören ein flirrendes Ungefähr, schwebendes Etwas, hermetische 50 Minuten Klang. Ein einnehmend einlullendes Nichts; und somit sicher ganz im Sinn von Beckett, der gegen Ende seines Leben immer mehr verstummte. Faszinierend zu hören, wie der Sopran von Sarah Leonard die Worte in langen, sich wiederholenden Tönen dehnt und in höchsten Lagen zwischen minimalen Intervallen pendelt. Der Text gerinnt somit zu Klang, zerfranst in flirrende und stehende Vokallaute. Unter den Gesang hat Feldman einen träge flutenden Klangteppich gelegt, der sich nie weiter als über das Mezzopiano hinausbewegt und für den er die Notenstoffflicken repetitiv verknüpft oder durch Pausen getrennt nebeneinandersetzt.

Manchmal liegt in der bewussten Verneinung der Formen eine Öffnung hin zu einem betörendes Klangschweben, welches die Formen derart sprengt, dass es einer Kategorisierung auch nicht mehr bedarf.

 

 

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Heute starb Samuel Beckett in Paris.

Die einzige Oper von Morton Feldman stammt aus dem Jahr 1977. Ihr Libretto ist ein 16-zeiliges Gedicht von Samuel Beckett. Komponist und Librettist hatten sich zwei Jahre zuvor in Berlin kennengelernt, um eine Zusammenarbeit für die Oper Rom zu planen

Photo: Roger Pinard, Bibliothèque nationale de France

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