Stunde Null

Ausbruch aus dem Komfortkäfig der Suhrkamp-Ausgabe

Der Ausdruck Stunde Null stammt eigentlich aus der Planungssprache von Organisationen. Er bezeichnet allgemein die ausschlaggebende Uhrzeit, zu der eine neuartige Ereigniskette abzulaufen beginnt. Der Begriff wurde für die deutsche Nachkriegszeit erstmals mit Bezug auf die Literaturgeschichte gebraucht; wann er genau auftauchte, ist nicht mehr zu ermitteln. Die Behauptung eines absoluten Neuanfangs nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stellte den Wunsch dar, die Last der „1000-jährigen Vergangenheit“ abzuwerfen und befreit neu zu beginnen.

Offizialkultur und Gegenkultur, Akademiekanon und Gegenkanon, das ist in der intellektuell durchhierarchisierten zweigeteilten Welt der Bundesrepublik der Stand der Dinge.

Die Redaktion will weder einen neuen Kanon aufstellen, noch zu Sortier- und Stempelmaschine des Kulturbetriebs werden. Wir sehen und in der Tradition des Literarischen Informationszentrums von Josef „Biby“ Wintjes aus Bottrop und des  Informations-Dienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten (ID) aus Frankfurt/M. Selbstverständnis des ID war Berichterstattung „von unten“, bei geringer redaktioneller Nachbearbeitung. Das Konzept des Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten (ID) lautet 1976:

Die Medien der Gegenöffentlichkeit transportieren nicht nur die Abbilder der politischen Veränderung, sie setzen sie auch in ihrer inneren Struktur, in den eigenen Arbeitsbeziehungen und Verkehrsformen durch. Es gibt keine Trennung zwischen Machern und Konsumenten.

Das Konzept der sogenannten Gegenöffentlichkeit war meist nur unzureichend realisierbar. Inhaltlich führte dies zu einer Sammlung von Nachrichten aus den Bereichen „Repression“, Gefängnisalltag und Basisgruppenaktivitäten, die von der damals entstehenden Anti-AKW-Bewegung geprägt waren, oder auch von den Themen, welche die Spontis beschäftigten. Als „Alternative Nachrichtenagentur“ war der ID fester Bestandteil in der alternativen Presse der 1970er Jahre. Mit dem Erscheinen der taz am 17. April 1979 beginnt in der BRD das zeitalter der unabhängigen Medien. Längst sind nicht alle Kontinuitätslinien aufgedeckt, auch in der Kultur, die sich außerhalb der Geschichte zu stellen hoffte. Und nun Stellung beziehen muss.

Künstlerische Methoden der Erinnerungsarbeit treiben diese Artisten um. 

Ohne Angst vorm Anfang, denn Kunst war von Anfang an ein Spiegel der Gesellschaft. In der attischen, also der absoluten Demokratie, hatte sie nur die eine Aufgabe: Sie sollte der Selbstversicherung der Menschen dienen und den gefährdeten Staat stärken. Im umzäunten Taburaum der Hockkultur verkommt nicht nur die Rede- und Meinungsfreiheit, sondern auch die soziale Gerechtigkeit. Diese wurde seit Jahrhunderten im nimmer endenden Disput errungen. Wir sind auf KUNO nicht die Ersten, die nach 1945 über etwas nachdenken, alles ist mit unserer Geschichte, unserer Kultur, unserer Zivilisation spätestens seit der Globalisierung nach 1968 verwoben. Aber erst das Jahr 1989 markiert erneut eine Zäsur, sowohl politisch als auch künstlerisch. Es ist eine ‚Wendezäsur‘, nicht im Sinn einer objektiven Gegebenheit, sondern einer subjektiven, sich im Erzählen und Erinnern, erst konstituierenden Zeit. 1989 ist ein Annus mirabilis, das ungeahnte Möglichkeitsräume öffnet.

Kunst bietet ein innergesellschaftliches Exil für Aussenseiter.

Jürgen Diehl

In der Rhetorik künstlerischer Manifeste ist das Hyperbolische obligatorisch. Sämtliche Avantgarden haben Manifeste geschrieben und sich darin ihrer Neu– und Großartigkeit gerühmt. Entgegen der Gewohnheit von Künstlern, sich als ›Gruppe‹ zu definieren, ein ›Generationenprojekt‹ auszurufen oder gar ein ›Manifest‹ zu proklamieren, vernachläßigten Jürgen Diehl und A. J. Weigoni bei ihrer Begegnung anläßlich des Internationalen Kurzgeschichtenkolloquiums in Arnsberg jegliches kuratorische Wissen und öffneten sich in ihren Gesprächen in der Werkstattgalerie Der Bogen an der Langen Wende neuen Lösungen. Was diese Artisten sofort verband, war die gemeinsame Besessenheit und Leidenschaft für die Kunst und die Bereitschaft, sich auszutauschen. Es war der Drang nach einer neuen Weltaneignung, losgelöst von den überkommenen Deutungsmustern der sogenannten 68-er Generation, geprägt von den Eindrücken der sogenannten Wiedervereinigung, die sie unmittelbar miterlebt haben. Aus dieser Abwendung resultiert die Entfaltung eines neuen Schauens, eines Weltzugangs abgelöst von Traditionen. Dieses neue Schauen kommt, aus der Beschäftigung mit den Neuen Medien. Mit dem Vorhaben, grenzüberschreitende artIQlationen zu realisieren, gelang ihnen das dialektische Kunststück, konstruierte Pathosformeln und Energiesymbole zur Einheit von Denken, Wollen und Fühlen durch eine eigene, streng individualistisch-lustvolle Selbstaneignung einer wahrhaftigen künstlerischen Freiheit zuzuführen. Das Projekt ›Das Labor› positioniert sich in einer bewußten linguistischen und semantischen Opposition zum herrschenden Diskurs.

Es ist spannend, was in den Konvergenzzonen der Künste entsteht. Hybridisierung ist dabei ein wirksamer Katalysator für das Neue.

Die Ambivalenz vermeintlich fester Standpunkte ist diesen Artisten biografisch eigen, eine innere Freiheit und der Drang nach einem selbstbestimmtem Leben. Mit dem Vorhaben, grenzüberschreitende artIQlationen zu realisieren, gelang ihnen das dialektische Kunststück, konstruierte Pathosformeln und Energiesymbole zur Einheit von Denken, Wollen und Fühlen durch eine eigene, streng individualistisch-lustvolle Selbstaneignung einer wahrhaftigen künstlerischen Freiheit zuzuführen.

Die Grenzen von Bildkunst, Literatur und Musik lösen sich auf.

Diese Artisten arbeiten an einem unverbrauchten, zeitgemässen und thematisch vielgestaltigen Zugang zu einem komplexen Themenbereich, der Höhenkammliteratur und Trivialliteratur, Pop- und Hochkultur sowie neue als auch klassische Medien gleichermassen berücksichtigt. Diese Artisten nehmen das Recht in Anspruch, sich dem Integrationsdruck der Gesellschaft zu verweigern. Sie sind das schlechte Gewissen der formierten Gesellschaft. KUNO zeigt den Zwiespalt auf, in dem sich die Kunst befindet. Sie kommt nicht an der Wirklichkeit vorbei, aber sie kann sie nicht mehr schlicht reproduzieren. In der Bildenden Kunst nennt man es Appropriation Art, in diesem Onlinemagazin arbeiten wir an der möglichst exakten Rekonstruktion zur Bewahrung des kulturellen Erbes und eines erweiterten Kanons. Die Frage für die Artisten des in 1989 gegründeten Projekts ›Das Labor› lautet nicht, wie das „Neuland“ Internet das Denken verändert, sondern wie das künstlerische Denken das Netz formt.

 

 

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Das Labor-Logo, entworfen von Peter Meilchen

Erinnerung wird zunehmend auf neue Technologien ausgelagert. Das Grundproblem der Erinnerungskultur (siehe auch: In eigener Sache), der Zeugenschaft, der Autorschaft, ist die Frage: Wer erzählt, wer verarbeitet, wem eine Geschichte gehört? – „Kultur schafft und ist Kommunikation, Kultur lebt von der Kommunikation der Interessierten.“, schreibt Haimo Hieronymus in einem der Gründungstexte von KUNO. Die ausführliche Chronik des Projekts Das Labor lesen sie hier. Diese Ausgrabungsstätte für die Zukunft ist seit 2009 ein Label, die Edition Das Labor. Diese Edition arbeitet ohne Kapital, zuweilen mit Kapitälchen, meist mit einer großen künstlerischen Spekulationskraft. Eine Übersicht über die in diesem Labor seither realisierten Künstlerbücher, Bücher und Hörbücher finden Sie hier.

Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie einen Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die Künstlerbucher sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421

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