Monat: September 2003

Kritische Pirouetten

„Man muß den Mut zu seinem privaten Irrsinn haben, seinen Tod zu be­sitzen und zu voll­strecken.“ 1 Dieser ›Roman‹ auf 48 Reclam-Seiten liest sich teils wie ein Supplement von Niet­zsches „Zarathustra“, gewendet ins Absurde, Ex­pres­sive, Expres­sionis­tische. Teils phi­lo­sophie­rende Kritik an…

Wie kommt Leben zustande?

  Haben diese Aufzeichnungen, wenn ich sie jetzt weiterführe, ihre Unschuld verloren? Dadurch dass ich sie den Blicken der Welt ausgesetzt habe?     *** Ein Tag im Jahr, Aufzeichnungen von Christa Wolf, 2003 1960 nahm Christa Wolf ein Tagebuch-Projekt…

Das Gründungsdokument der modernen Medientheorie

Unsere Kneipen und Großstadtstraßen, unsere Büros und möblierten Zimmer, unsere Bahnhöfe und Fabriken schienen uns hoffnungslos einzuschließen. Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt, so daß wir nun zwischen ihren weitverstreuten Trümmern gelassen…

Gespräch über Beine

I Als ich im Coupé saß, sagte der Herr gegenüber: „Ihnen kann man die Beine nicht abtreten.“ Ich sagte: „Wieso.“ Der Herr sagte: „Sie haben keine Beine.“ Ich sagte: „Merkt man das.“ Der Herr sagte: „Natürlich.“ Ich nahm meine Beine…

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Nacht Wissen und Nacht dunkle Nonne knöchern im Kopf das Fleisch versengt die Verbrechen überwuchern Jahrtausende schiller, schiller meine Schmeißfliege sei nochmal Schmetterling trink endlich/ da schlürf/ dein Blut weg: ehrlich *** Weiterführend → Ein Porträt von Sophie Reyer findet…

Franziska Schultz

  In Berlin gibt es eine Fraue, die die Schmerzen Marias leidet, sieben Schwerter im Herzen; und die doch gnadenreich herablächelt auf die Armen und Kranken. Jeder Mensch, der sich ihr nähert, ist ihr Jesuskind. Einen Tempel müsse man um…

Zu Wort kommen lassen

Die wirkliche Freiheit erfordert Aufmerksamkeit und Offenheit und Disziplin und Mühe und die Empathie, andere Menschen wirklich ernst zu nehmen und Opfer für sie zu bringen, wieder und wieder, auf unendlich verschiedene Weisen, völlig unsexy, Tag für Tag. Das ist…

Die Strassen komme ich entlang geweht

  Ich gebe hier ein Buch heraus . . . (doch ich weiß, etwas „Geschlossenes-Ganzes“ gebe ich nicht heraus), eine Sammlung von Gedichten. Zeitlich auseinanderliegende Dinge, die getrennt empfunden und festgehalten wurden, sind hier zusammengebunden. Einheit liegt nicht vor. Ich…

Über die Aufklärung des Weibes

Für Wilhelmine von Zenge den 16. September 1800 zu Würzburg Alle echte Aufklärung des Weibes besteht am Ende wohl nur darin, meine liebe Freundin: über die Bestimmung seines irdischen Lebens vernünftig nachdenken zu können. Über die Bestimmung unseres ewigen Daseins…

Der Vernaderer

  Fast an jedem Abend, nach Einbruch der Dunkelheit, manchmal auch mitten in der Nacht, ging er, vor allem im Hochsommer, wenn der Tag sehr heiß gewesen war, und man nachts zur Kühlung beim Schlafen die Fenster geöffnet hatte, auf…

Vom Universalstaat

  Will man den Weg verstehen, auf dem die heute unter dem Schlagwort »Pangermanismus« vereinigten Tendenzen zu der furchtbaren Macht gelangten, die alle Welt kennt und verspürt, so muß man zurückgehen bis ins tiefe Mittelalter. In dem mittelalterlichen Kampf um…

Über den Versuch

Daß ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist die Lust auf dieser Erde zu leben vermehrt worden. Friedrich Nietzsche   1572, im Jahr der Bartholomäusnacht, zog sich der damals 38-jährige Michel de Montaigne in die Abgeschiedenheit seiner Bibliothek zurück, um…

Dirty Speech

Als ich zum ersten Mal nach Köln kam, sah ich nur noch Fratzen. Fratzen in der Straßenbahn, Fratzen auf Plätzen und Straßen. Mit ihren kleinen Büdchenfressen, ihrer kleinen Büdchenmentalität, mit ihrer Kölsch- und Halve Hahn-Mentalität und dann noch Literatur oder…

Der wechsel der ornamente

  Der wechsel der ornamente hat eine frühzeitige entwertung des arbeitsproduktes zur folge. Die zeit des arbeiters, das verwertete material sind kapitalien, die verschwendet werden. Ich habe den satz aufgestellt: Die form eines gegenstandes halte so lange, das heißt, sie…

einmal woanders

  auf euren blickbahnen rasend voran. hier sitzt man zu vielen ein ereignis zuende, hier geht man, wann immer, getrennt ins vorbereitete perfekt zurück     *** Weiterführend → Lesen Sie auch das Kollegengespräch, das A.J. Weigoni mit Angelika Janz…

Vogelsang

    Die Grundlage für die Photoarbeiten bilden Schnappschüsse von Gebäudeteilen. Digital bearbeitet verwandeln sich die Motive in absurde Architekturen, deren Reiz in der skulpturalen Neuformulierung des real Vorgegebenen liegt. Die Titel der Arbeiten weisen auf die Straße hin, in…

Freizeichen

  Abends, ein Künstler in den mittleren Jahren sitzt im Atelier, wie seit Tagen schon. Er macht nichts, er sitzt auf seinem Stuhl und starrt die berühmten Löcher in die Luft. Hoffentlich werden heute keine Flugzeuge abstürzen. So groß sind…

Elberfeld im dreihundertjährigen Jubiläumsschmuck

„Lott es doot, Lott es doot, Liesken leegt om Sterwen, dat es, god, dat es god, gäwt et wat tu erwen!“ Ich bin verliebt in meine buntgeschmückte Jubiläumsstadt; das rosenblühende Willkomm gilt mir, denn ich‘ bin ihr Kind, die flatternden…

Terres (revised)

  Verblutung. Wer an das Göttliche glaubt, glaubt doch nur an sich selbst, sagt Terres, der Orgler, der Glasperlenspieler und Komponist des Selbstgesangs. Im Herbst war die neue Orgel fertig, gebaut nach seinen Plänen. Eine Orgel ist eigentlich nie groß…

Kriegsgrab

  Stäbe flehen kreuze Arme Schrift zagt blasses Unbekannt Blumen frechen Staube schüchtern. Flimmer Tränet Glast Vergessen.     *** Am 1. September 1915 ist August Stramm bei Horodec östlich Kobryn, in einem sinnlosen Krieg gestorben. Seine Texte fallen auf durch ihre schlichte, reduzierte…