Über den Versuch

Daß ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist die Lust auf dieser Erde zu leben vermehrt worden.

Friedrich Nietzsche

 

1572, im Jahr der Bartholomäusnacht, zog sich der damals 38-jährige Michel de Montaigne in die Abgeschiedenheit seiner Bibliothek zurück, um mit der Niederschrift seiner epochalen Essays zu beginnen. Als Inspirationsquellen dienten ihm zum einen seine eigenen Lebenserfahrungen und Beobachtungen, zum anderen antike Autoren – insbesondere jene, die in ihren Schriften eine ruhige, gelassene Weltanschauung vertreten und die Bedeutung menschlicher Vernunft und geistiger Freiheit betonen, so etwa Sokrates, Epikur, Seneca und Cicero. Montaigne behandelt diese Autoren in der Tradition des gelehrten Textkommentars, wobei er dieser typisch humanistischen literarischen Form ein eigenes Gesicht verleiht. Aber auch dem großen Humanisten Erasmus von Rotterdam und dessen Übersetzungen klassischer Werke verdankte Montaigne viel. In der wuchernden Unkontrollierbarkeit von Montaignes Themen kann man eine Entsprechung zu der von ihm thematisierten Unbeständigkeit des menschlichen Daseins sehen: Diese lässt sich nur mithilfe einer unsystematischen Darstellungsweise annähernd erfassen.

Mit der vorurteilsfreien Menschen- und Selbstbetrachtung leitete Michel de Montaigne die Tradition der französischen Moralisten ein.

Mit seinem Hauptwerk Les essais war Montaigne der Begründer des Essays als eigenständiger literarischer Form, den er zur Darstellung seiner Reflexionen über Literatur, Politik, Geschichte, Philosophie, Religion, Fragen der persönlichen Lebensführung, der Kindererziehung u. a. verwendete. Seine Essais sind eine überaus reichhaltige Fundgrube an Gedanken, Beobachtungen, gelehrten Betrachtungen, Kommentaren, autobiografisch gefärbten Erlebnissen und Interpretationen klassischer Werke. Im Zentrum der Textsammlung steht der Mensch in seiner Widersprüchlichkeit. Aufgegriffen werden zahllose Fragen, die Sittlichkeit, Verhalten, Tugend und Laster betreffen. Montaigne vertritt eine gemäßigt skeptische Lebenshaltung und versucht, überkommene Vorstellungen und Dogmen im Licht der Vernunft zu betrachten – wobei er sich bewusst ist, wie sehr der Mensch dazu neigt, ebendiese Vernunft zu überschätzen. Die in einem mehr als 20-jährigen Prozess entstandene Essay-Sammlung hat weder einen roten Faden noch eine erkennbare innere Struktur, erhält jedoch durch Montaignes sachliche und schnörkellose Sprache eine gewisse Einheitlichkeit. Geschrieben wurden die Texte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als die Religionskriege zwischen Hugenotten und Katholiken tobten. Durch seine Essays wurde Montaigne zu einem der bedeutendsten Vertreter der französischen Renaissanceliteratur und zum Begründer der literarischen Gattung des Essays.

Wie mein Geist mäandert, so auch mein Stil.

Michel de Montaigne

Seine Essais sind charakteristisch für die spielerische Offenheit seiner vielfältigen Abschweifungen sowie der Entwicklung seiner zu Papier gebrachten Gedanken. Seine Schriften sind so reichhaltig und flexibel, dass sie von nahezu jeder philosophischen Schule adaptiert werden könnten. Andererseits widersetzen sie sich noch heute so konsequent jeder konsistenten Interpretation, dass sie eben dadurch deren Grenzen aufzeigen. Für Montaigne war die sinnliche Wahrnehmung ein höchst unzuverlässiger Akt, denn Menschen können unter falschen Wahrnehmungen, Illusionen, Halluzinationen leiden; man könne nicht einmal sicher sagen, ob man nicht träume. Der Mensch, der die Welt mit seinen Sinnen wahrnimmt, erhofft sich daraus Erkenntnis. Doch unterliegt er der Gefahr der Sinnestäuschung, auch seien die menschlichen Sinne nicht ausreichend, um das wahre Wesen der Dinge zu erfassen. Es sei die Erscheinung vom eigentlichen Sein zu trennen; das hält er für unmöglich, denn dafür benötige man ein Kriterium, als untrügliches Zeichen der Richtigkeit. Ein solches Kriterium wäre aber seinerseits nicht allein zuverlässig, so dass ein zweites Kontrollkriterium notwendig sei, das wiederum zu kontrollieren sei usw. bis ins Unendliche. Für Montaigne beruht die scheinbare Gewissheit der Sinneseindrücke ausschließlich auf subjektiven Empfindungen, das Ergebnis des Wahrgenommenen bleibt im Relativen. Mit Hilfe des Begriffs apparence (Erscheinung) schafft sich Montaigne einen Ausweg. Obwohl also der Mensch das Wesen der Dinge nicht erkennen kann, ist er doch in der Lage, sie in ihren stetig wechselnden Erscheinungen wahrzunehmen.

Mit Hilfe der pyrrhonischen Skepsis kritisierte Montaigne die menschliche Erkenntnisfähigkeit: Wahrheit könne der Mensch nicht mit Gewissheit erkennen. Dies liege vor allem an der Unzuverlässigkeit der menschlichen Sinne. In gleicher Weise gäbe es kein allgemein gültiges Kriterium für rationale Urteile. Die skeptische Betrachtung aufgrund eigener Erfahrung der uns umgebenden Dinge, der uns umgebenden Menschen und von uns selbst, befreie unsere Vorstellungen von Täuschung, und man gelange nur so zu unabhängiger Erkenntnis. Damit sei das eigene Selbst das geeignetste Objekt zur Erlangung dieser Unabhängigkeit. Die Introspektion lasse uns über die Entdeckung des eigenen Wesens auch das der anderen Menschen verstehen.

Montaigne verstand seinen Skeptizismus jedoch nicht als destruktiv, sondern beschrieb bereits die Absichten Pyrrhons als eine positive Grundeinstellung. „Er [Pyrrhon] wollte sich keineswegs zum fühllosen Stein oder Klotz machen, sondern zu einem lebendigen Menschen, der hin und her überlegt und nachdenkt, der sämtliche natürlichen Annehmlichkeiten und Freuden genießt, der alle seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten betätigt und sich ihrer auf rechtschaffene und wohlgeordnete Weise bedient. Dem eingebildeten und wahnhaften, vom Menschen zu Unrecht in Anspruch genommenen Vorrecht aber, die Wahrheit festzulegen, zu reglementieren und zu schulmeistern, hat Pyrrhon ehrlichen Herzens entsagt.“ Gerade in dieser Haltung sieht etwa Günter Abel einen Grundstein für ein modernes Toleranzdenken. Die skeptische Haltung ist Grundlage, um jede Form von Dogmatismus und Fanatismus kritisch abzulehnen und eine anspruchsvolle Ethik zu entwickeln. Ansätze einer den Skeptizismus transzendierenden ethischen Position innerhalb der Essais wurden verschiedentlich herausgearbeitet. Neben Skepsis und Toleranz eröffnet Montaignes Exemplarität, aus seiner vorher beschriebenen individuellen Introspektion heraus, eine undogmatische Verbindlichkeit.

Als Philosoph begründete er im Anschluss an antike Traditionen den neuzeitlichen Skeptizismus.

Dank seines Hauptwerkes gilt Michel de Montaigne als Begründer der literarischen Gattung des Essays. Neben François Rabelais (Gargantua und Pantagruel) ist er überdies der bedeutendste Vertreter der französischen Renaissanceliteratur. Seine Textsammlung fand bereits bei seinen Zeitgenossen beachtlichen Anklang, rief jedoch auch die erbitterte Kritik kirchlicher Kreise hervor. Montaignes skeptische Grundhaltung und seine Zweifel an den christlichen Dogmen und Jenseitsvorstellungen veranlassten etwa Blaise Pascal, von einem „antichristlichen Werk der eitlen Selbstgefälligkeit“ zu sprechen. 1676 setzte die katholische Kirche die Essais auf den Index verbotener Bücher. Die Bedeutung, die Montaigne dem natürlichen moralischen Bewusstsein beimisst, machte ihn – in Verbindung mit seinen Vorbehalten gegenüber ewigen Wahrheiten und starren ethischen Normen – zu einer wichtigen Inspirationsquelle für die französischen Moralisten des 17. Jahrhunderts, insbesondere für La Rochefoucauld und La Bruyère. Außerdem übte Montaigne mit seiner liberalen, der Welt zugewandten Geisteshaltung großen Einfluss auf die Schriftsteller und Philosophen der Aufklärung aus, beispielsweise auf Montesquieu und Voltaire. Doch auch außerhalb des französischen Sprachraums wurde der Verfasser der Essais in zeitlich weit auseinander liegenden Epochen von unterschiedlichen Autoren geschätzt und bewundert, etwa von Francis Bacon, William Shakespeare, Johann Wolfgang von Goethe und Arthur Schopenhauer. Montaignes Einfluss auf die gesamte europäische Literatur ist deshalb kaum zu überschätzen. Auch auf spätere große Essayisten wie Paul Valéry, Karl Kraus und Walter Benjamin übte Montaignes Werk eine starke Wirkung aus. Auch KUNO ist von seinem Denken zutiefst beeindruckt.

 

 

 

 

Weiterführend → Für KUNO ist Michel de Montaigne, ein Blogger aus dem 16. Jahrhundert. In dieser Tradition begreifen die Redaktion die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen