Tiefgründige Ambivalenz. Die Natur ist kein Fitness–Studio für die Seele. Dort, wo die Landschaft nicht kulturell gereinigt, begradigt und überdacht wurde, ist sie der natürliche Feind des Menschen. Nataly befindet sich unter einem Kraftfeld, das auf Entladung seiner Energien drängt.
Zu nächtlicher Stunde. In der Wirklichkeit eines Traums. Und in einem Traum von der Wirklichkeit. Nataly befindet sich im Kellergewölbe ihrer Seele, hier zischeln die Schlangen ihrer Phobien, paaren sich die Gespenster des Ruchlosen, blühen die Blumen des Bösen. Was mit ihr geschieht, findet in einer radikalen Innenwelt der freien Assoziationen statt, das Unerhörte realisiert sich zwischen Synästhesien und psychischen Sensationen. Diese Nacht wird für Nataly zur Offenbarung der Ungeschütztheit, der unverfälschten Humanität. Die Finsternis ist das Negativ einer selbstvergessenen Region und ein Erinnerungsspeicher des Entsetzens. Rotierende Polygone ihrer Furcht. Diese Nacht ist das Gegenbild zum gleissenden Tag und das verwehte Gewissen der Sahara; der Ort, an dem die stecken gebliebene Ordnung in ein schöpferisches Chaos zerfällt.
Mehrfachbelichtung. Sie träumt in einer anderen Sprache als der, in der sie lebt. Ihre Träume bestehen aus einer Vielzahl von Geschichten. Mit radikal subjektiver Wahrnehmung erfindet Nataly ihre Realität immer wieder neu. Solange die Gedankenblitze noch nicht ihre Kraft vergeudet haben, steht die Träumende unter Einfluss einer bangen Erwartung. Ihr Wunsch ist es träumend heimzukehren in die Ferne, in die Freiheit. In einem traurigschönen Gefühl der Weltabwesenheit lässt die Träumende Dinge geschehen, drängelt sich nicht vor, und ist da, wenn es passiert… im Wandelgang ihres Traums gibt es kein Umfeld, in das sich Nataly hätte hereinfallen lassen können… hier muss sie einzig vor sich selbst bestehen:
In einer tropisch beheizten Glaskuppel. Einem spartanisch eingerichteten Atelier. Eine Werkstatt. Die Skulpturen, verteilt im Raum. Eine Extravaganz des Geistes = ein Ort, an dem Schwingungen ihre Richtung ändern. Regentropfen klatschen auf die Aussenhülle. Geräusche eines natürlichen Kontinuums.
Ein schwarzes Samttuch. Ihr einziges Kleidungsstück. Am Hinterkopf mit einem Knoten zusammengebunden. Im Dunkeln nimmt ihre Sehschärfe ab, ihr Tastsinn gewinnt an Bedeutung, für sie öffnet sich der klare Raum der Imaginationen. Sie bewegt sich in Räumen, die unter ihrem Schritt erst zu entstehen scheinen. Ihre Hände formen jenes Unsagbare, das im Augapfel sein Unwesen treibt. Das Pendel zwischen Zeigefinger und Daumen schlägt aus. Mit den Zehen ertastet sie eine Vertiefung im Boden. Folgt dieser Rinne. Zuwachs an Erkenntnis ist für sie immer auch ein Zuwachs an innerer Unruhe. Ihre Suche nach der inneren Stimme erreicht einen Zustand des Schweigens… die Spur endet im Binnenbezirk.
Sichtsamkeit. Feinkörniger Sand weist ihren Fussballen den weiteren Weg. Die spiralförmige Spur führt zum kupfernen Bett. Sie legt sich flach auf den Rücken. Lockert Beine und Füsse. Bewegt Becken, Schultergürtel und Kopf minimal. Empfindet das Gewicht des Körpers und der Gliedmassen. Atmet ruhig ein und aus. Sinkt in sich ein. Entspannt sich mehr und mehr und immermehr… die Völva platziert ihren Kopf auf das Kissen aus Quarz, bis sich die Energie überträgt.
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Vignetten, Novelle von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.
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Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Einen weiteren Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.