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Denken ist solitär. Alleinsein erholsam. Einsamkeit ist für Max nötig, um zu sich selbst zu finden. Sein Autarkismushängt damit zusammen, dass er wenige Menschen hat, denen er vollkommen vertrauen kann. Max denkt nach, trifft die richtige Entscheidung, wenn er die Argumente abgewägt hat und entscheidet erst, wenn alle Emotionen abgebaut sind. Er sitzt auf einem Felsvorsprung. Blickt ins Tal der Könige. Memoriert den Tag. Betrachtet am Himmelsgewölbe das Werden und Vergehen im kosmischen Zeitstrom. Das Licht vergangener Sterne erreicht ihn. Er ist umgeben von Planeten, verglühenden Kometen, ihn umkreist der Mond. Er stürzt mit dem Erdball in die Tiefe des Alls. Rechts und links sausen die Gestirne mit furchterregender Beschleunigung vorbei, wo die Geburt neuer Himmelskörper zu beobachten ist, sich jenes mystische Licht und Dunkel der autonomen Farbe auflöst, und sich das Sakrale in der Welt des Säkularen befindet, die Szenerien der Romantik im Abgrund der Farbe absorbiert sind.

Eine Oase bietet Schutz. Seine Reisebegleiter schlafen erschöpft neben dem Feuer. Sie sind durch die Wüste geritten, vorbei an roten und braunen Felsen, über Sandwiesen und Steinfelder. Die Sahara ist heiss oder kalt. Stockdunkel oder gleissend hell. Nie irgendwas dazwischen. Wenn es still ist, hört er sein Blut in den Ohren rauschen. Wenn der Passatheult, versteht er sein eigenes Wort nicht. In der Sahara beginnt die Welt im Kopf und hört hinter dem Horizont nicht auf.

Die Stille in den Dünen lässt jeden Herzschlag zu einer Erschütterung werden. Ein Kamel blubbert mit exorbitantem Räuspern. Ein Gebilde gurgelt durch seinen gespaltenen Schlund, schliesslich schiebt sich ein rosaroter Beutel aus dem Kamelmaul. Er erzeugt das Blubbern. Das Trampeltier bläst seine Zunge bis zur Grösse eines Luftballons auf, saugt sie Sekunden darauf mit einem genüsslichen Schlupp wieder ein und wiederholt dies in unregelmässigen Abständen.

Funkenflug. Das kurze Aufflackern der Glut seiner Zigarette erscheint real. Ein Stickedöschen raschelt. Der Scheich setzt sich mit unaufgeregter Eleganz. Sein Gesicht hat etwas Felsartiges, scheint wie aus einer anderen, anorganischen Welt zu ihm herüberzublicken. Sein Körper wirkt, als sei er schon Teil der amorphen Natur, als kämen seine Gesten und Worte gar nicht aus diesem einen Menschen, sondern aus dem geistigen Reservoir der Vergangenheit und der Zeit grosser Erzählungen. Auf dem Kopf trägt er den chech, das zu Turban und Mundschutz geschlungene Tuch. Dieser Touareg gehört nicht zur Karawane. Max sieht den Sonnengegerbten an. Blickt in blaue Augen. Versucht den Grund auszuforschen.

Bodenkunde. Der Scheich beginnt in einer Sprache zu erzählen, die Max zuvor nicht gehört hat. Die Touareg haben unterschiedliche Bezeichnungen für die Sahara, sie sind weiblich, alles andere wäre indiskutabel in Anbetracht des Offensichtlichen. Er bezeichnet die Sandwüste als Ténéré, was übersetzt „Land da draussen“ bedeutet. Weitere Informationen liegen in der Sahara auf dem Boden. Dort kann man lesen, dass eine Viper Gefahr bringt, ein verliebtes Paar die Füsse nebeneinander in „die gelbe Farbe“ gedrückt hat, er den rechten, sie den linken. Der Sand ist so fein, dass man Hände, Gesicht, Teller und Löffel damit waschen kann, das unverfestigte Sedimentgestein speichert Banales und Lebenswichtiges, Schönes und Schauriges, Gutes und Schlechtes. Max erinnert sich an die Handvoll Zeit, die Nataly auf seinen Bauchnabel rieseln liess…

 

 

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Vignetten, Novelle von A.J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.

Covermotiv, Schreibstab von Peter Meilchen

Weiterführend

Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Einen weiteren Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.