Der Thanatologe

 

Über eine Arbeitsbeschaffungsmassnahme hat sich Manfred Schulz im Labor von Prof. Dr. Willbert und Dr. Noëmi Neumann an der Universitätsklinik zum Thanatologen fortgebildet. Bei seiner theoretischen Ausbildung geht es vor allem um Anatomie und Gefässlehre. Dabei kommen ihm seine Tätigkeiten als Präparator und Totengräber zugute. Die Rechtsmedizin vermittelt ihm Kenntnisse der Leichenschau, dem Erscheinungsbild nicht–natürlicher Todesursachen und überlebter Traumatisierungen. Manfred Schulz lernt, bei einer Verletzung die Unterscheidung von tätlicher Gewalt und Unfall zu treffen. Untersucht Opfer von Straftaten gegen das Leben und gegen körperliche Unversehrtheit, diagnostiziert und dokumentiert die Spuren von Gewalt. Ohne die Sicherheit seines rechtsmedizinischen Gutachtens ist die Verurteilung eines Mörders, Gewalttäters oder Vergewaltigers so gut wie unmöglich. Jeder Arzt ist verpflichtet, Totenscheine auszustellen. Der Thanatologe entscheidet eigenverantwortlich, ob die Polizei gerufen oder der Leichnam unverzüglich bestattet wird.

Manfred Schulz betreibt Schwellenkunde, die Kunst des Endes am Ende der Kunst. Er gelangt zu der Anschauung, dass dem Menschen kein wesenhafter Kern, kein je eigenes „Selbst“ zugrunde liegt. Sein Obduktionssaal sieht aus wie eine frisch gewienerte Grossküche. Fliesen und blitzender Chrom. Die OP–Lampe taucht den gekachelten Raum in unwirkliches Weiss. In der Mitte des Raumes stehen drei Seziertische, daneben breite Waschbecken aus Edelstahl. Klemmen, Scheren und Pinzetten liegen bereit. Die Leichen werden mit einer Industriewaage gewogen, die in den Steinboden eingelassen wurde. Anschliessend werden sie in weisse und blaue Plastiksäcke eingewickelt und in den Kühlraum gelegt. Kopf an Kopf, drei Reihen hoch. Nur die gelblichen Füsse schauen aus den Säcken heraus, am Zeh ein Zettel mit einer Erkennungsnummer.

»Dann woll’n wir mal«, murmelt der Thanatologe und konzentriert sich auf den aktuellen Fall. An der Wand hängen zwei Abbildungen, die jeder Arterie und Vene im menschlichen Körper ihren lateinischen Namen zuordnen. Manfred Schulz hat seine Schutzbrille aufgesetzt. Er beugt sich zur Halsvene des Patienten und beginnt mit der Arbeit. Wenn er das Messer führt, dürfen ihn keine Emotionen leiten. Die Vorgehensweise ist immer gleich. Er beginnt mit dem Kopf. Mit dem Schnitt über den Scheitel, von einem Ohr zum anderen. Dann klappt er die Kopfschwarte von vorn nach hinten weg. Sägt den Schädel auf, horizontal, ohne das Hirn zu verletzen. Schneidet den Bauch auf, die Brust. Holt alle Organe heraus, hält sie unters Mikroskop, vermisst, analysiert, fotografiert. Legt alles zurück und näht die Körperhöhlen zu.

In der Morgue kann Manfred Schulz dem globalisierten Lärmen das stille Eigene entgegensetzen. Die Grundbehandlung eines Toten dauert vier Stunden. Sie beginnt mit einer Desinfektion. Um den Verwesungsprozess hinauszuzögern, wird das Blut im Leichnam durch eine Formalinlösung ersetzt. In einem Kessel wird eine Mischung aus einem Prozent Formalin und Wasser hergestellt, dann in den Körper gepumpt. Zumeist benutzt er die Halsschlagader, um das Formalin über den Blutkreislauf zirkulieren zu lassen; das Blut tritt an der Halsvene aus. Ist der Kreislauf wegen einer Thrombose unterbrochen, muss er die Flüssigkeit an entsprechenden Stellen einzeln nachspritzen.

Am nächsten Tag beginnt er mit der Restauration. Das Gesicht des Toten wird nach Fotos so wiederhergestellt, wie es vorher ausgesehen hat. Bei Unfallopfern dauert es Stunden. Die Behandlung des fachgeprüften Bestatters dient weniger dem Wohl des Toten. Es geht um die Angehörigen. „Behalten Sie Ihren Mann lieber so in Erinnerung, wie Sie ihn gekannt haben.“ Der Thanatologe hält wenig von diesem Bestatter–Satz, mit dem die Hinterbliebenen davon abgehalten werden sollen, den Toten noch einmal zu sehen. Manfred Schulz ist einer von 42 Thanatopraktikern in Deutschland. Er sorgt dafür, dass bei Leichen der Verwesungsprozess, die Thanatomorphose, verzögert wird. So können die Angehörigen in Ruhe von dem Verstorbenen Abschied nehmen, ohne danach von Albträumen gequält zu werden.

Im Rahmen der Weiterbildung am Institut für Forensische Medizin hat Manfred Schulz ein Seminar für Trauerpsychologie besucht. Da wurde erklärt, wie wichtig es für den Trauerprozess ist, dass der Hinterbliebene den Leichnam noch einmal sieht, um sich des Verlusts bewusst zu werden. Ein Konglomerat flüchtiger Faktoren lässt subjektiv den Eindruck eines Ich entstehen. Manfred Schulz meint, die Beziehung zwischen Lebenden und Verstorbenen sollte menschlicher werden.

Am liebsten arbeitet er an Wochenenden, weil sich dann meist die grossen Fälle ereignen. Montags bis Freitags findet der Alltag statt, aber am Wochenende haben die Menschen Zeit zu feiern, zu trinken, sie gehen aus, sie machen Dinge, die sie sonst nie tun. Sie streiten, sie bringen sich um. Als erste Hingeschiedene untersucht er eine 36jährige, gut entwickelte, wohl genährte Frau, 115 Pfund schwer, 166 Zentimeter gross. Ihr Körper hat am Tag ihres Todes keine Nadeleinstiche, in ihrem Blut findet er eine hohe Konzentration an Schlafmitteln. Zuallererst sieht er nach äusseren Verletzungen. Musste man früher, wie Sherlock Holmes, mit einer ganz normalen Lupe untersuchen, benutzt er dafür ein Spezialmikroskop. Zuerst vermutet Manfred hier, dass sie sich eine Überdosis Drogen gespritzt hat, was sich nicht bestätigt. Als nächstes nimmt er sich das Gehirn vor. Um festzustellen, ob sie an einem epileptischen Anfall gestorben sein könnte, überprüft er ihre Luftwege, dann ihre inneren Organe. Lunge und Herz sind völlig normal. Ein bisschen überraschend ist die Mageninhaltuntersuchung: ihr Magen ist völlig leer. Dieser Befund führt zu zahlreichen Mordhypothesen.

»Wenn die Prominente wirklich an einer Überdosis Schlaftabletten gestorben ist…«, erkennt Kriminalassistent Rigobert Miller, »wieso hatte sie keine Reste davon im Magen?«

»Wenn Menschen über viele Jahre Schlaftabletten nehmen, wie unsere Prominente, gewöhnt sich der Körper daran und baut sie nach einiger Zeit wesentlich schneller ab. Als sie gefunden wurde, lagen neben ihr leere Pillendosen, es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass jemand anderes ihr die Tabletten verabreicht hatte. Also lautet meine Diagnose: Höchstwahrscheinlich Selbstmord.«

»Sie sagen betont höchstwahrscheinlich, also scheinen Sie Zweifel zu haben«, hinterfragt Rigobert Miller. Wer Sicherheit auf Kosten von Freiheit will, hat am Ende weder Freiheit noch Sicherheit, deshalb versucht er präzise zu sein. Der Kriminalassistent und der Thanatologe sind sich in ihrer Arbeit ähnlich, weil sie sich abwegigen Anstössen über ungewöhnlicher Eingebung nicht von vornherein verschliessen. Alles Denkbare lassen sie als Möglichkeit zu.

In ihrer Patientenschaft unterscheidet sich die Rechtsmedizin grundsätzlich von allen anderen Fächern der Medizin: Ihre Klientel sind ausschliesslich Opfer, traumatisiert oder tot. Es ist die Aufgabe des Thanatologen, die Toten zum Sprechen zu bringen, Schwierig wird es für Manfred Schulz nur noch bei Leichen, die ihr Leben lang nicht beim Zahnarzt gewesen sind. Am Abend meldet sich Kriminalassistent Rigobert Miller am Telefon:

»Schalten Sie den Fernseher an.«

Auf dem Bildschirm sieht er den Politiker blutend am Boden liegen. Er ist niedergeschossen worden und blutet aus dem Kopf. Jeder Verdacht, der entkräftet wird, bringt gleich wieder einen neuen hervor. Es geht darum, dass der Glaube den Zweifel besiegt; dass es einen bei der Achterbahnfahrt, die hier Handlung heisst, auch in den absurdesten Wendungen nicht abwirft; dass die Vernunft sich durchlöchern lässt wie ein Schurke im Gegenlicht.

Rigobert Miller wartet am Tatort auf ihn. Als er noch jünger war, haben ihn andere Dinge begleitet, und manche davon leben immer noch… verstaut, versteckt, aus den Augen geräumt. Zieht er sie wieder hervor, stockt ihm der Atem, so gross scheint ihm die Geschichte, die sie plötzlich erzählen. Wenn Dinge reden, muss er schweigen. Tief durchatmen. Die Situation noch mal so anschauen, als ob man über ihr auf einem Hochsitz schwebt.

Manfred Schulz wird zum materialistischen Geschichtsmetaphysiker, einem Virtuosen des Zettelkastens. Sein Verfahren entstammt Bibliotheken und Antiquariaten, sind Buchstaben und Zeichen aus dem Setzkasten der vergessenen Dinge. Nach der Lehre von den Korrespondenzen ist alles Abwesende zugleich anwesend. Er ist davon überzeugt, dass man Verabredungen in der Vergangenheit hat, darum fotografiert er, recherchiert und arrangiert sein Material im Sinn seiner geschichtsphilosophischen Hoffnung auf die Wiederkunft der Vergangenheit. Der Thanatologe beginnt, alles in die Wege zu leiten für den Fall, dass der Politiker sterben würde. Direkt nach dem Tod beginnt er mit der Untersuchung, die insgesamt sieben Stunden dauert. Er vergleicht die Einschüsse in seiner Jacke mit denen im Körper, probiert aus, wie er sich bewegt haben muss, damit sie sich decken. Dann schaut er anhand der Fernsehaufzeichnungen, in welchem Moment sich der Politiker in dieser Haltung befindet und hat den Tatzeitpunkt.

Die Toten sind, der Auffassung von Manfred Schulz nach, gar nicht tot, sondern wandeln in zeitlosen, nach einer höheren Stereometrie ineinander verschachtelten Räumen umher. Für ihn ist in jedem der Gegenstände die Welt präsent, und zwar geordnet, nach einem überraschenden, ja dem Profanen unverständlichen Zusammenhang. Mit dreidimensionaler Fotogrammmetrie kann er berührungsfrei auch kleinste Wunden erfassen und am Computerbildschirm darstellen. Er löst Objekte aus dem leidvollen, disparaten Geschichtsverlauf, aus der falschen Welt, nobilitiert sie, indem er sie einer neuen, selbst geschaffenen Ordnung unterstellt. Schiesstests ergeben, dass der Attentäter unmittelbar neben dem Politiker gestanden haben muss. Auch Russspuren an den Haaren bestätigten dies.

Der tägliche Umgang mit dem Tod ist für Manfred Schulz weniger belastend als der Umgang mit Sterbenden. Denen könnte er wahrscheinlich nicht helfen. Davor hat er Furcht. Vor den Toten nicht. Weil er den Tod ständig vor Augen hat, ist ihm bewusst, wie kostbar das Leben ist und dass er keine Zeit zu verschwenden hat. Fast alle Thanatologen sind fröhliche Menschen.

 

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

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