Kabelaffe

 

Morgens um 7:00 Uhr muss sich Kid C. auf der Bude melden. Die Bude ist das Materiallager von Elektro–Müller & Co. Hier herrscht die Aufgeräumtheit eines Flugzeughangars, das Werkzeug geordnet wie Operationsbesteck, die Monteure in ihren grauen Kitteln würdig und schweigsam. Überraschend leise ist es in der Werkhalle. In gleichmässigen Abständen sind die Geräusche kleiner Saugnäpfe zu hören, mit denen die einzelnen Silicium–Zellen auf Förderbänder abgelegt werden, wo sie automatisch mit verzinkten Kupfer–Bändchen zu so genannten Strings verlötet werden. Diese Zellenbänder werden unter Hochdruck und bei Temperaturen von 150 Grad mit zwei Schichten von Folien, einem Fleece und einer Glasplatte zu einem Modul zusammengebaut. Der Auftrag von Elektro–Müller & Co ist gross, 100.000 Dächer gilt es, mit Fotovoltaikanlagen zu bestücken und aus der Stadt eine Solar–Fabrik zu machen. Ihr Ziel ist, als Umweltpreisträger Marktführer der installierten Modulflächen zu werden und die gesamte Wertschöpfungskette vom Bau von Solarmodulen über die Montage von Fotovoltaikanlagen bis zur Lieferung von Solarstrom zu besetzen. Der Vorarbeiter Werner Böckers sichtet mit dem Meister Paul Pracher das Material. Der Geselle Eckhard Stange liesst espresso, die deutschsprachigste Zeitung der Welt. Sieht kurz hoch, deutet ihm an, sich auf die Werkbank zu setzen.

»Ah, die Aushilfe ist auch schon da«, begrüsst der Meister Kid C.

»Pünktlich wie die Maurer«, versucht Kid C. einen lockeren Spruch zu landen.

»Dann bist du hier in der falschen Firma«, kontert der Vorarbeiter mit der verspannten Selbstsicherheit eines Zwangsneurotikers.

Seine Kollegen lächeln. Danach ist es mit dem Scherzen vorbei. Kabelrollen, Bohrmaschine und Werkzeug werden in den Transporter verladen. Kid C. darf auf einer Kabelrolle Platz nehmen. Eckhard fährt zur Baustelle, einem Altbau aus dem letzten Jahrhundert. Leicht heruntergekommen. Wahrscheinlich schon seid dem letzten Weltkrieg nicht mehr renoviert worden. Ihr Auftrag lautet konkret: den Kohlendioxyd–Ausstoss verringern.

»Hier ham’se die Wände noch mit Kuhmist hochgezogen«, resümiert Werner, der Vorarbeiter, und kratzt sich am unrasierten Kinn. Eckhard knallt die Bohrmaschine in die Ecke und sieht sich die hohen Räume an. Er ahnt, dass harte Arbeit ansteht, bis hier nach dem Entkernen eine Fotovoltaikanlage installiert werden kann.

»Los geht’s, Schlitze kloppen.«

Eckhard gibt ihm Fäustel und Meissel. Die Arbeit ist geistig einfach. Etwa dreissig Zentimeter links neben der Tür muss ein grösseres Loch für eine Abzweigdose gestemmt werden. Von dort gehen Schlitze zu Schaltern und Steckdosen, für die ein kleineres Loch geschlagen werden muss. Hinter den teils schon herunterhängenden Tapeten sind Zeitungen auf den Putz geklebt. Der völkische beobachter Jahrgang 1936, Olympische Spiele in Berlin. Sportteil, die Herrenrasse verliert im Sprint. Der Putz ist mindestens 3 Zentimeter tief. Dahinter roter Ziegelstein. Hart wie Beton. Kiloweise Staub rieselt auf den Boden. Im Nu ist die Hütte eingenebelt. Stinkt schlimmer als Kuhmist. Haare und Nase sind vom Staub beschichtet. Zuweilen rutscht Kid C. vom Meissel ab und schrammt kurz am Knöchel vorbei.

»Alles faules Fleisch. Muss weg«, ruft ihm Eckhard zu, krempelt die Ärmel auf und lässt sein AC/DC–Tattoo blitzen.

»Was ist denn der Unterschied zwischen Alternating Current und Direct Current?«, schindet Kid C. beim Gesellen eine kurze Pause raus. Der ist froh, dass er sein Berufsschulwissen loswerden kann:

»Strom wird in Kupfer von Elektronen transportiert. Die bewegen sich mit einer Geschwindigkeit von einem Zentimeter pro Sekunde. Gleichstrom ist elektrischer Strom, der immer die gleiche Polarität behält, entweder negativ oder positiv. Wechselstrom ändert ständig seine Polarität und Stärke. Die Zeit, nach der er wieder den gleichen Wert und die gleiche Polarität einnimmt, nennt man…«, will Eckhard wissen, ob Kid C. im Physikunterricht aufgepasst hat.

»Periode.«

»Die Zahl dieser Perioden pro Sekunde ergibt die Frequenz – und die wird in Hertz gemessen. Hierzulande kommt nur Wechselstrom aus der Steckdose, mit einer Frequenz von 50 Hertz. Das bedeutet, die Polarität der elektrischen Ladung wechselt in der Sekunde 100 Mal.«

»Kollegen, wir machen jetzt Frühstück«, ruft Werner. Eckhard würde noch gern die Geschichte vom elektrischen Kuss erzählen, der auf Jahrmärkten im 18. Jahrhundert der Renner war, setzt sich jedoch ohne Widerspruch auf den Bohrmaschinenkasten und liest den Sportteil. Werner hat die andere Hälfte der Zeitung. Er öffnet seine Thermoskanne. Giesst sich Kaffee ein. Liest. Kid C. packt seine Stullen aus. Klappt den Öffner der Milchschachtel hoch. Beobachtet die beiden. Eine unsichtbare Choreografie schwingt zwischen ihnen. Sie arbeiten im Takt, lesen im Takt, essen im Takt. Ihre Dialoge sind schluckaufartige Wiederholungen von Befindlichkeiten.

»Ehj, Eckhard, hast du das gelesen? – General Fiessling, ein Sicherheitsrisiko für unser Land. Der Pressesprecher sagt, die haben hieb– und stichhaltige Beweise, dass der General „in Lokalen des homosexuellen Milieus“ verkehrt hat.«

»Igitt, ein Schwuler!«, kreischt Eckhard. Er glaubt noch, dass Weibchen starke Nestbeschützer suchen und Männchen auf gebärfreudige Becken zu achten haben.

»Ist doch lanciert, die C.I.A. will mit der Aktion dem Verteidigungsminister eins auswischen. Ist bekannt, dass der ’ne Ledertucke ist.«

»Ein warmer Bruder als Chef der kalten Krieger. Hat viel Fantasie, unser neuer Kollege«, merkt Werner an. Er stammt aus einer Zeit, als die Côte dAzur noch die grosse weite Welt und das Versprechen auf ein glamouröses Leben war. Eckhard holt den Toto–Schein aus der Tasche und gibt seine Tipps ab. Die Krümel liegen neben dem Staub. Die erste Pause ist vorbei. Werner treibt an:

»Auf, Leute. Einsatz, denn Einsatz bringt Umsatz!«

Der Rest des Vormittags dehnt sich in die Länge. Immerzu die gleiche Bewegung. Leiter rauf, Leiter runter. Am schlimmsten ist es, Schlitze in die Decke für die Lampen zu kloppen. Da rieselt der Staub am Kragen vorbei, den Nacken runter und kommt am Hosenbein wieder heraus. Kid C. ist froh, dass die alten Moon–Boots seine Füsse schützen. Die Umrisse von Wade und Fuss lassen sich unter dem Nylon gerade noch erahnen. Die Zehen stecken in einer wärmeisolierenden Schaumstoffhöhle. Die gerade Sohle besteht aus Gummi. Durch sechs Ösen an den Schuhrändern spannt sich ein langer Schnürsenkel, der einmal vorne, einmal hinten gekreuzt und vor dem Schienbein gebunden ist.

Der Geselle macht sich in der Küche zu schaffen. Legt die Zuleitung für den Herd. Der Vorarbeiter kontrolliert im Keller den Zähler. Stellt die Anlage auf Fotovoltaik um. Installiert mit dem Zimmermann auf dem Dach die Solarmodule.

»Volt ihr Watt zu mampfen?«, erkundigt sich Werner zur Mittagszeit.

»1/2 Hähnchen mit Pommes Rot/Weiss«, ordert Eckhard, klatscht den Hammer in die Ecke und schnippt das Schnipselgummi von der Verpackung.

»Danke der Nachfrage, hab‘ noch Stullen«, bescheidet sich der Neue.

Die Mittagspause unterscheidet sich von der Frühstückspause nur dadurch, dass sie die Zeitungsteile getauscht haben. Werner doziert aus dem Sportteil. Eckhard verputzt das Hähnchen. Schnippt die Knochen in den Staub. Als er den Mund frei hat, darf er die Geschichte vom elektrischen Kuss erzählen:

»Eine Frau wurde auf einen isolierten Schemel gestellt. Mit einer Hand berührte sie eine Reibungselektrisierungsmaschine und wurde so quasi aufgeladen. Männer bezahlten, um die Frau zu küssen. Sobald sich die Lippen bis auf einige Zentimeter angenähert hatten, sprang der Funke über. Die Frau entlud sich, man konnte einen Funkenschlag sehen und beide bekamen eine gewischt.«

»Das brachte Thomas Edison auf die Idee einer Möglichkeit zur Hinrichtung von Straftätern mit Elektrizität, dem elektrischen Stuhl«, ergänzt der Vorarbeiter.

Schlussspurt. Das Kabel lässt sich nicht in die Wand nageln. Es muss angegipst werden. Werner besorgt in der Bude fehlendes Material. Der Beat des Rock’n’Roll, mit dem Kid C. am Vormittag auf die Wände eingedroschen hatte, ist einem Bluesfeeling gewichen.

»Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will«, lästert der Vorarbeiter, als er zwischenzeitlich hereinschaut. Der Staub hat sich auf die Poren gelegt. Eine zweite Haut. Ein feiner Film, der alles Fett aussaugt. Sich nicht mehr abschütteln lässt. Mit jedem Fäustelschlag trommelt Kid C. sich dem Feierabend entgegen. Als Schlagwerker weiss er, dass jedes durchgeschlagene Trommelfell ihren Platz in der Echokammer der Geschichte des Rock’n’Roll hat. Der Sisyphus des 21. Jahrhundert ist ein Entwicklungshelfer, der für den afrikanischen Markt spezielle kompakte Inselanlagen mit Modul, integriertem Speicherakku, Wechselrichter und Laderegler entwickelt, die den Energiebedarf eines Haushalts für Beleuchtung und Kommunikation decken. Mehr geht nicht, glaubt Kid C., der es inzwischen als menschenunfreundlich erlebt, einen Standpunkt zu haben.

Werner betrachtet das entkernte Gebäude. „Der Mensch ist ein bekleidetes Schwein, das Mathematik beherrscht“, geht es ihm bewundernd durch den Kopf, als er die hohe Kunst der funktionalen Gestaltung wieder erkennt. Er zweifelt daran, dass sich die Statik des 19. in das 21. Jahrhundert transportieren lässt, die Innenstädte mit dem Charme von Kuckucksuhren lebendig sind oder den Mundgeruch einer verwesenden Gedenktagskultur verströmen. Er hat zu dieser Architektur ein Verhältnis, wie es der Deutsche in den 1950–er Jahren zum Volksbad hatte: Da ging man Samstagabends aus Gründen der Hygiene rein.

»Na, Kollege, wie war der erste Tag?«, erkundigt sich der Vorarbeiter, als er den klapperigen R4 über die B7 Richtung Bude lenkt.

»Eintönig«, gibt Kid C. aus dem Fond des Wagen, wo er abermals auf der Kabelrolle sitzen muss, mit müder Stimme retour.

»Wo hast du eigentlich vorher gearbeitet?«

»Bei der Bauhütte®, Abteilung Erdmöbel.«

 

***

Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.