Bricolage als Erinnerungsprinzip

Die Jahre waren gut, aber die nächsten dreißig Jahre werden schwieriger.

Timothy Garton Ash

Am 3. Oktober 1990 ging man davon aus, daß es eine Generation braucht, damit zusammenwächst, was zusammengehört. Das wiederaufgebaute Deutschland ist ein deprimierend bereinigtes Land ohne Randzonen, ohne jedwedes historische Gefälle und ohne kulturelle Erinnerung. Die deutsche Literatur ist in etwa dem Maße wiedervereinigt wie Deutschland selbst, äusserlich. Zum ethischen Aspekt der Erinnerung gehört die Suche nach vergessenen Geschichtsdetails, darin folgt A.J. Weigoni als Rettungsethnograph dem Konzept der historischen Spur von Walter Benjamin. Erinnerung als ideologisierter Gebrauch von Vergangenheit stößt in Abgeschlossenes Sammelgebiet an eine nicht transzendierbare Grenze. Ging es vor 1989 noch um die richtige Form des Widerstandes und um die Rolle der Kunst, so stehen danach das Erzählen und das Gespräch im Mittelpunkt, in denen sich Erinnerung und damit auch Deutung des Vergangenen vollziehen. Weigoni gelingt es in seinem ersten Roman, eine Balance zwischen polyphoner Prosa und linearer Plotführung zu halten. Entstanden ist ein dichter Text, eine literarische Rauschzeit, für die es sich lohnt, sich Zeit zu nehmen und sie zu geniessen. Dieser Romancier unternimmt feinnervige Grabungen in den Erinnerungen, beharrlich arbeitet er sich zu den verschatteten Zonen der Geschichte vor. Es ist Geschichtsschreibung durch Sprache. Zeit heilt eben nicht alle Wunden, aber Literatur kann sie erträglicher machen.

Es ist ganz falsch, so zu tun, als wäre da plötzlich der heilige Geist über die Plätze in Leipzig gekommen und hat die Welt verändert. Gorbatschow ging über die Bücher und musste erkennen, dass er am Arsch des Propheten war und das Regime nicht halten konnte.

Helmut Kohl

Fiktion und Fakten bilden keine Gegensätze, schrieb Susan Sontag in einem Essay. Das mag im 21. Jahrhundert nach weichgezeichneter Weltsicht klingen, doch für Weigoni, den Satiriker der deutschen Gegenwartsliteratur, ist es selbstverständlich Realitätsfragmente so zu montieren und zu verdichten, daß Poesie dabei herauskommt. Fiktion und Fakten mischt Weigoni zu einem gewaltigen Gesellschaftspanorama. Nachdem die moralisierenden Phrasen der Gruppe 47 überwunden sind, sollte man keine Zeit mehr mit nichts sagender postmoderner Ironie verlieren. Dieser Schriftsteller artikuliert nichtpropagandistisches Sprechen, eine Erinnerungs- und Beschreibungssprache, die sich abhebt von dem, was man über die sogenannte Wiedervereinigung lesen mußte. Seine Methode ist nicht die des Schocks oder der Provokation; er sucht nach der Evidenz poetischer Bilder, wenn er den Finger auf die Wunden seiner Figuren legt. In Abgeschlossenes Sammelgebiet durchdringt er die Realität vom ersten bis zum letzten Kapitel, zeigt Widersprüche auf, und weist poetisch aus, wie sich Individuen im geschichtlichen Umbruch verhalten. Freiheit und Toleranz liegen nicht allein in klassisch westlichen Vorstellungen, sie können sich auch in einem bewußten Umgang mit Traditionen offenbaren. Dieser Meister der phänomenologischen Nahbetrachtung illustriert in seinem Roman keine These, er schafft eine Wirklichkeit konsequent vom ersten bis zum letzten Bild zu durchdringen und ihre Widersprüche aufzuzeigen, zeigt auf, wie sich einzelne Menschen inmitten geschichtlicher Umbrüche verhalten. Mit einer kühl sezierenden Erzähltechnik, sparsamer Dosierung psychologischer Mittel und viel Schrpachwitz gewinnt er den zwiespältigen Charakteren viel Plausibilität ab. Die Mauer ist in diesem Roman eine Metapher für den Kollektivwahn, der in der Geschichte zum Ausbruch kommt.

Hier ist er also, der große Zeitroman für Marcel Reich-Ranicki.
Wend Kässens, NDR 3, Literatur vor Mitternacht

Es gibt noch Bücher, die ohne Umschweife den Leser direkt ansprechen. Die Sprache gehorcht Weigoni aufs Wort, sie ist bei ihm nie Rhetorik, nie Oberfläche, sondern im wahrsten Sinne des Wortes Ausdruck. Jedes Wort in seinem Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet hat – und ist – Geschichte. Was bereits bei seinen Novellen auffällt, sind die sezierende Beobachtungsgabe und die Fähigkeit, die Sätze bis ins Unerträgliche, kaum Auszuhaltende voranzutreiben. In seinem ersten Roman erweist sich dieser Romancier einmal mehr als der wichtigste unbekannte deutschen Schriftsteller. In diesem Roman stellt A. J. Weigoni die Welt auf die Vergänglichkeitsprobe. Die Ereignisse von November 1989 bis März 1990 fanden in Weigoni einen empathischen Chronisten. Er verdichtet die krisenhafte Lebenswirklichkeit und die ideologisch aufgeladenen Kämpfe im eingemauerten Berlin zu einem zeitdiagnostischen Bild. Diese Figuren in diesem Roman leben im Präsens, sind immer nah an der Wahrnehmung und den Gedanken. Die wichtigste Errungenschaft der 1989er-Bewegung im neuen Deutschland bleibt, daß sie massenhaft – und hoffentlich für immer – mit der Kultur des Gehorsams gebrochen hat. Für Kunst sind solche Vorgaben nicht nur eine Einschränkung, sondern vor allem eine formale Herausforderung, die übrigens in vormodernen Zeiten ästhetischer Alltag war: Wie bewege ich mich künstlerisch in einem von Regeln, Tatsachen und moralischen Empfindlichkeiten verminten Gelände?

Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.

Walter Ulbricht

Diesen oft zitierten Satz schwurbelte der DDR-Staatsratsvorsitzende am 15. Juni 1961 in einer Pressekonferenz daher. Am 13. August unterbrachen die Bauarbeiter ihre Arbeit am Wohnungsbau. Der SED-Parteichef wollte immer nur das Beste. Für die Genossen, für die Kinder und vor allem – uneingestanden – für sich. Aufstieg, Ansehen, Erfolg, Wohlstand, Liebe, zumeist in dieser Reihenfolge. Und es ging fehl.

Hegel bemerkte, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen sich zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.

Sollte Karl Marx mit diesem lumpigen Dialektrick Recht haben, stellt A. J. Weigoni in seinem ersten Roman die Welt auf die Vergänglichkeitsprobe. Zwischen November 1989 und März 1990 wird die deutsche Geschichte vom Druck der Ereignisse komprimiert. Weigoni ist ein aufgewechter Causeur, der in seinen exquisiten Satzbau brillanten Metaphern einstreut. Verschlankung des Ausdrucks, Verfeinerung des Stils sind seine Sache nicht; insbesondere spart er, gegen alle Empfehlungen, niemals mit Adjektiven. Das Literarische, das Paradoxe und Simulierte dieses schriftstellerischen Unternehmens ist sein Programm in diesem fragmentarischen Ideenroman, Anekdoten sind sein bevorzugtes Material, Bonmots, historische Szenen, neuralgische Momente der deutschen Geschichte. Als Analytiker der Epoche lauscht er auf deren Geplapper, notiert, sobald darin Wahrheiten aufblitzen und legt evolutionärer Asymmetrien bloß. Als meisterlicher Seismograf existenzieller Erschütterungen erzählt Weigoni diese Liebes- und Untergangsgeschichte mit leichter Hand, sprachspielerisch, ironisch und doch kunstvoll. Und nicht einmal das, was an der deutschen Geschichte so bleischwer ist, kommt in diesem Roman so daher.

Kommunismus ist Faulenzerei plus Vielweiberei

Aus der Konstruktion der Geschichte wird eine Geschichte der Rekonstruktion. Es gehört zu den Paradoxien der Gesellschaftskritik, daß sie in spürbarer Retromanie jener vorglobalisierten Bundesrepublik hinterher trauert, die sich doch selbst mit derselben Betroffenheitsrhetorik soziale Kälte, Umweltverschmutzung und kapitalistischen Wildwuchs vorwarf. Wer Geschichte zum Zwecke politischer Bildung – und das heißt: der Schärfung politischer Urteilskraft – betreiben will, muß sich klarmachen, daß konsequente Historisierung eine Vorbedingung dafür ist, die Verführungskraft von Ideologien richtig einzuschätzen. Alles ist auf eine ästhetische Wirkung angelegt, doch es besteht bei einer solchen Inszenierung immer die Gefahr, daß eintritt, was Walter Benjamin „Anästhetisierung“ genannt hat, daß vor lauter Selbstinszenierung allmählich das politische Ziel aus dem Blick gerät. In der Rückschau auf 1989 haben sich die Illusionen der postbourgeoisen Arrieregarde jener Jahre in ihre Köpfe einzementiert. Der Sozialismus, so geht die Legende, bestand hauptsächlich aus fröhlichem Jugendleben. Häßliche Hosen, aber gewagten Dissidentenpartys. Wenig Freiheit, aber viel Sex. Wo die Liebe in die Krise gerät, gerät die ganze Welt an den Rand des Abgrunds. Und umkehrt. Weigoni hat eine Sprache für etwas gefunden hat, was sprachlos macht.

Alternative aller Systeme! Widerlegt Euch gegenseitig Eure Illusionen!

Im Ringen um eine gesellschaftlich relevante Kunst und bei der Suche nach einer Vermittlung von ästhetischer und politischer Wahrheit deckt Weigoni die Widersprüche der 1989er-Generation auf, Widersprüche, die nicht zu vermitteln sind. Seine Form-, Struktur- und Sprachexperimente sind nie nur Spiel; sie sind der Versuch eine erzählerische Heimat zu schaffen. In Abgeschlossenes Sammelgebiet macht dieser Romancier das Verhalten von Individuen zum Staat zu einer ganz individuellen Frage macht. Nur sie selbst können entscheiden, wie viel Idealismus sie aushalten können. Erinnerungen sind dabei fantasieanfällig, und ein Großteil des Lebens ist somit ausgedacht. Diese Vorurteile müssen aufgesprengt, sie müssen einer geschärften Sensibilität der historischen Wahrnehmung weichen, wenn wir die Realität jener „Wende“ durchdringen wollen, von der wir damals fürchteten, daß sie die zweite “zwischen den Kriegen” sein könnte. Die Klischees, die seit Jahren in Umlauf sind – von einem Buch ins nächste verschleppt, von einem Feuilleton in zehn andere multipliziert, verkleben uns den Blick. Die Wirklichkeit ist komplizierter: Der neue Mensch ist der alte. Nichts bleibt von jenen anmaßenden, verblendeten Versuchen, einen neuen Menschen und eine neue Gesellschaft zu schaffen, wie sie dem Sozialismus vorschwebten.

Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.

Jean Paul

Wie funktioniert unsere Erinnerung? Welche Faktoren bestimmen, was uns im Gedächtnis bleibt und was dem Vergessen anheimfällt? Können wir unseren Interpretationen der Geschehnisse wirklich trauen? Diese Fragen führen ins Zentrum des Romans Abgeschlossenes Sammelgebiet. Hegel bemerkte, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen sich zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Das größte Geheimnis der Literatur ist ihr Verhältnis zur Zeit. Sie kann ein ganzes Leben, einen ganzen Krieg, eine ganze Ära in einen Roman drängen, in einen langen vielleicht, der doch aber in ein paar Wochen ausgelesen ist. Dieser Roman spielt in der Zeit zwischen dem 9. November 1989 und dem 18. März 1990. Historisches Erzählen ist nur eingeschränkt frei, bedingt durch geschichtliche Wirklichkeit, im Fall der deutschen Katastrophen vor allem aber moralisch bedrängt. Im Konsens über den Epochenbruch findet die Gegenwart ihr neues krisenfestes und stolzes Epochengefühl.

Aus der Not wird eine Tugend gemacht und der Mangel zur (ästhetischen) Norm erhoben.

Gregor Ohlerich

Die Hauptfigur Moritz ähnelt in gewisser Weise Melchior Sternfels von Fuchshaim, dem Heldem in Grimmelshausen Simplicissimus, er stolpert von einem Unheil ins nächste. Atemlos folgt man den Verwicklungen und aberwitzigen Verwinkelungen, den Verlusten und dann wieder fast zu fantastischen Glücksfällen dieses rastlosen Lebens. In Abgeschlossenes Sammelgebiet ist alles literarische Erfindung, aber eine der glaubwürdigsten, schrecklichsten und wundervollsten. Weigoni weiß genau, wie er verzögert oder beschleunigt und wovon er schweigt. Seine Moral ist die Fortführung der Erzählung mit anderen Mitteln; sein Humor ist urteilslose Vollstreckung. Mit knappen Wendungen stößt er Assoziationsketten an und erzählt fast süffig von Identität und Liebe, Vergeblichkeit und Verwandlung. Die Beziehungsmatrix zwischen Charlotte, Jane und Moritz ist gekennzeichnet durch Aggregatzustände der Flüchtigkeit. Sie können sich wie gleichnamige magnetische Pole nur kurfristige nahe kommen. Und stoßen sich sogleich wieder ab. Die Wahrheiten in diesem Buch sind unendlich viel zahlreicher als die Irrtümer, der Mut ist viel größer, als es die Dummheiten und Fehler sind. Aber die Verbindung von beidem macht es zu einem wahrhaftigen, beeindruckenden Dokument über die Kämpfe in den Jahren der so genannten Wende. Literatur wird zu einem Passierschein in eine Möglichkeitswelt.

Hierzulande oder Andernorts

“Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man allmählich zu schweigen aufhören”, schrieb Christa Wolf, eine Wittgenstein-Formulierung erweiternd, in ihrem Buch Kindheitsmuster. Die Nachwende ist noch so gedankenwarm, daß man auf literaturordnende Maßnahmen und summierende Bilanzen verzichten kann. Dieser Romancier löst das Versprechen auf Gegenwartserkenntnis ein. Weigoni schärft das ästhetisches Profil wie zugleich das zeitdiagnostische Potenzial und ist dem Bewusstseinsstand der Gegenwart gewachsen, ihm gelingt mit dieser Prosa ein lebensnahes Verfahren, das zweifellos zu den begrüßenswerteren Einflüssen seit dem New Journalism und der Popliteratur gehört. Neutrales Berichten ist eine Fiktion. Beobachter haben Meinungen, die selbstverständlich das beeinflussen, was sie wie beobachten. Reportagen machen sich diese Subjektivität zunutze, der Leser soll durch die Augen des Reporters auf das Geschehen blicken. Zum Thema aber machen sich Reportagen diese Einflüsse meist nicht: Der Berichtende bleibt entrückt und im Dunkel, das Ich ist verpönt. Weigonis Schreiben ist immer auch ein Sichreiben. Diese Literatur ist der Geschichtserkenntnis dienlich und entfernt sich aus dem sanitären Kordon des Epochalen und Fortschrittlichen mit einer überfälligen Weltzuwendung. In seinem Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet verpflichtet sich Weigoni der aufklärerischen bildungsbürgerlichen Tradition und ist gleichzeitig offen für das Neue. Er lotet die Untiefen zwischen Rollenspiel und Bekenntniszwang aus, seine Kritik stellt sich als intellektuelles Denkmodell dar und das mit dem Bewusstsein daß der ästhetische Bewertungsmaßstab mittlerweile in Misskredit geraten ist. Der Begriff Kritik stammt vom altgriechischen Wort „kritike“ ab und bedeutet „Beurteilungskunst“, die über das Aufzeigen von Schwächen und Fehlern weit hinausweist. Die Analyse der so genannten Wiedervereinigung schließt immer auch das Erkenntnisinteresse des Prüfers mit ein, das Bedingungen, Voraussetzungen und Grenzen festlegt. Weigoni verfügt über Takt- und Temposicherheit und einen Tonfall aus Schnoddrigkeit und Ironie, mit dem er, buchstäblich en passant, ein anschauliches Bild des Prenzlauer Berges und der Düsseldorfer Kunstakademie-Szene liefert. Er beschreibt eine Zeit in der Bildung in der Gesellschaft immer mehr schwindet und hedonistische Geschmacksurteile das differenzierte Bewerten ersetzen.

Archäologische Bruchstücke, sorgsam gereinigt

Den Titel Abgeschlossenes Sammelgebiet hat sich Weigoni bei den Philatelisten geborgt. Mit dem Erscheinen der ersten gesamtdeutschen Briefmarke beginnt die sorgsame Reinigung der archäologischen Bruchstücke. Aus diesen Fragmenten rekonstruiert der Romancier eine Gesellschaft in Aufbruch und Unruhe. Die konsequent durchgehaltenen Poetik der sinnlicher Unmittelbarkeit ist erkenntnisreich und diese Erkenntnis liegt indes im Anschaulichen. Seine Ironie zielt in die Richtung einer Wirklichkeit, in der man sich lächerlich leicht verblenden läßt und ein eigener Weg möglich ist, auch wenn sie die Jugend als besonders klug, das Alter als weise, der Massengeschmack als besonders bunt tarnt. Mit der Leichtigkeit des Episodischen entwirft Weigoni ein luftiges Zeitmosaik, in dem Kurioses und Kühnes neben wegweisender Modernität und ärmlicher Verschränkung erscheint. Bisweilen geraten die Dinge zu ernst, um als bloß Anekdotisches durchzugehen. Man muss seine reich komponierte Prosa wirken lassen, beiseite legen und noch einmal von vorn anfangen. Danach weiß man besser, was diese Zeit der kulturellen Blüte war und was daraus wurde. Man kann sich diese Weisheiten natürlich ersparen, dann entgeht einem aber ein virtuoses Sprachkunstwerk – und ein bitteres Gedankenexperiment. Brillanter kann Verzweiflung nicht sein. Lesen und Nichtlesen sind ebenfalls Zwillingsschrecken. Eine solche Literatur jenseits der Moden und des Spektakulären verlangt den Pakt mit dem Leser; wer ihn eingeht, begegnet einer Erzählkunst, die der Beschwörungskraft der Worte vertraut.

Rebellen brauchen immer keinen Grund

Erzählkunst stellt nichts dar und bildet nichts ab, vielmehr stellt sie, mit Niklas Luhmann, ein „unwahrscheinliches Formenarrangement“ in den Raum, ein semantisches Arsenal, karnevalesk und nahe an dem Mutwillen, aus dem die Träume ihren Schabernack mit uns treiben. An die Stelle der Staatsräson als Paradigma des Politischen ist mit der Französischen Revolution Rousseaus volonté générale getreten – und mit ihr die Idee der Volkssouveränität. Damit stellte sich die Frage, wie sich aus einer Vielzahl von Menschen eine homogene Einheit bildet oder bilden läßt, ein direkter Weg von Individuum ins Zwangskollektiv. Jurek Becker hat einmal behauptet, in der DDR sei der Mensch in seinem Widerspruch nicht zugelassen gewesen. Wer diesen moralisch und politisch tilgen will, richtet auf allen Ebenen Unheil an. Wer die Menschen nach seinem Bild zu formen versucht, bringt zwangsläufig Ungeheuer und Verderben hervor. Rousseau sagt: Man soll die Gesetze so machen, wie sie sein sollen und die Menschen so nehmen, wie sie sind. Das einzige jedoch, was die Menschen besser machen kann, ist die Schaffung gerechterer Lebensverhältnisse, in denen sie besser leben könnten. Die Erfahrung, nur noch durch Zufall am Leben zu sein, durchzieht Weigonis Werk; die Lebensentwürfe seiner Hauptfiguren werden in seiner Prosa als stets gefährdete Experimente des Lebens beschrieben. Es ist die von jeder Fiktion und Illusion entschlackte, in inkohärenten Bilderfetzen erfaßte Seele der Deutschen Nation, deren tödlichster Exzess die Inkohärenz selbst geworden ist.

Die Beweglichkeit des freien Denkens

Weigoni zählt zu den Schriftstellern, die sich über mehrere Häutungen und auch schmerzhafte Verwandlungen durchringen zum Eigenen. Es steckt ein Fatalismus in diesem Roman, den man nur zärtlich nennen kann. Seine Prosa zeichnet sie sich durch einen lakonischen Stil, eine ausgeprägte Sensibilität für Atmosphären und psychosoziale Konstellationen aus. Er erweist sich als Feinmechaniker der Gefühle und hat das Talent, ohne jede Peinlichkeit Erotik, Rausch und zarte wie abgründige Gefühle zu schildern, indem sie schonungslos und präzise hinschaut, sich phänomenologisch nähert und genau die richtigen Oberflächendetails beschreibt. Dieser Romancier sammelt Geschichten ein, arrangiert sie mit der Präzision eines Uhrwerks zueinander, bewahrt sie in der Konstruktion des Textes vor jedem Kitschverdacht und gibt ihnen doch ausreichend Raum zur emotionalen Entfaltung. Wenn man von Liebe als einem universellen Gefühl spricht, so meint jeder etwas anderes. So alt wie die Menschheit, so neu ist sie für jeden und jedes Mal wieder, denn alles, was zählt, ist ihr Augenblick. Wie wir sie kennen, als Selbstvergewisserung im Blick des anderen, ist sie eine Erfindung des 18. Jahrhunderts – und möglicherweise schon bald ein Fall fürs Museum. Im Geiste Lichtenbergs gelingt es Weigoni, Wissen, Erfahrungen und Ahnungen zu luziden Gebilden zu schürzen. Als notorisch Schweifsüchtiger berückt er durch melancholische Eleganz. Er widersteht der Versuchung im Nachhinein eine heldische Stasi-Geschichte zu erzählen und kommt den Charakterbildern und ihren Deformationen subtiler auf die Spur. Mit dem Verzicht auf das große Gesellschaftspanorama und mit der Konzentration auf die Figuren erweist sich, wie politisch das Private aufgeladen war. Das Politische wird bewußt auf eine psychologische, private Ebene gebracht. So passiert es, daß dem Leser eine entscheidende Frage gestellt wird: Was hat uns zu dem gemacht, was wir sind?

Forcierte Beziehungsdramatik