Unüberwindlichkeit des Deutschseins

Blicken wir aus gegebenem Anlaß einige Jahrestage zurück:

In exakt 366 Tageseinträgen vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 wird das Leben der Gesine Cresspahl erzählt, im Rückblick auch das ihrer Familie. Die alleinerziehende Mutter ist aus der DDR über Düsseldorf (!) nach New York City geflüchtet. Sie wünscht sich einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz, wie ihn die Aktivisten des Prager Frühlings unter der Führung von Alexander Dubček ansgetrebt hatten. Der Roman endet mit einem Tagebucheintrag am 20. August 1968; dem Tag der gewaltsamen Niederschlagung der Bewegung durch die Truppen des Warschauer Pakts.

 

Jahrestage ist die tröstliche Utopie, dass auch die rücksichtsloseste Diktatur nicht die Seelen ihrer Opfer zu beherrschen vermöge.

Joachim Kaiser

A. J. Weigonis Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet erinnert in der Art seiner Montage an die Jahrestage von Uwe Johnson. Der Titel Jahrestage verweist nicht auf eine Liste der Gedenktage oder auf den Zeitraum von 366 Tagen, sondern bedeutet auch, daß jeder gelebte Tag einem Jahrestag gleicht, ein Anlaß, sich die unbewältigten Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Dieser Vorgang liegt jedoch nicht allein im Belieben des Subjekts, er ist immer verbunden mit dem kollektiv Unbewußten. Die Prosa dieser Schriftsteller kennzeichnet eine Wirklichkeitsbeschreibung, die immer wieder nach Gegendarstellungen verlangt, nach neuen Perspektiven, egal welche Ideologien gerade vorherrschen. Sprachlich erinnert Abgeschlossenes Sammelgebiet in vielerlei Hinsicht an die Jahrestage, nur ist der an die gehetzte Radiosprache und an abrupte Videoschnittmuster angelegte Stil moderner, fetziger und zum Teil drastischer, aber in ähnlicher Weise stark von Ironie und Selbstironie geprägt, die allerdings durch die Erfahrungen der deutschen Geschichte seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten und der kommunistischen Diktatur der DDR nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen zartbitteren Charakter bekommen hat.

„Manhattan makes it, Brooklyn takes it“

Uwe Johnson und A.J. Weigoni sind Heimatvertriebene. Wärend ersterer mit Mutter und Schwester nach Güstrow in Mecklenburg fliehen, kam die Familie von Weigoni aus Ungarn. Beide wählen für ihren Romane New York als Fluchtpunkt. Während sich in des Jahrestagen die Handlungsebenen New York zwischen und Deutschland bewegen, flüchtet die Filmemacherin Sabine von Kreuzberg nach Manhattan. Gesine Cresspahl will in dieser Stadt dem „Mangel an Vorfreude auf die Zukunft“ entkommen und ein „Lebensrecht behalten“. Sie wohnte in jenem Appartement 204 im Riverside Drive 243. „Für wenn ich tot bin“ erzählt Gesine Cresspahl dort ihrer Tochter Marie die ganze Geschichte in ihren Verzweigungen, Überlappungen und Parallelitäten vom amerikanischen Bombardement vietnamesischer Brücken bis zu den mäandernden Flüssen, Seen, Küsten Mecklenburgs. Sabine verschlägt es in einen anderen Stadtteil: „Sie schreitet durch Brooklyn als stolze Stehauffrau, als Jeanne d’Arc eines prekären, dafür selbst gezimmerten Daseins.“

Die Erinnerung an Gelesenes ist nicht zuverlässig. Sie ist selektiv, viele Figuren, Schauplätze oder Handlungsdetails literarischer Werke schwinden nach und nach aus dem Gedächtnis.

Anke-Marie Lohmeier

Es werden hier wie dort in sehr eingehender Weise die Alltagsdialoge und die Alltagssprache der Akteure wiedergegeben. Die sprachliche Polyphonie ist in Abgeschlossenes Sammelgebiet fast noch ausgeprägter als in Jahrestage. Selbstverständlich sind beide Romane auf Hochdeutsch verfasst, aber mit vielen Einblendungen auf Niederdeutsch, Englisch, Dänisch, Russisch und Tschechisch. Zusätzlich enthalten beide Werke einige Eigenwilligkeiten in Sprache und Grammatik, die weder der alten noch der neuen deutschen Rechtschreibung entsprechen, sondern zu den Markenzeichen des jeweiligen Schriftstellers gehören. Gerade weil sich Johnson und Weigoni abseits der offiziellen Regeln stehend wähnen, wirken sie, jeder auf seine ganz spezielle Art und Weise sprachprägend. Ein typisches Beispiel für Weigonis kapriziösen Satzbau ist das Schreiben im Groove. Johnsons Stil ist durch die Relativierung des auktorialen Erzählers sowie eine parataktische Reihung von Hauptsätzen gekennzeichnet. Charakteristisch ist auch eine Polyphonie der Stimmen, etwa in dänischen und englischen Einsprengseln im Roman Jahrestage. In Weigonis Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet finden sich für den Kenner der Zeitgeschichte Realitätspartikel aus Pop, Stasiprotokollen und O-Töne aus der veröffentlichten Meinung, die organisch in die Prosa implantiert worden ist.

Fiktion und Fakten bilden keine Gegensätze.

Susan Sontag

Das Zitat der amerikanischen Essayistin mag zu Beginn des 21. Jahrhunderts nach weichgezeichneter Weltsicht klingen, doch für A.J. Weigoni, den Satiriker der deutschen Gegenwartsliteratur, ist es selbstverständlich Realitätsfragmente so zu montieren und zu verdichten, daß Poesie dabei herauskommt. Ähnlich wie Johnson in Jahrestage hat Weigoni zu einem nichtpropagandistischen Sprechen gefunden, zu einer Erinnerungs- und Beschreibungssprache, die sich abhebt von dem, was man sonst und auch leider zu oft über die sogenannte Wiedervereinigung lesen mußte. Als hellsichtiger Einzelgänger misstraut Weigoni allen Doktrinen – auch denen der Avantgarde – er will Spielräume eröffnen. Zwischen November 1989 und März 1990 verdichtet sich die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Die Erkenntnis, die sich hinter den Erfahrungen verbirgt, lautet: „Nichts ist sicher“! Daher gibt es auch im Schreiben keine Sicherheit. Die Rückkehr in eine erlöste Heimat bedeutet nicht notwendigerweise auch die Heimkehr in ein stabiles Glück. Nach Uwe Johnson hat die deutsche Literatur in Weigoni wieder einen starken, glaubhaften, mitreißenden, suggestiven Erzähler.

In den Jahrestagen entfaltet Uwe Johnson ein einzigartiges Panorama deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert – eine Lese-Weltreise.

Reinhard Baumgart

Bislang gilt Uwe Johnson als meistverbreitetes Mißverständnis, als der Dichter der beiden Deutschlands. Doch diese Bezeichnung war ihm sehr unangenehm, wie er 1979 in den Frankfurter Vorlesungen in seinem Essay Begleitumstände unwisch ausführte:

Peinlich ist in solcher Nachrede die Vermutung wahrzunehmen, ich befasse mich mit den für mich vorliegenden ›beiden Deutschland‹, weil die Mehrzahl mich verstimmt und ich einen Singular vorziehe in einer Wieder–Vereinigung.

Analog zu Jahrestage illustriert auch Weigoni in seinem Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet keine These, er schafft eine Wirklichkeit konsequent vom ersten bis zum letzten Bild zu durchdringen und ihre Widersprüche aufzuzeigen, zeigt auf, wie sich einzelne Menschen inmitten geschichtlicher Umbrüche verhalten. Johnson arbeitete an  Jahrestage vom 29. Januar 1968 bis 17. April 1983, allerdings mit einer jahrelangen Unterbrechung. Die ersten drei Bände erschienen 1970, 1971 bzw. 1973 im Suhrkamp Verlag, der dritte Band folgte erst 1983. Weigoni begann bereits in der Nacht des 9. November nach durchwachter Nacht mit Aufzeichnungen und einer O-Ton-Dokumentation auf VHS-Video und Cassettenrecorder. Auch dieser Romancier benötigte Pausen und einen Sicherheitsabstand zu seinem Material, er beendete die Arbeit mit Unterstützung seiner Lektorin Conny Nordhoff und des Kollegen Holger Benkel im Juli 2014, damit das Buch pünktlich zum 13. August 2014 erscheinen konnte.

Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!

Der Bau der Berliner Mauer durch die DDR, beginnen am 13. August 1961 fand unter Walter Ulbrichts politischer Verantwortung statt, nachdem er als Ergebnis harter Verhandlungen die Moskauer Staatsführung von der Notwendigkeit ihres Baues aus Sicht der DDR-Regierung (wegen der damaligen Abwanderung der gut Ausgebildeten und der Elite, dem so genannten „Ausbluten“) überzeugt hatte.

Zunächst hatte der Staatsratsvorsitzende der Deutschen Demokratischen Republik sich auf einer Pressekonferenz am 15. Juni 1961 bemüht, derartige Absichten öffentlich zu dementieren, auch indem er auf die Frage der  Journalistin Annamarie Doherr von der Frankfurter Rundschau einging:

„Ich möchte eine Zusatzfrage stellen… bedeutet die Bildung einer freien Stadt Ihrer Meinung nach, dass die Staatsgrenze am Brandenburger Tor errichtet wird? Und sind Sie entschlossen, dieser Tatsache mit allen Konsequenzen Rechnung zu tragen?“

Darauf schwurbelte Walter Ulbricht: Ich verstehe Ihre Frage so, dass es Menschen in Westdeutschland gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR mobilisieren, um eine Mauer aufzurichten, ja? Äh, mir ist nicht bekannt, dass solche Absicht besteht, da sich die Bauarbeiter in der Hauptstadt hauptsächlich mit Wohnungsbau beschäftigen, und ihre Arbeitskraft dafür voll ausgenutzt wird, voll eingesetzt wird. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!

Obwohl der SED-Chef nicht speziell nach der Art der Abriegelungsmaßnahmen gefragt wurde, war Ulbricht selbst damit der erste, der den Begriff Mauer diesbezüglich in den Raum gestellt hat. Ob er dies aus einer Unachtsamkeit heraus oder mit Absicht tat, konnte nie abschließend geklärt werden. Zwei Monate später, am Sonntag, den 13. August 1961, begannen nachts gegen 1:oo Uhr Streitkräfte der DDR, die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin sowie der zwischen West-Berlin und der DDR auf ihrer vollen Länge (dies sind nahezu 170 Kilometer) praktisch lückenlos und zur gleichen Zeit mit einem gewaltigen Aufwand an Menschen und Material abzuriegeln, Sperranlagen zu errichten und einen Staat damit quasi zu einem Gefängnis zu machen.

Hier ist er also, der große Zeitroman für Marchel Reich-Ranicki.
Wend Kässens über Abgeschlossenes Sammelgebiet

Was wir sowohl in Jahrestage als auch in Abgeschlossenes Sammelgebiet lesen, ist gegenüber der Realität zweifach gebrochen: zuerst durch die subjektive Erinnerung der Hautfiguren, dann durch die Überschreibung des jeweiligen Romanciers. Nachrichten und Erinnerungen, Gesprochenes, Gedachtes und Geschriebenes fügen sich zu einem Pasticcio zusammen. Die Mauer ist in Jahrestage und in Abgeschlossenes Sammelgebiet eine Metapher für den Kollektivwahn, der in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zum Ausbruch kommt.

Die Implosion hallt in der Prosa nach.

 

 

***

Jahrestage 1–4 – Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, von Uwe Johnson, Seit 2013 bei Suhrkamp in neuer Ausstattung als TB.

Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2014 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover

Postwertzeichen aus dem Jahr 1969, abgestempelt am 9. November 1989

Weiterführend → Zur historischen Abfolge, eine Einführung. Eine Rezension von Jo Weiß findet sich hier. Einen Essay von Regine Müller lesen Sie hier. Beim vordenker entdeckt Constanze Schmidt in diesem Roman einen Dreiklang. Auf der vom Netz gegangenen Fixpoetry arbeitet Margretha Schnarhelt einen Vergleich zwischen A.J. Weigoni und Haruki Murakami heraus. Eine weitere Parallele zu Jahrestage von Uwe Johnson wird hier gezogen. Die Dualität des Erscheinens mit Lutz Seilers “Kruso” wird hier thematisiert. In der Neuen Rheinischen Zeitung würdigt Karl Feldkamp wie A.J. Weigoni in seinem ersten Roman den Leser zu Hochgenuss verführt.