rheinische lebensformen

Das Rheinland, ein Kosmos der skurrilen Nebenfiguren

a.j. weigoni betrachtet in seinem roman Lokalhelden, der im jahrzehnt vor der jahrtausendwende im »Landeshauptdorf«, also düsseldorf, spielt, vor allem in der »Alkstadt«, die rheinländer im »Weltdorf«, und damit die globale provinz, ironisch und sarkastisch: »Dieses Dorf ist für das Neurosenbürgertum gross genug, um nicht langweilig zu sein; und klein genug, um nicht darin umzukommen.«, »Die negativste Eigenschaft des Rheinländers ist, dass er sich so positiv vorkommt.«, »Niemand lässt sich im Rheinland von seinem Unglück abhalten. Alle sind freiwillig hier.«

der autor relativiert in diesem buch, das er eine »ruppige Liebeserklärung« nennt, ein bürgerliches bild vom rheinland. seine figuren sind sozial und kulturell durchaus verschieden geprägt. rheinländer, denen das rheinland hochkultur verkörpert, würden einem satz wie »Die meisten Menschen im Rheinland sind unverbesserlich, sie machen immer die gleichen Fehler und besitzen nicht die saturierte Möglichkeit, das Leben mit Kultur zu verfeinern.« sicher widersprechen. die heutigen folkloristischen identitätskämpfe zwischen linksrhein und rechtsrhein kultivieren, trotz vorhandener historisch gewachsener unterschiede, freilich eher vorurteile.

und es gibt ja auch viele übereinstimmungen in der rheinischen mentalität, die permanent konventionen im detail unterwandert. »Originalität entsteht im Rheinland nicht aus sich selbst, sondern in Abweichung vom Modell, in seiner zitierenden Überschreibung.« und »Im Rheinland lebt man eine Mischung aus Sehnsucht, Ironie, doppelbödigem Grössenwahn und Witz.« immer wieder wird auf den spielerischen umgang mit freuden und lasten des lebens hingewiesen. »Die Rheinländer nutzen Sprache nicht, um etwas mitzuteilen, sie erzählen von der Illusion der eigenen Wirklichkeit.« und »Möglicherweise existiert das Rheinland nicht wirklich; ist diese Region eine Halluzination, geboren im Rausch.« in einem gespräch zitierte der autor albert camus: »Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können − der Humor über das, was sie sind.«

weigoni, der bemerkt, man erfahre »an den Rändern einer Gesellschaft mehr über ihren Zustand als in ihrem Zentrum.«, betrachtet realitäten aus der perspektive derjenigen, die verhältnisse überwiegend als objekt erleben und sich ihre subjektivität erst erkämpfen und erarbeiten müssen, also von unten. so erkundet er den »Bodensatz des Rheinlands«, das randständige und absonderliche, und darin das wesentliche im vermeintlich nebensächlichen. edgar allan poe vermerkte: »Erfahrung hat gezeigt, dass ein großer, vielleicht der größere Teil der Wahrheit aus dem scheinbar Unwichtigen geschöpft wird.« und »dass gerade die Absonderlichkeiten es sind, die der Vernunft auf ihrer Suche nach der Wahrheit die beste Handhabe bieten.«

Lokalhelden schildert die vielfalt entfremdeter lebensformen in einer welt, die äußerlichkeiten, masken, kostüme und etiketten häufig mehr schätzt als innere werte, inhalte, haltungen und fähigkeiten. hat der wirtschaftliche sieg des bürgertums zu einem verfall der bürgerlichen werte geführt? viele der figuren, von denen dieser roman vor allem handelt, wollen zwar individuell sein, folgen aber letztlich nur verschiedenen facetten des zeitgeistes, die sie für ihre selbstvermarktung nutzen, und sind so, obwohl nicht selten, gewollt oder unfreiwillig, außenseiter, oft bloß postmodern und kleinbürgerlich systemkonform.

man begegnet künstlern, etwa musikern unterschiedlicher stilrichtungen, mitarbeitern des kulturbetriebs, regionalpolitikern, journalisten, restaurantbetreibern, fußball-fans, kleinkriminellen, haftentlassenen, geheilten drogenabhängigen. sogar ein polizeichef taucht auf. hinzu kommen intellektuelle, die ihre meist wirkungslos kritischen weltsichten verkünden. die dialoge dieser »Schwadrosophen« erinnern bisweilen an die bemerkung lichtenbergs »Ein großes Licht war der Mann eben nicht, aber ein großer Leuchter … Er war Professor der Philosophie.« in der bürgerlichen welt ist die folgenlosigkeit der kunst und literatur, und damit die entfremdung der künstler und schriftsteller gegenüber der gesellschaft, die voraussetzung ihrer freiheit und autonomie.

all diese gestalten des tages und der nacht führen sich in diesem roman mit ihren handlungen, wie die sprechenden figuren mit ihren worten, selber vor, wodurch psychogramme entstehen. gruppen der jugendkultur werden geradezu ethnologisch beschrieben, besonders randgruppen, bis hin zu antirassistischen skinheads. wiederholt spielt der fußball eine rolle. »Sport ist erst Sport, wenn Resultate in Zahlen zerlegt werden, und addiert eine Statistik ergeben. Es gehört zu den deutschen Tugenden, die Dinge vom Ergebnis her zu betrachten.« was bräuchte man, wenns den fußball nicht gäbe? vielleicht hahnenkämpfe oder kampfhunde. damit verglichen ist fußball immer noch die kultiviertere variante.

auch gibt der roman einblicke in die kriminalität düsseldorfs, die offenbar metropolenniveau hat. wo kriminelle besonders aktiv sind, ist urbaner lebensraum. hierzu fällt einem wiederum lichtenberg ein: »Die Linien der Humanität und der Urbanität fallen nicht zusammen.« statistiken belegen, je größer die einwohnerschaft einer stadt, umso höher wird die kriminalität pro kopf der bevölkerung. einbrüche und diebstähle gelten inzwischen sowieso als kavaliersdelikte und werden kaum noch aufgeklärt.

die meisten szenen und dialoge, und nicht selten monologe, von »Lokalhelden« spielen tatsächlich in lokalen, vor allem der düsseldorfer innenstadt, einige indes auch an der frischen luft. ebenso begegnen sich sonst getrennte menschengruppen in der straßenbahn, die einst lokomobile hieß, also fahrender raum, oder bewegter ort. überdies erfährt der leser manches aus der geschichte der populären musik, der gastronomie, von brauereien und biersorten und der kunst des bierbrauens sowie kulinarischer spezialitäten und ihrer zubereitung am rhein. das cover-bild zeigt ein gefülltes »Alt«-bierglas.

weigoni ist ein autor der verknappungen und der roman in einem skeptischen tonfall geschrieben. »Viele Worte zu machen, um wenige Gedanken mitzuteilen, ist allüberall ein untrügliches Zeichen von Mittelmäßigkeit.« die meisten figuren sprechen umgangssprachlich, dialekt und jargon inbegriffen. so liest, oder hört, man in diesem buch etliche wortprägungen regionaler herkunft sowie der szenesprache. gleich am anfang tauchen worte auf wie »Gesichtsbaracke« oder »Mürbekuchenantlitz«. michel der montaigne vermerkte: »Ich wünschte, ich benutzte nur solche Worte, die auch in den Markthallen zu Paris gebräuchlich sind!« aufgrund der dialektanklänge las ich mitunter auch hochdeutsche passagen im rheinischen tonfall. das unverhohlene und zugleich mehrdeutig andeutungsvolle umgangssprachliche reden, das zahlreiche sprachliche verfremdungen verwendet und erfindet, ließ mich ans berlinische denken. daß im rheinland »wohlkalkulierte Pöbeleien gerade wegen ihrer Unbestimmtheit wirken.«, heißt es.

eine vorbemerkung lautet: »Die deutsche Rechtschreibung (gemäss Dudenredaktion) konnte auf diesen Heimatroman nur bedingt angewendet werden, weil diese Schreibweisen den Figuren den Atem geraubt hätten.« lichtenberg meinte: »Es gibt eine wahre und eine förmliche Orthographie.« nicht untypisch für weigonis kommentierenden schreibstil, der sprache gleichermaßen ernsthaft und persiflierend nutzt, ist ein satz wie: »Die Rheinländer sind nicht von vornherein einverstanden mit der Gesamtsituation, sie changieren zwischen schlechter Laune und spätjuveniler Verzweiflung, plus autoerregter Adoleszensaggression und tuberkulösem Ganzkörperseufzen, Weltschmerz und Weltekel; dabei geht es ihnen weniger um das grosse Ganze als um das kaputte Kleine.«

Lokalhelden ist ein buch der desillusionierungen. der roman betont einerseits rheinische eigenheiten, hat aber zugleich die deutsche gesellschaft insgesamt im blick, die er analytisch beschreibt. wo weigoni rheinland und rheinländer sagt, meint er vielfach die verhältnisse und verhaltensweisen der menschen der gegenwärtigen epoche. »Aus Untertanen wurden Bürger, die zu Kunden mutierten, denen mit der Kommerzialisierung des öffentlichen Lebens auch die Würde abhanden kam.«, »Die Katastrophe wird negiert, um einer Gesellschaft die Möglichkeit zu geben, selbst zu überleben.« und »Der Sozialstaat ist keine Wohltat, sondern Abschlagzahlung dafür, dass der Bürgerkrieg unterbleibt.« da muß man hoffen, daß die verantwortlichen dies immer noch wissen. schließlich haben die folgen sozialen elends zu kriegen und völkermorden geführt.

der autor konstatiert: »Etwas ist verloren gegangen, eine Instanz im Menschen, welche nicht nur materiell, sondern auch moralisch wertet, die den Wert kennt und nicht den Preis.«, »Im Zeitalter des Authentizitätswahns wird Empörung inszeniert.«, »An der Front der Frustrierten treffen sich jene Modernitätsverlierer, für die das Verlieren zur zweiten Natur geworden ist.«, und »Aggressivität scheint die letzte Form übriggebliebener Freiheit zu sein, eine Notwehr von Antriebslosen.«

giorgio agamben schrieb in »Kindheit und Geschichte / Zerstörung der Erfahrung und Ursprung der Geschichte« über den mangel an verinnerlichten existentiellen erfahrungen beim modernen menschen: »Heute aber wissen wir, daß es zur Zerstörung der Erfahrung keinerlei Katastrophe bedarf und daß die friedliche Alltagsexistenz in einer Großstadt zu diesem Zweck vollkommen genügt.« und: »Der zeitgenössische Mensch kehrt abends nach Hause zurück und ist völlig erschöpft von dem Wirrwarr von Erlebnissen − unterhaltenden oder langweiligen, ungewöhnlichen oder gewöhnlichen, furchtbaren oder erfreulichen −, ohne daß auch nur eines davon zu Erfahrung geworden wäre.«

das größte denkhindernis ist das leben selbst. menschen sind perfekt darin, realitäten für sich auszunutzen, die sie nicht verstehen wollen. sobald sie lebensinteressen haben, halten sie für richtig, was sie sofort ablehnen würden, wenn es außerhalb ihres lebens geschähe. der mensch im allgemeinen hat nichts gegen unrecht. er will nur selber nicht darunter leiden und möglichst noch davon profitieren, am besten, indem die unrechtshandlungen in unpersönliche strukturen ausgelagert werden. was aber, wenn sich herausstellt, daß gesellschaftliches unrecht nicht nur dem aktuellen entwicklungsstand der menschheit entspricht, sondern sogar der genetischen prädisposition des menschen? man müßte also, wenn man eine humane gesellschaft erreichen wollte, den menschen an sich verändern, was unweigerlich zu neuen deformationen führen würde. gegen diese pessimistischen aussichten sei walter benjamin zitiert:

Menschen als Spezies stehen zwar seit Jahrtausenden am Ende ihrer Entwicklung; Menschheit als Spezies aber steht an deren Anfang.

dies ist natürlich sehr idealistisch gedacht. einige jahrtausende werden wohl noch vergehen, ehe eine humane menschheit entsteht. einstweilen wird man sich mit lokalen humanitätsinseln begnügen müssen.

 

 

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Zur Subscription freigegeben: Lokalhelden, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.

Coverphoto: Jo Lurk

Weiterführend →

Lesenswert das Nachwort von Peter Meilchen sowie eine bundesdeutsche Sondierung von Enrik Lauer. Ein Lektoratsgutachten von Holger Benkel und ein Blick in das Pre-Master von Betty Davis. Die Brauereifachfrau Martina Haimerl liefert Hintergrundmaterial. Ein Kollegengespräch mit Ulrich Bergmann, bei dem Weigoni sein Recherchematerial ausbreitet. Constanze Schmidt über die Ethnographie des Rheinlands. René Desor mit einer Außensicht auf die Bonner Republik. Jo Weiß über den Nachschlüsselroman. Margaretha Schnarhelt über die kulturelle Polyphonie des Rheinlands. Karl Feldkamp liest einen Heimatroman der tiefsinnigeren Art. Walther Stonet lotet Altbierperspektiven aus. Conny Nordhoff erkundet die Kartografie. Zuletzt, ein  Rezensionsessay von Denis Ullrich.