Offener Brief an Richard David Precht

Sehr geehrter Herr Precht,

viele Ihrer Positionen teile ich – insbesondere zum Themenbereich „Digitalisierung und Informationsgesellschaft“ – und halte Ihre allgemeinverständlichen und sympathischen Darstellungen der Problematik für ausgewogen, erfrischend und die gesellschaftliche Debatte bereichernd. Danke dafür!

Allerdings machten Sie am 24.04.18 in der Sendung von Markus Lanz eine Bemerkung, mit der ich so ganz und gar nicht einverstanden bin. Sie sagten „das Silicon Valley hat das Weltbild der Kybernetik“. Ähnlich äußerten Sie sich bereits 2017 in einem Interview des Focus und auch in der Spiegel-Ausgabe 2018/17 von letzter Woche.

Kybernetik hat mit der Ideologie des Silicon Valley in etwa soviel zu tun wie eine Milchkuh mit Bierbrauen. Das sage ich als im Bereich „Bildung und Digitalisierung“ beruflich tätiger Naturwissenschaftler, der sich seit 1982 u.a. mit Kybernetik beschäftigt und als ehemaliger in bildungspolitischen Fragen engagierter Abgeordneter des Landtags von NRW (Piratenfraktion).

Und nicht zuletzt als Mensch, der einige der Kybernetiker der ersten Generation noch persönlich kennengelernt hat, als charismatische Menschen mit einer hochentwickelten Ethik mit Achtung vor jeglichem Leben, als Humanisten, Links-Liberale, Anarchisten und Hyperkreative.

Kybernetik ist keine Ideologie sondern ein transdisziplinärer wissenschaftlicher Ansatz, der seit seinem Entstehen danach fragt, wie Autonomie organisiert ist, bzw. sich selbst organisiert. Die Kybernetiker fanden heraus, dass diese Organisation nicht-hierarchisch und selbstrückbezüglich ist. Man könnte Kybernetik im weiteren Sinne sogar den sog. „life-sciences“ zuordnen. Und mein Dackel bestätigt mir jeden Tag – im Rahmen seiner Möglichkeiten – diese Autonomie.

Für lesende Zeitgenossen bestätigt sich das in den Arbeiten von Warren McCulloch, Gregory Bateson, Heinz von Foerster und insbesondere im Werk des Kybernetikphilosophen Gotthard Günther, um nur vier Protagonisten der Kybernetik zu nennen.

In Ihrer Erklärung dazu bei Lanz sprachen Sie von Reiz und Reflex, das weist deutlich auf die wem auch immer sei Dank überkommenen simplen Input-Output-Denkmodelle des Behaviorismus hin. Und die haben mit Kybernetik nichts zu tun, wohl aber mit dem Silicon Valley, da haben Sie recht. Denn was dort praktiziert und algorithmisiert wird, ist nichts als hierarchisch organisierte Datenverarbeitung, EDV eben. Kybernetisches Denken – so wie ich es kennengelernt habe – ist Lichtjahre davon enfernt.

Die Projekte und Ideen des Silicon Valley sind durch und durch hierarchisch organisiert, unabhängig davon, ob deren Computer nun Räder haben – wie die sog. „autonomen“ Fahrzeuge -, oder nicht, wie die Datenstaubsauger- und Timeline-Manipulationsalgorithmen von Facebook, Google und Co. Selbstorganisierend im Valley sind lediglich die menschlichen Produktionen und Projektionen von Fiktionalem wie Superintelligenzen, Transhumanismen, Gläubigkeiten an die technologische Unsterblichkeit und anderem Nonsens.

Für das Begreifen der aktuell in vollem Gange befindlichen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Umbrüche kann unsere denkende Reflexion gar nicht tief genug sein.

Dazu habe ich mich bereits detaillierter geäußert, u.a. hier im Blog.

Und ich bin der festen Überzeugung, dass die schon in den 40ern bis 70ern des vorigen Jh. erarbeiteten Erkenntnisse aus der Kybernetik weitgehende Beiträge zur massiven Kritik dessen enthalten, was wir heute die kalifornische, die Silicon-Valley-Ideologie und ihre algorithmische Praxis nennen.

Eine Ablehnung, ein Verzicht darauf käme – aus meiner Sicht – einer Selbstbeschneidung in den Argumentationsmöglichkeiten gleich.

Ebenso wie die frühen Kybernetiker bin ich stets zum aktiven Tanz im Dialog bereit und hätte Sie diesbezüglich am 9. April morgens auf dem ICE-Bahnsteig in Düsseldorf ansprechen können. Stattdessen beließ ich es bei einem kurzen Kompliment zu Ihnen und Ihrer Arbeit, woraufhin Sie sich höflich bedankten. Denn es ist nicht meine Art, Menschen auf Reisen zuzutexten, wo man vielleicht lieber für sich sein möchte.

Aber vielleicht können wir ein Gespäch dazu einmal nachholen, das wäre schön. Sie finden mich im Raum Düsseldorf [jpaul(Klammeraffe)xpertnet.de]

Es mag Mitmenschen geben, die das Schreiben von solchen offenen Briefen für sinnlos halten, als ebenso wie Sie in das Gefüge unserer Welt eingebundener, denkender und handelnder Mitmensch teile ich diese Ansicht nicht.

Mit herzlichen Grüßen, Ihr
Joachim Paul

 

 

 

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Weiterführend →

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Lesen Sie auch das Porträt von Joachim Paul → Ein Pirat entert das Denken