Beruht auf einer wahren Begebenheit

Wieviel hat jeder von uns zum Möglichsein dieser Mauer[n] beigetragen und trägt weiter bei? Ist jeder Mensch ausreichend am Verschwinden dieser Mauer[n] interessiert?

Joseph Beuys

Mit dem Ende der Zweiteilung in BRD / DDR ist auch das Ende der literarischen Teilung gekommen. Die Literaturen der DDR und der Bundesrepublik sind zum Rückblick freigegeben. An Stelle einer diktierten und reglementierten Literatur etablierte sich die Post-DDR-Literatur als eigenständiges Genre. Nach einer Phase der Euphorie machte sich unter anderem Unmut aufgrund der Schwierigkeit einer neuen Identitätsfindung breit. Dies spiegelt sich auch in den verschiedenen Strömungen der Literatur wider. Den Versuch, mit dokumentarischem Material die Wirklichkeit zu ergänzen oder neu herzustellen, haben Schriftsteller immer wieder unternommen; man denke an W.G. Sebald oder an Walter Kempowskis gewaltiges Kompendium Das Echolot. Die Erinnerungsbedürfnisse der Zeitzeugen formierten sich in den literarischen Werken als Einsprüche und Kommentare zur Erinnerung an die Geschichte, und der Problematisierung eines „wie es wirklich war“. A.J. Weigoni demaskiert die deutsche Identität in ihrer gefährlichen Schizophrenie aus Schuld und Vergeltung. Der Roman zeigt sich erstaunlich bereit für diese dramatische Kompromisslosigkeit.

Was ist in den revolutionären Novembertagen genau geschehen? Wer hat die Fäden gezogen, wer hat sich wann auf welche Seite geschlagen? Wer profitiert von den neuen Verhältnissen? Ist die Revolution gelungen, oder ist sie unvollendet geblieben, gar gestohlen worden? Und was heisst das alles für die nun angebrochene neue Zeit?

Weigonis erster Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet spielt in einer Zeit des Übergangs ist nur eines sicher: Eine Epoche ist an ihr Ende gelangt. Ansonsten aber gibt es kaum Gewissheiten. Dieser Romancier nimmt von der Ideologie des Verbrauchertums Abstand, es gibt für ihn nicht den geringsten Grund, Zugeständnisse an den Mainstream zu machen. Es ist eine schneident imtelligente wie bitter-ironische Reflexionsprosa. Großartige Bücher liest man nicht, um sie zu verstehen. Es geht nie um Verständnis. Die Bücher, die interessant sind, sind Bücher, die man auf den ersten Klick nicht versteht. Bücher, die dem Leser viel abverlangen. Bücher, die den Leser zwingen sich mit dem auseinanderzusetzen, was man nicht weiss. Bücher, die dem Leser etwas von außen Kommendes erfahren lassen. Was sich in den Vignetten sacht andeutete, über Schicksale und Handlungsstränge die Weigoni in den Zombies ausgelegt und in Cyberspasz zusammengeführt hat, wird in seinem ersten Roman zu Gewißheit, hier entsteht ein Lebenswerk, das im glattgeföhnten Literatur-Betrieb wie ein Solitär funkelt.

Westdeutsche glauben zu wissen, wie es gewesen ist, Ostdeutsche vermeiden es, als DDR–Bürger enttarnt zu werden.

Michael Meyen 

Weigoni zählt zu den Schriftstellern, die sich über mehrere Häutungen und auch schmerzhafte Verwandlungen durchringen zum Eigenen. Es steckt ein Fatalismus in diesem Roman, den man nur zärtlich nennen kann. Seine Prosa zeichnet sie sich durch einen lakonischen Stil, eine ausgeprägte Sensibilität für Atmosphären und psychosoziale Konstellationen aus. Er erweist sich als Feinmechaniker der Gefühle und hat das Talent, ohne jede Peinlichkeit Erotik, Rausch und zarte wie abgründige Gefühle zu schildern, indem sie schonungslos und präzise hinschaut, sich phänomenologisch nähert und genau die richtigen Oberflächendetails beschreibt. Dieser Romancier sammelt Geschichten ein, arrangiert sie mit der Präzision eines Uhrwerks zueinander, bewahrt sie in der Konstruktion des Textes vor jedem Kitschverdacht und gibt ihnen doch ausreichend Raum zur emotionalen Entfaltung. Wenn man von Liebe als einem universellen Gefühl spricht, so meint jeder etwas anderes. So alt wie die Menschheit, so neu ist sie für jeden und jedes Mal wieder, denn alles, was zählt, ist ihr Augenblick. Wie wir sie kennen, als Selbstvergewisserung im Blick des anderen, ist sie eine Erfindung des 18. Jahrhunderts – und möglicherweise schon bald ein Fall fürs Museum. Im Geiste Lichtenbergs gelingt es Weigoni, Wissen, Erfahrungen und Ahnungen zu luziden Gebilden zu schürzen. Als notorisch Schweifsüchtiger berückt er durch melancholische Eleganz. Er widersteht der Versuchung im Nachhinein eine heldische Stasi-Geschichte zu erzählen und kommt den Charakterbildern und ihren Deformationen subtiler auf die Spur. Mit dem Verzicht auf das große Gesellschaftspanorama und mit der Konzentration auf die Figuren erweist sich, wie politisch das Private aufgeladen war. Das Politische wird bewußt auf eine psychologische, private Ebene gebracht. So passiert es, daß dem Leser eine entscheidende Frage gestellt wird: Was hat uns zu dem gemacht, was wir sind?

Forcierte Beziehungsdramatik

Liebe ist nicht einlösbar, der totale Anspruch, der hinter diesen Vorhaben steckt, die Bedingungslosigkeit, die Unbegrenztheit. Davon zu erzählen, ganz ohne in Gefühligkeit zu verfallen – das schafft nur ein großer Romancier. Begehrensstrukturen haben die Auffassung von Liebe verändert, nicht nur Liebeskonzepte, sondern auch dazugehörige Gefühle sind wesentlich durch den gesellschaftlichen Rahmen geprägt, in dem sie gelebt werden. Vom “authentischen Drama des Zusammenseins”, vom “oszillierenden Plasma der Beziehungen”, vom “Innen/Aussen-Paradoxon” ist in den Ratgeber-Büchern die Rede. In seinen Fragmenten einer Sprache der Liebe hat Roland Barthes einst die schöne Beobachtung gemacht, dass Liebesromane, wenn sie den emotionalen Ausnahmezustand ihrer Helden abbilden, dazu neigen, alle Wollust des Erdreichs in ihrem Erzählen unterbringen zu wollen. Weigoni versucht dem Akt des größten menschlichen Begehrens unter erschwerten Bedingungen gerecht werden. Liebe ist unter hypermodernen Bedingungen einerseits emotional stark aufgeladen, andererseits unterliegt sie der allgemeinen Rationalisierungs- und Entzauberung durch den Diskurs der Naturwissenschaft und der Psychologie. Die westliche Kultur ist besessen vom Thema der romantischen Liebe. Es ist eine Illusion, die mit dem Hochzeitsmythos in der Populärkultur immer genährt wird. Die Braut sieht sich in einer Celebrity-Fantasie als Star, für einen Tag. In der Zeitenwende, wo alle immer hektischer nach dem großen Gefühl suchen und dabei von vornherein genaue Vorstellungen haben, scheint es immer fraglicher, ob die Liebe überhaupt noch eine Chance hat, real zu werden. Und wenn ja, würde man sie überhaupt erkennen?

Westblock – Ostblock = Weblog!

Es bedeutet nichts Gutes für die realsozialistische Gesellschaft, wenn sie nur noch mit den Parametern der Literatur zu messen ist. Im Gegenteil. Es ist unheimlich, wenn die antiken Topoi und kulturpessimistischen Geschichten – vor den Toren das drohende Verhängnis, während intra muros feiste ZK-Mitglieder weiterhin der Wollust und der Ämter-Schacherei frönen – plötzlich als aktuelle Kommentare fürs alt-neue Rom und Athen taugen. Wenn jedoch der Populisten Triumph und Scheitern samt den archaischen Abgängen ihrer Kreaturen nichts hergeben für das nuancierte Instrumentarium zeitgenössischer Politik- und Gesellschaftswissenschaft, wenn also die Wiederkehr des bereits überwunden Geglaubten alle modernen Ansätze als obsolet erscheinen läßt. Wenn Politbüromitglieder sich der hehren Vokabeln bemächtigen, um mit ihnen Notzucht zu treiben, kann sich die Literatur nicht mit lakonischer Distanz begnügen, sondern muß ein ganzes Arsenal sinnlich erfahrbarer Geschichten öffnen, auf daß die blecherne Herrscher-Rhetorik nicht das letzte Wort hat. Diese Politik ist eine Aneinanderreihung symbolischer Handlungen und die Politiker sind Symbolfiguren. Weigonis Schreibweise erinnert daran, wie wir in der Geschichte stehen, bevor sie in die späteren, reflektierten Formen gegossen ist. Seine Texte zeigen uns die Welt, in der wir leben, auf eine ganz neue Weise, er ist ein im besten Sinne unabhängiger Geist, der sich allen literarischen Konventionen stets zu entziehen wusste und an bewußt an der Schnittstelle zwischen Literatur, Musik und bildender Kunst denkt. Dieser Medienkenner navigiert  zwischen den verschiedensten Genres, Tonlagen, teilweise auch Produktionszusammenhängen. Weigoni ist ein bekennender Kinonarr: Im Gegensatz zu Quentin Tarantino jongliert er allerdings weniger offensichtlich mit Referenzen, sondern verweist eher auf sein berauschend ganzheitliches Verständnis der Kunstform bei diesem Video in Worten.

Renovierung der Erinnerungskultur

Dieser Romancier führt durch die sozialistische Spätantike. Er dokumentiert das politische Programm eines aus dem Alltag hervorgehenden Aufstands der Ohnmächtigen gegen ein System der Lüge. Die Macht der Bürokratie wurde in der DDR ,Macht des Volkes‘ genannt. Im Namen der Arbeiterklasse wurde die Arbeiterklasse versklavt. Die Demütigung des Menschen wurde für seine Befreiung ausgegeben. Isolierung von der Information wurde als Zugang zur Information ausgegeben. Die Manipulation durch die Macht nannte sich ,öffentliche Kontrolle der Macht‘, und die Willkür nannte sich ,Rechtsordnung‘. Die Unterdrückung der Kultur wurde als ihre Entwicklung gepriesen. Die Ausbreitung des imperialen Einflusses wurde für die Unterstützung der Unterdrückten ausgegeben. die Unfreiheit des Wortes für die höchste Form der Freiheit. Das ZK fälschte die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Die Revolution von 1989 war die erste in der Geschichte, die sich um die Lebenszeit drehte, um welche die Menschen sich betrogen glaubten. Im Mittelpunkt steht die Forderung des Rechts auf unbeschädigte, unverkürzte Lebenszeit. Der Sozialismus hatte diese Ansprüche geschichtsphilosophisch vertagt, indem er sich durch das Glück künftiger Generationen legitimierte. Der realexistierende Sozialismus ist untergegangen, das System der Lüge nicht. Es geht Weigoni in Abgeschlossenes Sammelgebiet nicht allein um die angelegte Demaskierung der realsozialistischen Tragikomödie, sondern um die Überwindung des Konformismus der Konsumgesellschaft generell.

Die deutsche Seele, ein weites Land

Für Weigoni ist Architektur eine Metapher für die Literatur: Auch Prosa ist ein Gebäude, und man muß teilen können, um sie so konstruieren zu können, daß sie zugänglich sind. “Der retrospektive Charakter der Erinnerung setzt erst ein, wenn die Erfahrung, auf die sie sich bezieht, abgeschlossen im Rücken liegt”, wie die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann in einer Studie zu den Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses festgestellt hat. Geschichtsbewusstsein ist ein Wort, das nach Schule riecht. Aber die Tatsache, daß man sich der eigenen Geschichte, des Landes und der Zusammenhänge, in denen man steckt, bewusst ist, ist ein zentrales Moment für die Ausbildung eines Bewußtseins. Weigonis kultur-archäologische Spurensuche macht dem Leser Einzelteile der deutsch-deutschen Geschichte zugänglich, die unbemerkt unter den Teppich der Bewältigung gekehrt wurden. Jene, die erzählen können, die das erlebt haben, sind in der Pflicht, das zu überliefern. Dieser Prozess ist aber durch die Schnelllebigkeit unserer Zeit und dadurch, daß man sich dem Alter gegenüber herablassend verhält, ins Stocken geraten. Weigonis Abgeschlossenes Sammelgebiet ist auch ein entschloßener Versuch, sich dagegen zu wehren. Der ideologische Firnis löst sich ab. Wir sehen Hoffnung, Enttäuschung, Dünkel, Verstrickung, Scheitern – und sind ernüchtert. Uaufgeregt und sprachlich pointiert vermittelt er im besten Sinne ästhetische und moralische Bildung; diesem Romancier gelingt eine Vermählung aus Romanstoff, Historie und Lebenswelt, die in Deutschland bisher undenkbar ist. Der optimistische Dialektiker würde sagen: Zum Glück. Abgeschlossenes Sammelgebiet zählt neben dem von Alexander Kluge oder Uwe Johnson, zu den großen poetischen Gestaltungen deutscher Zeitgeschichte, in lyrischer und epischer Form.

Hat der von Roland Barthes angekündigte Tod des Autors tatsächlich die Geburt des Lesers beschleunigt?

Der Leser wird von Weigoni als Homme de Lettres geachtet und nicht zum bloßen Buchabnehmer degradiert, dem marktschreierisch die üblichen Verdächtigen aus den Bestsellerlisten aufgeschwätzt werden. Das Wort „Verbraucher“, das von den renditefixierten Buchhandelskonzernen gerne benutzt wird, verrät mehr, als diesen Event-Vermarktern lieb sein kann: Gute Literatur verbraucht sich nicht „zu verkaufen“, der gebildete Leser schert sich um kein Verfallsdatum, daher darf man ihm auch eine Anstrengung zumuten. Es ist nicht einzusehen, daß der Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet, an dem Weigoni 25 Jahre lang gearbeitet hat, schon nach einer Buchsaison auf den Grabbeltischen des modernen Antiquariats landet. Der herabgesetzte Preis eines Werkes geht schließlich immer auch mit der Herabwürdigung seines Verfassers einher: nur die verkaufte Auflagenzahl, nicht aber die Qualität seiner Arbeit wird hier bewertet. Einen Schriftsteller wie Weigoni als ein Glied in der Wertschöpfungskette zu erachten, verfehlt das Wesen von Literatur. Wenn das intellektuelle Niveau steigt, sinkt bekanntlich der Marktwert, weil sich das Leserpotenzial verringert. Wer also gehobenen Ansprüchen gerecht werden will, muss Literatur als etwas Höheres begreifen und nicht bloß als Handelsware. Autoren, die keine Massenauflage erreichen können, müssen eben finanziell gestützt, Kleinverlage wie die Edition Das Labor, die den Mut haben, solche schwierigen Bücher zu drucken, gefördert werden. Denn sie schaffen ein ideelles Kulturgut, das sich für die Gesellschaft in vielerlei Hinsicht auszahlt, wenn auch nicht zwingend in barer Münze.

 

 

 

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Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2014 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover

Postwertzeichen erschienen zum 20. Jahrestag der DDR. Entwertet am 9. November 1989

Weiterführend → Zur historischen Abfolge, eine Einführung. Den Klappentext, den Phillip Boa für diesen Roman schrieb lesen Sie hier. Eine Rezension von Jo Weiß findet sich hier. Einen Essay von Regine Müller lesen Sie hier. Beim vordenker entdeckt Constanze Schmidt in diesem Roman einen Dreiklang. Auf der vom Netz gegangenen Fixpoetry arbeitet Margretha Schnarhelt einen Vergleich zwischen A.J. Weigoni und Haruki Murakami heraus. Eine weitere Parallele zu Jahrestage von Uwe Johnson wird hier gezogen. Die Dualität des Erscheinens mit Lutz Seilers “Kruso” wird hier thematisiert. In der Neuen Rheinischen Zeitung würdigt Karl Feldkamp wie A.J. Weigoni in seinem ersten Roman den Leser zu Hochgenuss verführt.