Parallelführung der Liebesverhältnisse

love will tear us apart
Joy Division

Photo: Jesko Hagen

Haruki Murakami und A.J. Weigoni haben mehr gemeinsam als den Frühsport. Aber meist beginnt der Tag in Tokio und im Rheinland mit demselben Ritual. Sie ziehen sich am frühen morgen ihre Laufschuhe an, traben ihre Runde und setzen sich dann um 7:00 Uhr an den Schreibtisch, um zu schreiben. Bei aller Unterschiedlichkeit der Ausführung haben sie einen ähnlichen Ansatz, die gesellschaftliche Situation des Bürgertums unter der spätfeudalen Herrschaft mit der Jetztzeit kurzzuschließen, den Trivialmythos des Liebesromans zu amalgamieren und schließlich in die Hochliteratur zu überführen.

Selbstverständlich ist die Liebe – literarhistorisch betrachtet – ein alter Esel, dem man einiges aufbürden kann, ohne daß er darunter leidet. Wenn man es so bezieht, begann die uns bekannte Literaturgeschichte mit dem Gilgamesch-Epos. König Gilgamesch von Uruk hatte durch einen Traum bereits vom Fallensteller Enkidu erfahren. Enkidu erlag der Sinnlichkeit der von Gilgameš gesandte Tempeldieneri Schamchat. Sie vereinigte sich mit dem Wilden sieben Tage und Nächte und er wurde so zivilisiert und der Natur entfremdet. Schamchat hauchte ihm durch ihre sexuelle Vereinigung den Geist sowie die Einsicht ein und brachte ihm die Sprache der Menschen bei. Nach dieser zweiten Geburt des Enkidu kann er nicht mehr mit den Tieren Schritt halten. Schamchat erzählte ihm daraufhin von Gilgamesch und seiner Tyrannei am Volk, damit Enkidu sich mit Gilgamesch messen könne und dadurch die Gebete der Bewohner von Uruk erhört und die Menschen von Gilgameschs Gewaltherrschaft befreit würden.

Cover: Jesko Hagen

Der Stil von des Japaners Haruki Murakami zeichnet sich durch surrealistische Elemente und lässige Anspielungen auf die Popkultur aus. Hier ähnelt der Japaner dem Ungarn A.J. Weigoni, der sich gleichfalls für die Mythen des Alltags interessiert und dem Jazzsaxophonisten ‚Rahsaan‘ Roland Kirk eine Novelle in seinem Band Cyberspasz gewidmet hat. Murakami führte über das Schreiben hinaus eine Jazzbar in Tokio, ein wiederkehrendes Motiv in seinem Romanen. Was beide Schriftsteller zudem gemeinsam haben ist ihre Haltung den Gesellschaftsroman in die Sonderform eines Metropolenromans zu überführen, welcher die existenzielle Heimatlosigkeit des Protagonisten eine Bühne bietet. Weigoni gelingt es in seinem ersten Roman die gesellschaftliche Totalität der Zeit zwischen dem 9. November 1989 und dem 18. März 1990 panoramatisch abzubilden, vieldimensional und ansatzweise simultan zu erzählen.

In A.J. Weigonis Roman über die Wiedervereinigung geht es auch um die Lust auf Körperlichkeit, das Fleisch und den Leib, die Emotion und letztlich die Befreiung. Es beschreibt die Liebe zwischen Charlotte, Moritz und Jane als unerklärlich und verrückt. Die Gefühle sind so stark, daß die Figuren ihr äußeres Verhalten kaum noch beherrschen. Liebe wirft die Ordnung ihres Verstandes über Bord. Sie spüren diesen Zustand der Verrücktheit vor allem dann intensiv, wenn es zum Bruch kommt. Sie durchleiden ihn wie eine Krankheit, und wenn sie geheilt sind, fragen sie sich, wie ihnen so etwas überhaupt zustoßen konnte. In diesem Roman entfaltet sich ein kompliziertes Geflecht aus moralischen Verpflichtungen und persönlichen Interessen, aus privaten Dilemmata und doppelbödiger Politik, aus Abhängigkeiten auf allen Seiten, dass ihr am Ende nichts als das eigene Ich bleibt – wobei niemand dieser hypermodernen Menschen weiß, was für eine verfängliche, unzuverlässige, möglicherweise korrupte Gestalt gerade dieses Ich ist. Die Artikulation des politischen Kampfes bringt nicht zwingend Literatur hervor, aber gesellschaftspolitisches Bewusstsein ist das schöpferische Schicksal“ derjenigen, die in der Geschichte leben.

Das Leidthema in Murakamis Werk ist der Verlust geliebter Menschen und die oft vergebliche Suche nach ihnen. Seine Romane sind im Stil eines magischen Realismus gehalten, wo physische und psychische Realität nahtlos ineinander übergehen. Der Mangel an Literarizität erhöht die Authentizität. Mystisch oder märchenhaft anmutende Passagen bilden dabei einen selbstverständlichen Teil der erzählten Wirklichkeit. Den zentralen Figuren in seinen Werken verleiht Murakami autobiographische Züge. Sie teilen die Vorliebe ihres Schöpfers für einfaches, schmackhaftes Essen, hören Jazz oder Rock und verbringen ihre Zeit in guten Bars. Oft zeichnen sie sich durch eine vielschichtige Tiefe aus, die Murakami wortreich und bildhaft zu beschreiben oder in wenigen Sätzen zu umreißen vermag.

Liebe ist nicht einlösbar, der totale Anspruch, der hinter diesen Vorhaben steckt, die Bedingungslosigkeit, die Unbegrenztheit. Davon zu erzählen, ganz ohne in Gefühligkeit zu verfallen – das schafft nur ein großer Romancier. Begehrensstrukturen haben die Auffassung von Liebe verändert, nicht nur Liebeskonzepte, sondern auch dazugehörige Gefühle sind wesentlich durch den gesellschaftlichen Rahmen geprägt, in dem sie gelebt werden. Vielleicht sollte man Abgeschlossenes Sammelgebiet gleichsam landeskundlich lesen, als sehr sorgfältige, sehr gründliche Einführungen in die politischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse eines geteilten Landes, das länger als irgendein anderer moderner Staat an der rigorosen Trennung seiner Landsleute festhielt und die Unmenschlichkeit in Namen einer Staatsreligion institutionalisierte, manifestiert durch einen Mauer, die aus einem Staat ein Staatsgefängnis machte. Aber auch das Luxusdenken und die Bequemlichkeit der BRD durchschaut A.J. Weigoni durch seine Beobachtungsgenauigkeit gnadenlos. Vom „authentischen Drama des Zusammenseins“, vom „oszillierenden Plasma der Beziehungen“, vom „Innen/Aussen-Paradoxon“ ist in den Ratgeber-Büchern die Rede. Nach dem Verlust der Utopie scheint einzig die Liebe scheint einzig die Liebe eine anarchische Form zu sein.

Unsere Generation war die erste gewesen, die der spätkapitalistischen Logik, der sämtliche nach dem Krieg noch verbliebenen Ideale zum Opfer gefallen waren, ein schallendes ‚Nein!? entgegengebrüllt hatte […]. Und hier war ich nun, mittlerweile selbst von dieser kapitalistischen Logik vereinnahmt und rekelte mich auf den Polstern meines BMW.

Haruki Murakami

Von der Figurenkonstellation erinnert Abgeschlossenes Sammelgebiet von Weigoni an Murakamis Naokus Lächeln. Der Japaner erzählt darin vom Literaturstudenten Toru, der sich zwischen der geheimnisvollen Naoko und der lebenslustigen Midori nicht entscheiden kann. Der Roman spielt im Tokio in den späten 1960er Jahren. Während sich auf der ganzen Welt die Studenten versammeln, um das Establishment zu stürzen, gerät auch das private Leben von Toru Watanabe in Aufruhr. Er hat einen großen Verlust erlitten, den nicht nur die geliebte Naoko betrifft, sondern auch den Jugendfreund Kizuki, der Selbstmord begeht. Auch die westliche Kultur ist besessen vom Thema der romantischen Liebe. Lieben bedeutet – in einer romantischen Art -, jemanden für das zu lieben, was er oder sie ist. Jemanden ändern zu wollen, zerbricht jede Liebesgeschichte. Liebe bedeutet dagegen Akzeptanz.  Es ist eine Illusion, die mit dem Hochzeitsmythos in der Populärkultur immer genährt wird. Die Braut sieht sich in einer Celebrity-Fantasie als Star, für einen Tag. In der Zeitenwende, wo alle immer hektischer nach dem großen Gefühl suchen und dabei von vornherein genaue Vorstellungen haben, scheint es immer fraglicher, ob die Liebe überhaupt noch eine Chance hat, real zu werden. Und wenn ja, würde man sie überhaupt erkennen?

In Murakamis Roman Gefährliche Geliebte/Südlich der Grenze, westlich der Sonne geht es um die Liebe und Leidenschaft, die den verheirateten Jazzbarbesitzer Hajime an seine nach Jahren wiedergefundene Kinderliebe Shimamoto bindet. Bei der Besprechung des Buchs in der TV-Sendung Das literarische Quartett kam es zum Eklat, als der Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki der Kollegin Sigrid Löffler bei der Besprechung des Buchs vorwarf, sie verreiße erotische Literatur grundsätzlich. Frau Löffler erklärte, daß Murakami, einen schlechten und oberflächlichen Roman geschrieben habe, der sich durch ein hohes Ausmaß an Vulgarität auszeichne.

Es gibt keine Vorschriften, wie man die Liebesleidenschaft darstellt. Weigoni versucht dem Akt des größten menschlichen Begehrens unter erschwerten Bedingungen gerecht werden. Liebe ist unter hypermodernen Bedingungen einerseits emotional stark aufgeladen, andererseits unterliegt sie der allgemeinen Rationalisierungs- und Entzauberung durch den Diskurs der Naturwissenschaft und der Psychologie. So lösen sich die geschilderten Liebesszenen nicht mit heteronormativem Blick voyeuristisch sondern poetisch auf. Letztlich ist die Liebe wahrscheinlich nur eine Erfindung für einige wenige Glückliche. Wenn man die Liebe zum Kunstwerk macht, kann sie sich selbst überdauern. Am Schluss der éducation sentimentale verurteilt Weigoni die Hautfiguren zu Liebeslänglich.

 

 

 ***

Naokus Lächeln von Harun Murakami, DuMont Verlag, Köln 2001

Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2014 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover

Weiterführend → Zur historischen Abfolge, eine Einführung. Eine Rezension von Jo Weiß findet sich hier. Einen Essay von Regine Müller lesen Sie hier. Beim vordenker entdeckt Constanze Schmidt in diesem Roman einen Dreiklang. Auf der vom Netz gegangenen Fixpoetry arbeitet Margretha Schnarhelt einen Vergleich zwischen A.J. Weigoni und Haruki Murakami heraus. Eine weitere Parallele zu Jahrestage von Uwe Johnson wird hier gezogen. Die Dualität des Erscheinens mit Lutz Seilers “Kruso” wird hier thematisiert. In der Neuen Rheinischen Zeitung würdigt Karl Feldkamp wie A.J. Weigoni in seinem ersten Roman den Leser zu Hochgenuss verführt.

Sonderzeichen von 1969, abgestempelt am 9. November 1989

Weiterhin von A.J. Weigoni erhältlich:

Cyberspasz, a real virtuality, Novellen, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2012.

Zombies, Erzählungen, Edition Das La­bor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Vignetten, Novelle, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.