Oswald Egger ∙ Die ganze Zeit ∙ Revisited

Ein abgrundtiefes Geheimnis ist der Mensch

Augustinus

Dazwischen

24 mal 17 mal 4,6 cm: Maße, die bibelähnlichen Charakter haben. Ein großzü­gig wir­kendes, sehr schönes, in apfelsinenfarbenes Leinen (in das ein ma­schendrahtähnli­ches Bild, in dessen Mitte vier aufeinandergerichtete Pfeile zueinan­der finden, grün imprägniert ist) gehülltes und mit grünen Lesebändchen versehenes Buch ist Oswald Eggers Die ganze Zeit, das die einen als Lyrikbuch, die anderen als Prosabuch bezeich­nen. Wie so oft liegt bei polarisierenden Phänomenen die Wahrheit, die es nicht gibt, im luftleeren Raum dazwischen. Denn Die ganze Zeit ist, naturgemäß, we­der das eine noch das andere. Die ganze Zeit ist ein Unikatbuch, ein Künst­lerbuch gleich­sam, das sich jeder gattungsspezifischen Ein­ordnung entzieht.

Nun ist es eine Sache, ein Buch als Objekt über den grünen Klee zu loben, eine an­dere, das Buch auch tatsächlich zu lesen. Viele Bücher, die ins Haus kommen, lese ich umgehend, die aktuelle Lektüre dafür auch gelegentlich hint­anstellend. Das ist bei Die ganze Zeit ein wenig anders.

Confessiones

Natürlich packe ich das Buch rasch aus, erfreue mich an der Gestal­tung, wiege es in der Hand, in der das leinen­gebundene Werk trotz seines Umfangs angenehm leicht liegt, und lese unverzüglich die ersten Seiten, die sogleich eine Über­raschung darstellen. Das erste Wort: Bekenntnisse. Und tatsächlich, die spontane Vermutung trifft zu: Hier stehen neue Übertragun­gen der Confessiones des Augusti­nus, dessen eine – eingebrannt wie ein Tattoo – mich lebenslang be­gleitet, seit ich sie von frühester Kindheit an während jeder Messe vom katholischen Dorfpfarrer in Bürvenich gesprochen hörte: Un­ruhig ist unser Herz, bis es ruhet in dir, o Herr. / Inquietum est cor nostrum, donec re­quiescat in te, Domine, unpaginiert und im Wechsel mit ringförmigen Zeichnungen des Autors über ein Dutzend Seiten das voluminöse Buch einleitend – und mit einer Sei­te Boethius am Ende das über 700 Seiten starke, auf vier Säulen – Zeichnung, Übertragung, Blocksatz-Ge­dicht in lyri­scher Prosa, die von vielen Vierzeilern (in nihilum album finden sich 3.650 von die­sen Ameisengedichten) eingerahmt werden, die am Ende von Kapiteln die Herrschaft über eine ganze Seite übernehmen – stehende Werk beschließend. An­schließend lese ich den Klappentext:

Was tue ich eigentlich die ganze Zeit, während ich denke, dass ich spreche? Soll (will und kann) ich die Dinge mit den Augen derer sehen, die sie selber nicht mehr sehen oder noch nicht? Die el­funddreißig Ichs, welche in Oswald Eggers lyrischem Roman wie augenblicklich umgehende Schelmwesen toben, verflüchtigen sich in etwas, was seit Augustinus die ganze Zeit verheißt: Auf­merksamkeit, Erwartung und Erinnerung in einem. Die Jetzt-Sätze der Erzählung springen feixend ineinander: Gnome, Habergeißen und anderes Wolkengetier erringen fabelhaftes Ei­genleben und hüpfen von der Maskenbühne tolldreist ins Parterre der Ungereimtheit. Sie führen dort ungeheure, verblichene, oft schroffe Szenerien einer bald abenteuerlichen, bald wilden Jagd nach Vergeblichem auf, wobei gilt: Zeit ist Welt.

Auf den Baustein Die ganze Zeit wollte ich, wie schon auf Tag und Nacht sind zwei Jahre, im Gebäude der Büchersammlung um keinen Preis mehr verzichten.

Mein Leben
War eine Feuer-
Lilie, die
auf Heu blüht.

Lesen · Lesen

In einer späten Septembernacht beginne ich die Lektüre. Im Nu spüre ich die Wörter in der Brust pochen (geht das überhaupt?), fühle einen pulsierenden Druck, und ich sage nach einigen Seiten laut vor mich hin: Wahnsinn, das ist der helle Wahn­sinn, und lese weiter und weiter und weiter. Ich weiß von der ersten Zeile (Es ist wahr: ich bin stark, ich habe Lunge und Arm, und ich atme), vom ersten Vierzeiler an: Das ist mein Buch, das ist ein Buch zum Mit-Haut-und-Haar-Verspeisen, zum Lesen, bis mir die Au­gen über­laufen von Wörtern und Bildern und

Halb stemmt eine dritte Figur auf ihren himmel­hin erhobenen Sohlen im Korb eine Maulbeere herauf, die Frucht vom Strauch der Raupe, in deren Puppe sich kein Leib verhüllt: bis er zur unsichtbaren Insassin der Schemen mehr inne­hat als ihren Schatten. Der Kirschkernbeißer, ein Unholdvogel, als hornbeschnäbelter Zerschrot­ter dürrster Samen und durch die heftig ankei­fenden Spuckkerne seines Lockrufs: Zick, zick, zieh! Bringt Ingrimm und Stimmen in Syzygie

 Gourmet · Gourmand

Der Gourmet wird zum Gourmand, ich werde immer gieriger nach den Wörtern, be­ginne die Wörter zu schlingen · die Wörter zu mampfen · die Wörter zu malmen · die Wörter zu mantschen · die Wörter zu fressen · die Wörter zu knatschen · die Wörter zu beißen · die Wörter zu mümmeln · die Wörter zu mahlen · ich schmatze vergnügt in der Stille dieser Nacht und der folgenden Nächte und bin heilfroh, mir dieses gepfefferte, opulente, grandiose Riesenmahl längst nicht in einem oder zwei Tagen einverleiben zu können, wie das nun einmal bei der Mehrzahl der Bücher der Fall ist.

 

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  • Oswald Egger, Die ganze Zeit, 741 Seiten, Leinen, Lesebändchen, Suhrkamp, Berlin 2010.
  • Oswald Egger, nihilum album. Lieder & Gedichte, 150 Seiten, Hardcover mit Schutzum­schlag, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007.
  • Oswald Egger, Tag und Nacht sind zwei Jahre. Kalendergedichte, 36 Seiten, handfadenge­bundene Broschur, Verlag Ulrich Keicher, Leonberg 2007.

Weiterführend Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.