Schwebezustand

 

Als Produzent interessiert sich Gregory Zonker für Optometrie. Er will die Muster verstehen, welche die globalen Ströme von Materie, Energie und Information dirigieren. Da alle Menschen mehr Zugang zum Leben anderer haben, wird es unpersönlicher. Das Dilemma der Kommunikations–Guerilleros zeigt sich darin, dass sie Authentizität medial fixieren wollen. Sie sind beschäftigt. Jeder mit sich und beide miteinander.

»Diese Kultur lässt die Schmetterlinge nicht fliegen. Sie ruht nicht eher, als bis sie aufgespiesst und etikettiert sind. Das ursprüngliche Gewimmel, der Humus, auf dem tausend Blumen wachsen könnten, wird von der Kulturpropaganda nicht gepflegt«, textet er ihr einen huldvollen Klappentext und verkürzt damit die Aufmerksamkeitsspanne im Weltnetz auf ein Fingerschnippen. Die Entscheidung zwischen richtig oder falsch besteht im Drücken der Keyboardtaste. Zonker und N@sty B. wollen nicht aufbrechen, sondern bereits angekommen sein.

»Von Natur aus liebe ich Menschen. Wenn sie mir gefallen, dann gebe ich mich mit ihnen ab«, raunt N@sty B., zieht die halterlosen Strümpfe hoch und lässt die Waffe in die Doc Martens gleiten. Die Klinge ist die Seele und zugleich die Kunst des Kriegers. Wellenförmig gleiten die Schliffmuster die Schneide entlang, ziselierte Drachen räkeln sich auf dem Stahl.

Ein Pling beendet den Brennvorgang. Der Datendandy reicht ihr die Rough–Version, für die er sie überschwänglich gelobt und sie ihn dafür heftig geliebt hat. Clicks & Cuts, Festplatten–Gebritzel. Zonkers rhythmische Vorliebe für ein dubiges reduziertes Beat–Gerippe mit fülligen Bässen, bildet die musikalische Zentralstruktur. Dieser Rock’n’Rollglänzt an der Oberfläche des Mainstreams, darunter zeichnet er sich durch künstlerischen Tiefgang aus, der nicht nur in minoritäre Szenen, verschworene Zirkel, verruchte Halbwelten weist, sondern auch in verschattete Zonen der Psyche und in die Hitze der Hölle: Kantiger Funk, atonale Discomärsche, konzentriertes Gitarrengeschreddere. N@sty B. hat einen Stimmumfang von zweieinhalb Oktaven und ist unverwechselbar: schwer in der Bündelung des Timbres, schillernd im Spiel der Bedeutung. Sie singt über die Liebe, über die Freundschaft und über den Tod, über die Doppelmoral der Bourgeoisie, und über die Hassliebe, die sie mit der Heimat verbindet, einem schlackenschwarzen Provinzkaff mit unebenen Kopfsteinen. Sie klingt dunkel, als hätte sie den Rauch einer Bar inhaliert haben und will trotzdem immer zum Licht; Vokale werden in die Länge gezogen, Wörter auseinander gerissen und neu zusammengesetzt, hingehaucht und durch die Gegend getragen; die Stimme schmiegt sich an die Silben und lässt sie fallen. Ihre Message ist eine ruhig kanalisierte, nie geschwätzige Suada klug abgewogener Argumente, die das Gegenüber konsequent in die Kapitulation bugsieren. Freundlich schaut sie dabei aus graublauen Augen, ein mildes Lächeln um die Lippen. Dies ein Ausdruck, mit dem sie sich auch bedeckt hält, nichts von sich preisgibt, eine unerwünschte Richtung des Gesprächs blockiert und rücklenkt auf das ihr wichtige Thema.

»Melodie ist das, was die Musik tradiert, Rhythmik ist das, was sie an eine Zeit bindet, an die Zeit, aus der sie kommt. Die Melodie ist, was überlebt«, reist sie den Wundschnellverband ab und küsst ihn auf die Narbe. N@sty B. stammt aus der Fabrikarbeiterstadt der Gangs und des Rotten’Roll.

»Die interessantesten Dinge finden sich auf der Resterampe des letzten Hypes, im Archiv der Befindlichkeiten«, vermutet sie. N@sty B. treibt die Sinnverweigerung an eine Grenze und ermöglicht eben dadurch ein Sprechen jenseits ideologisch belasteter Formeln oder geläufiger Plattitüden. Sie behandelt Sprache wie eine gefährliche Schlange, mit ebenso grosser Härte wie Vorsicht, weil sie ihrem Versprechen misstraut, zur Verständigung zwischen den Menschen beizutragen. Die Schwelle, vor der ihre Forderung nach dem Unmöglichen artikuliert werden muss, bleibt der Umstand, dass all ihre popfähigen Sehnsüchte oder Wutanfälle und die nicht popfähige Kompliziertheit politischen Verhaltens im richtigen Leben ja auch nicht getrennt sind, sondern sich dauernd gegenseitig die Luft wegatmen – aber auch mal zufächeln. Ihre Lieder dienen der kunstvollen Beschreibung von Lebenswirklichkeit und Zeitgefühl. Genug Nachfrage dafür gibt es offensichtlich. Nach Jahren echter Künstlichkeit ist wieder künstlerische Echtheit gefragt. Das zweite Jahrtausend ist zu Ende. Das 20. Jahrhundert jedoch geht weiter. Die hypermodernen Menschen können sich nicht von ihm lösen. Das wird ihnen erst gelingen, wenn sie zu einer Sprache finden, in der sie über all das berichten können, was in diesem Jahrhundert auch die Sprache der europäischen Kultur an ihren Wurzeln angegriffen hat. Diese Menschen haben keine kreatürliche Fähigkeit zur Tugend, zur Arbeit, zur Wahrheit, zur Disziplin, auch nicht zu den Verstandeskräften, aber sie haben eine natürliche Affinität zur Glückssuche, zur Schatzsuche. Wenn sie ihre emotionalen Fähigkeiten unnötig sentimentalisieren, ist das ein Züchtungsprojekt, dann wird das theatralisch. Seelische Leiden folgen einem kapitalistischen Marktgesetz, sie kommen in Mode. Nach Magersucht und Bulimie ist das in den letzten Jahren die Selbstverletzung. Wie bei Kleider– und Frisurenfragen entwickeln besonders Frauen einen Hang zu solchen Diktaten. Und obwohl sie nicht gerade appetitlich sind, werden diese psychischen Störungen oft wie ein Hobby betrieben.

»Unser Reichtum beruht auf den Kriegen, die wir geführt haben. Unser Glück beruht auf den gewonnenen Kriegen «, betrachtet Zonker das Verbrechen stets als legitimes Mittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen. Nur gelegentliche Albträume stören die amoralische Kälte eines Bewusstseins, das stets zielbewusst seinem Lustgewinn nachjagt. Seine Worte bleiben in allzu grosser Distanz, klarsichtverpackt, herzenskalt, wo sie sich Sprachverzweiflung, Wortmagie, gar Schweigen wünscht. Ihm geht es nicht um die grosse, politische Perspektive, sondern darum, wie die Zeitläufte subkutan wirken.

»Ein Tabubruch ist nicht immer eine individuelle Leistung. Die normierte Überschreitung kann auch etwas Spiessiges haben«, ketzt sie und reagiert mit geradezu furchterregender Leidenschaft auf die schroffe Kühle. N@sty B. ist kompliziert, launisch, zwischen unbezähmbarer Stärke und äusserster Verletzlichkeit auf ihrer weiblichen Würde bestehend. Sie will kein Liebesleben, sondern eine Lebensliebe.

»Wenn weniger mehr ist, könnte man auf den verwegenen Gedanken kommen, dass nichts alles ist«, erweist sich Zonker als ein gewissenhafter Skeptiker, dessen Poetik der Unausweichlichkeit keine Trostpflästerchen oder Gratisappelle zu verteilen hat, ein Spezialist für undeutliche Frontverläufe. Obschon er von ihr profitiert, ist er schonungslos in seiner Kritik der grausamen Vernunft und der kosmetischen Moral der westlichen Zivilisation.

»How absurd this trouble to learn / to be silent in another language…«, probt N@sty B. die ersten Zeilen einen neuen Songs. Ich – das ist auch der Andere. Und dieses Gegenüber hat oft Probleme mit seiner Autobiografie. In Wirklichkeit ist das Ich in und an der Welt, beginnend mit dem Du, zu gestalten. Sie braucht das Ich nicht zu vergessen, darf aber auch nicht von einen Über–Ich besessen sein. Wer es der Welt enthüllen will, soll sich über die Welt äussern, und zwar mit einem Engagement, das verrät, wie sehr Ich und Du, Ich und das Leben, Ich und die Welt verbunden sind. Irgendwoin diesem diffizilen Verhältnis von Ich und dem Anderen, der Welt, kommen wir dann vielleicht sogar dem nahe, was man als Sinn des Lebens bezeichnen kann.

»Die einen werden klatschen und trampeln – hemmungslos vor Begeisterung, andere weinen oder stumm bleiben– unfähig, die innere Bewegung und den Tumult ihrer Gefühle zu artikulieren«, prognostiziert Zonker überprononciert und schneidet zu jedem Satz ein anderes Gesicht, als wolle er den ganzen Musterkoffer seiner Ausdrucksmöglichkeiten ausleeren.

»Pah, mit dem Kopf im Takt nicken, ernst blicken, positive Aggression spüren und dabei doch lässig bleiben. Und dann: Fäuste hoch!«, pampt N@sty B. nicht auf der Kippe ihrer Stimme, sondern spricht ganz leise. Sie leidet unter einer unbestimmbaren Beklemmung, die sanft und stetig an den Nerven zerrt. Insgeheim verachtet sie die Kids mit Dauerwelle und engen Jeans, die unter Halluzinogenen stehenden Ausdruckstänzerinnen mit Ringelstrumpfhosen, die in einer Mischung aus Langeweile, Lässigkeit und Laszivität tanzen. Neuerdings tauchen auf ihren Konzerten glamouröse Platzhirsche und latent Gewaltbereite kurz auf und tauchen dann wieder ab in die pulsierende Masse.

»Für die Ewigkeit langt’s nicht. Wahrscheinlich nicht mal für die kommenden Jahre. Zwischen Ästhetik und Anästhesie ist eine Retro–Mode unmöglich, alles liegt in der Gegenwart«, inszeniert er ein Distanzierungsmanöver. Sein Leben wird durch die Sprachmaske zum Ereignis, er hängt sich das Mätzchen–Lätzchen um und stellt Wortmischungen zusammen wie scharfe Getränke, Slang–Lexeme in sinnlich empfindbaren Wörtern bestimmter Stofflichkeit und Farbe.

»Wir haben einmal mehr gewusst und nichts verstanden…«, analysiert sie das ihr vorgesetzte Angebot auf das Feinste, unterlässt es nicht, über den Tellerrand hinaus zu blicken; weniger autoritätsfixiert als antiautoritär.

Kalkulierte Lässigkeit. Zonker lehnt sich zurück und zuckt mit den Schultern; weil er keine Antwort braucht, wirkt es bei ihm insiderisch und souverän. Offensives Understatement ist seine Linie sowie eine funktionelle Wurschtigkeit, in deren Windschatten das Komplexe und Infame fröhlich wuchern kann. Neugierde bei gleichzeitigem Verzicht auf Deutungshoheit, Entschiedenheit ohne Kontrollzwang und ein letzter Rest Distanz zu den eigenen Ideen, ungefähr das muss es sein, was bei allem, das er anpackt, diese Atmosphäre von intellektueller Wärmestube und Brutstätte gesellschaftlicher Subversion produziert, diese Mischung aus Konzeptionierung und Spontitum, die neben allem Gedachten Wert legt auf ein sinnliches Angebot und Raum lässt für eigene Notizen.

N@sty B. und Zonker erleben eine ständig steigende soziale Wut und Intoleranz in der Gesellschaft, die Rücksichtslosigkeit im Umgang der Menschen untereinander. Sie haben sich nichts mehr zu sagen – oder unterstellen sich das gegenseitig. Sie küsst ihn zum Abschied und merkt sich den Geschmack.

 

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.