Lichtspielhaus

 

Die Kassiererin liest einen Arztroman. Ihre Seele mag Ursprung äusserer Regungen sein, doch gleichzeitig wirkt eine Bewegung nach innen, in die Tiefe ihrer Empfindung. Sie weiss nicht, ob ihr Körper das Gefängnis ihrer Seele ist oder die Seele eine Last für ihren Körper. Sie unterbricht die Lektüre. Tauscht mit einem von Haarspray eingehegten Lächeln den Geldschein gegen ein Billett. Richtet danach ihre verkrachte Existenz wieder in einer Puppenstube ein.

Die Taschenlampe des Kartenabreissers hat einen Wackelkontakt. Xaver Abmayr trägt bei aller geschäftsmännischen Souveränität einen Ausdruck fast demütiger Melancholie im Gesicht. Es ist der Stand–by–Blick des Geächteten, der vergeblich versucht hat, in die Gesellschaft hereinzukommen und nun über die eigene Fragmentierung glücklich ist. Ein Interface, der nichts vermisst, weil nichts in ihm ist. Darin unterscheidet er sich nur unwesentlich vom Massendandy, der sich zwar für einzigartig hält, jedoch der Poseur des Individuellen ist, der am meisten verbreitete Individualist der Welt, ein „Think different“ für alle. Sie sind Sklaven, aber sie merken es nicht.

Hennes besucht Nachmittagsvorstellungen, weil ihn stört, dass Sitznachbarn sich gegenseitig die Handlung erklären. Feldtelefone läuten. Die Nachbarin beim Gähnen aus dem Mund riecht und jemand von hinten die Knie gegen seine Rückenlehne presst. Er lässt sich in den Sessel sinken, geniesst die Leere des Saals. Es ist der Blick des wahrhaft Suchenden, der mit allen Mitteln herausfinden will, was das gänzlich Andere ist. Er schliesst die Augen und hört auf die Musik, die in diesem Haus vor dem Vorprogramm läuft. Erkennt im Kopfsatz das alle formalen Regeln sprengende A–Dur–Konzert von Wolfgang Mozart.

Der leicht muffig riechende Kinosaal ist so intim wie der Mutterleib. Langsam zieht der Vorführer die Beleuchtung herunter. Alle Menschen träumen, aber nicht auf gleiche Weise. Filmtitel sind wie Frauen, sie sollten leicht zu erinnern, aber nicht vertraut sein, anziehend aber niemals offenkundig, warm aber erfrischend. Kino ist der letzte Ort, wo man fremdgehen darf, ohne sich schämen zu müssen. Hier versteht man Realitätsflucht als Hingabe an das Unbekannte. Früher glaubte man, dass das Licht im Kino gelöscht wird, damit man die Bilder besser sehen kann, nun weiss man, dass es dunkel ist, damit die Zuschauer besser träumen können. Ein Film besteht aus Bildern und Tönen, die aneinander gelegt werden. Man muss sich nur seiner Wahrnehmung überlassen. Paradoxerweise überlässt man, sobald man im Kinosessel Platz genommen hat, seine Wahrnehmung voll und ganz einem anderen. Und so konfrontiert uns jeder Film mit einer anderen individuellen Sichtweise auf die Dinge, auf die Welt und die Menschen darin. Hollywood produziert einen Echtheits–Fetischismus, der glaubwürdige Bilder erzeugen möchte, auch wenn diese ganz offensichtlich Fake sind.

Erst an der Leerstelle zwischen Worten und Bildern kann die Fantasie entstehen. Film ist eine Sprache. Und Sprache besteht, neben Wörtern und Sätzen, aus rhetorischen Figuren. Der eigentliche Reiz des Kinos ist, mit unserer Wahrnehmung spielen, uns belügen, irreführen und verunsichern zu können. Und alles auch noch zu unserem Vergnügen. Dasselbe Bild kann in einem anderen Kontext eine andere Bedeutung annehmen, was wirklich und wahr ist, löst sich zwischen den Projektionen auf.

Der Vorführer setzt die 70mm–Projektion auf der leicht gekrümmten Leinwand in Gang. Hennes studiert die zu Fleisch gewordenen Sponsorenfantasien, die gutgelaunt Tabakwaren feilbieten. Teilnahmslos, mit entleerten Gesichtern schauen diese Models ihre Betrachter an, schön, aber unnahbar. Ein Spot aus den Folterkammern der Werbeagenturen folgt dem nächsten.

Low Frequency Oscillation. Ein elektronischer Zerrer auf der Tonspur kündigt den Vorfilm an, die digitalisierte Version einer 16mm–Produktion. Eine Hand legt ein Tape mit einem diabolischen Track in den Rekorder ein. Auf dem Schulhof rocken asiatische Girrrls in Uniform zu dreckiger Maschinenmarschmusik ab. Ihre Körper zucken und schweben zwischen Plattenbauten und Stahlgittern. Aus der dystopischen Brache der Lernkaserne erklingt eine Maschinenmusik, die in verlassenen Schulhallen den idealen Resonanzraum für detonierende Bässe, Synthesizerschauer und ausserirdische Signale findet. Mit einer Karambolage infernaler Beats verwandeln sich Unschuldsmienen der Mädchen in böse Fratzen. Ihre Uniformen stehen mit tausend Zipfeln vom Körper ab wie das gesträubte Fell einer erschrockenen Hyäne. Der polymorph perverse Regisseur des Vorfilms hat den Ursprungsmythos der maschinenverliebten Loop–Ästhetik des Techno in das repressive Setting einer chinesischen Metropole verlegt. Fernab der übersättigten Städte, wo exzessives Feiern noch eine subversive Haltung symbolisiert.

Die Saalbeleuchtung wird abermals eingeschaltet. Die Kassiererin versucht mit Eisverkauf dazuzuverdienen. Erneut vollzieht sich das Ritual von verlöschendem Licht und beiseite gleitendem Vorhang. Der Löwe brüllt. Es riecht nach Popcorn und Chewing–Gum. Noch tuscheln Einzelne. Nach dem Vorspann verstummen auch sie. Das Kino übernimmt die Funktion der Kirche. Andächtig lauscht die Gemeinde der Botschaft, fast glaubt man, das Popcorn fallen zu hören.

Was mit einer Explosion beginnt und sich langsam auf dem schmalen Grat zwischen Schmerz und Lust, Unterwerfung und Erniedrigung steigert, analysiert der Regisseur mit klinischen Blick und seiner seltsamen Obsession für das Gefälle zwischen der Zivilisation und ihren Niederungen. Mit atemberaubender Geschwindigkeit dreht er filmische Gewaltentladungen, in denen das Leben nur als Exzess und eine Beziehung nur als grausamer Unterwerfungsakt denkbar ist. Die Hauptdarstellerin sehnt sich danach, diese Grenze zu überschreiten, und so verliert sie die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit am Leitfaden der Sexualität. Hennes spürt direkt, dass hier Brutalität Verzweiflung ist, ein einziger Aufschrei der verletzten Kreatur. Der Regisseur inszeniert Liebesszenen wie Morde und Morde wie Liebesszenen. Dieser Film beginnt mit einem Kuss, schlägt auf dem Höhepunkt in kannibalistischen Terror um und wird blutiger Ernst.

Der Cineast liebt gerne gegen Widerstände an, daraus ergibt sich Intensität. Im Lichtspielhaus wirkt Liebe in ihren demütigendsten Spielarten als Kunstform. Eine zu zur pornografischen Mechanik depravierte Liebe trifft auf das sprachliche Ringen um die romantische Liebe und ihre Unmöglichkeit. Was das Kino zu einem erotischen Erlebnis macht, ist die Reibung zwischen dem Gezeigten und dem Nichtgezeigten. Innerhalb der dauerkopulierenden Körperutopie, die in diesem Film durch Schnitt und Montage begünstigt wird, bleibt dem Zuschauer keine Vagheit, die er ausfüllen könnte. Hennes möchte Menschen beim Spiel zusehen und nicht die Wunder der plastischen Chirurgie betrachten, enttäuscht steht er auf und nickt dem Platzanweiser Xaver Abmayr beim Verlassen zu.

Abmayr war zur Zeit der Bürgerrechtskämpfe ein junger Mann, wurde während der Sinnsuche der Hippie–Ära erwachsen, erlebte die ersten Höhepunkte seiner Karriere zur Zeit der überpsychologisierten Me–Generation. Seine humanistischen Werte versuchte er mit seiner affirmativen Haltung zu den neuen Technologien zu vereinen. Während die Dot–Coms die neuen Errungenschaften aus Informatik, Kommunikation und Biologie primär als Werkzeuge zum Geldverdienen betrachtete, versuchte er die Werte in der Technikeuphorie zu sehen. Dies reichte vom Glauben an die globale Demokratisierung durch die neuen Medien, über die Hoffnung auf ein medizinisches Utopia, bis zu den Möglichkeiten, die Grenzen des menschlichen Geistes mit künstlicher Intelligenz zu überwinden. Abmayr liess sich zu kühnen Utopien hinreissen… und rutschte während des Paradigmenwechsels von der politischen zur technokratischen Gesellschaft in die Dienstleistungsgesellschaft. Hehre Motive bewegen ihn keine mehr. Gemütshygiene steht im Vordergrund.

Dem Begehren entkommt Abmayr nicht. Nahezu alle Menschen meistern ihr Leben nurmehr, wenn sie regelmässig von Ekstasestromschlägen vorangepeitscht werden. Sie wollen aus den Schlägen, die sie erhalten, eine Sprache herauslesen. Sie wollen den Orgasmus verstehen und sich seiner als würdig erweisen. Sie erkennen den ganzen Liebesbetrieb als ein uraltes Gleichnis, in dem sie nun eben selbst mitspielen und durch das sie hindurch müssen. Der strenge Ernst von Prüflingen ist ihnen anzumerken. Sie fühlen sich, während sie miteinander intim sind, von der ganzen Gattung beobachtet und auf die Probe gestellt.

Dauernd flieht er vor seinem Schatten. Xaver Abmayr möchte sich entlasten vom Überdruck des Zorns auf den Unsinn, der ihm unablässig zugemutet wird. Die Pornografie steckt latent im Unterhautgewebe der hypermodernen Menschen. Auf der Leinwand bleibt Sex ein Spezialeffekt, der jede Lust tötet. Sexualität ist zu einer Ware geworden, bei der Attraktivität die Währung ist. Was zählt, sind ein guter Körper, Schönheit und Jugend. Niemand möchte wirklich auf den Teufelskreis aus Sexualität, Bestätigung und Selbstverliebtheit verzichten. Das Begehren läuft ins Leere und verzehrt sich selbst. Die erotische Nahrungskette bietet eine symbolische Sättigung. Abmayr erlebt Menschen, die sich in sexuellen Ego–Manien, Orgasmus–Beschwörungen und hysterischer Selbst–Bespiegelung ergehen und verzweifelt versuchen, Spass zu haben. Ihr pornografisch abgeschmirgeltes und postlibertäres Bildergedächtnis ist zu kaum einer Speicherlust mehr zu bewegen. Sie versuchen, sich durch Sex zu berühren. Setzen Sexualität als ein verzweifelt misslingender Versuch der Kommunikation. Die Pornoindustrie bringt das Dilemma auf den Punkt. Auf der einen Seite das Verlangen nach rationaler Beherrschbarkeit und perfekter Könnerschaft, auf der anderen Seite der Wunsch nach Ekstase bis zum Wahnsinn. Die Beine werden länger, die Hintern fester und die Brüste runder. Der Sex wird schneller, heftiger, schärfer, übermächtiger. Und irgendwann ist er nicht mehr da.

In Xaver Abmayrs Miene spiegelt sich eine verwirrende Mischung aus Trotz und Schmerz, aus Anspannung und Müdigkeit. Es ist das Gesicht eines Menschen, der unter grossen Anstrengungen überlebt hat – und dem nun das Weiterleben die letzte Kraft raubt. Das Leben an sich ist für ihn unerträglich geworden, es gibt nurmehr Momente, die er als schön empfindet und die ihm helfen, sich von einem auf den anderen Tag zu ziehen.

 

 

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Zombies, Erzählungen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Coverphoto: Anja Roth

Weiterfühend → KUNO übernimmt einen Artikel von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Jo Weiß von fixpoetry. Enrik Lauer stellt den Band unter Kanonverdacht. Betty Davis sieht darin die Gegenwartslage der Literatur, Margaretha Schnarhelt kennt den Ausgangspunkt und Constanze Schmidt erkennt literarische Polaroids. Holger Benkel beobachtet Kleine Dämonen auf Tour. Ein Essay über Unlust am Leben, Angst vor’m Tod. Für Jesko Hagen bleiben die Untoten lebendig.