XI

 

Transitraum des Nirgendwo. Falls es ein maximal beschleunigtes Nichts gibt, dann in einer rheinischen Fussgängerzone, in der Zeit und Ort aufgehoben sind. Max überschaut ein Areal, das an einen zugigen Platz angrenzt. Aus dem Boden strahlen Ellipsoide, diese Lichtinstallation erinnert ihn an eine Landebahn; in Design gegossene Architektur von bemerkenswerter Öde und Unbrauchbarkeit. Diese urbanistische Auffrischung versteht Max nicht im Sinne eines Gegensatzes zum Erhabenen, vielmehr als dessen Nachtseite, einen zum Verständnis des Zivilisationsprozesses unabdingbaren Bestandteil des Alltagslebens.

Spielfläche für urbanen Müssiggang. Um die trockengelegten Brunnen sitzen Sonnenanbeter, treiben sich Selbstdarsteller, Händler und Musikanten zwischen den Passanten herum. Eine Mischung aus Volksfest und kultureller Darbietung.

Für Freunde des schlechten Geschmacks ist ihr Auftritt der Höhepunkt, zwei Schauspieler, die kaum eine Zote auslassen und sich gegenseitig Worte wie Bonbons zuspucken. Sie sind Vergeblichkeitsartisten des Slapstick und zelebrieren die bittersüsse Tristesse des verdämmernden Ruhestandes. Im Lässigen werden sie nie nachlässig und im Kontrollierten nie verkrampft. Damit machen sie deutlich, dass man beim Abschied vor allem sich selbst zitieren sollte, um beim Anderen jene Erinnerung wach zu halten, für die man geliebt sein will.

Fasziniert ist Max von einem Possenreisser, dieser Darsteller ist vom eigenen Sarkasmus über den fatalen Weltlauf so angeekelt, dass er schief steht, das Gesicht schräg in den Wind stellt, nicht zum Lachen, nur noch zum höhnischen Schauen fähig. Er erschliesst Möglichkeiten der Entkoppelung von Körper und Sprache, von Rolle und Darsteller, von Performance und Sinnstiftung. Der Vergeblichkeitsclown beschwört einen Echoraum… marodiert mit einer Lampe umher, wie sie für Bauarbeiten an Strassen und Wegen benötigt werden, um bei Dunkelheit auf die Gefahr aufmerksam zu machen, und deklamiert:

»Was ich suche, fragt ihr? Die Zukunft suche ich, aber es ist jetzt schon so düster, dass ich eine Lampe brauche!«

Ansammlung menschlicher Seelenhaushaltsdefizite. Aus fröhlichen Fatalisten werden Edel–Clochards, die ihre eigene Lächerlichkeit konterkarieren. Es ist die Selbstüberhebung und das oberste Gebot dieser Vermasselungsschauspieler, öffentlich Schiffbruch zu erleiden. Sie sind gescheiterte Artisten, die über ihre Signatur leben. Echtheit ist nurmehr als inszenierte Unbefangenheit möglich.

Irgendwann ist Max des forcierten Tiefsinns müde. Er lehnt die Verkunstung des Leibes ab, bei der das Individuum vorübergehend zur Skulptur wird. Wie sich Schauspieler bewegen und Macht über die eigene Körpersprache ausüben, hält er für essenziell. Im Überlebenskampf des Global Villages wird das Fremde und das Vertraute nicht an kulturellen Grenzen geschieden, es bricht in den Produkten des konstanten Flusses der Codes und schnelllebigen Sensationen immer wieder auf.

Gegenwartsverdrossenheit gehört zum Kulturpessimimus. Max registriert, wie das Politische über das Ästhetische triumphiert; und intime Sujets eine vorsichtige Skepsis gegenüber den apokalyptischen Eruptionen einer Realität formulieren, welche die Nachrichtenmedien täglich ins Haus spülen. Das Mängelwesen Mensch figuriert zu einem Prothesenwesen, das seinen Warencharakter entblösst.

Magischer Fatalismus. In ihrer Traurigkeitsemphase macht Nataly niemandem etwas vor, sie erscheint im Profil zart, kühl, elfenhaft und feilt an einer Allianz von sanfter Sinnlichkeit und athletischer Toughness. Eine geschwungene Linie führt von der hoch gewölbten Stirn über die Andeutung eines Lächelns bis zum energischen Kinn. Der Teint schimmert durchsichtig. Sie ist ein Brüter und nutzt die Mussestunde im Garten des Cafés, um auf verschiedenen Leveln zu denken; registriert ein verkümmerndes normatives Bewusstsein und kann sich trotz ausgeprägter Problematiktransferresistenz nicht mehr aus der abschüssigen Diskussion heraushalten. Aus analytischem Denken heraus Entscheidungen zu treffen, ist etwas Weibliches. Nataly ist aus Neigung Forscherin, sie fühlt den Durst nach Erkenntnis und die begierige Unruhe, darin weiter zu kommen oder auch die Zufriedenheit bei jedem Erwerb. Sie ändert nicht ihr äusseres Leben, sondern den Orientierungspunkt ihres Denkens. An diesem Tag ist sie ganz Körper. Unruhig, flackernd, ungeduldig, stets auf dem Sprung. Sie winkt ihm zu.

»Wir würden unser Leben verschwenden, wenn wir nicht immer wieder lernend andere werden. Oft genug von Irrtum zu Irrtum, sich mit sich selbst und seinen Unfähigkeiten bekannt zu machen«, begreift sie die unterstellte Einzigartigkeit des Individuums als einen Trugschluss; dort, wo die hypermodernen Menschen meinen, besonders individuell zu sein, verhalten sie sich völlig rollenkonform. Wenn der Ich–Kern freigelegt, das allgemein Menschliche enthüllt wird, steckt unter allen Rollenidentitäten die grösste gesellschaftliche Dramatik. Erzählen ist eine Funktion der Neurose und das beste Mittel gegen sie.

Nataly berührt Max mit ihrer Verlorenheit, sie bewahrt so ihre anmutige Würde. Satzfetzen schweben in Sprechblasen aus der Vergangenheit heran und zerplatzen seifenblasengleich. Max weiss nicht nur nicht, was er erzählen soll, er hat auch vergessen, wie er erzählen muss und betrachtet angelegentlich die Gartenstühle aus Plastik. Das Material tut ihm nicht weh, weil es abgerundet ist. Er sieht auf Sitzplätze, die vom Kleinkind bis zum alten Mann jeder nutzen kann. Design muss nicht teuer sein. Produkte müssen in erster Linie erschwinglich sein. Einfache Objekte, die einfach zu produzieren sind. Als er sieht, wohin dieses Ideal geführt hat, ist er schockiert. Die Formel der Einfachheit ist beliebig geworden. Jeder bedient sich nur noch der Archetypen und alles sieht banal aus. Trotzdem steckt gerade in dieser Einfachheit sehr viel Geschmacksvollendung.

Nataly und Max sind beseelt davon, die Reste des europäischen Humanismus erleben zu dürfen. Nicht Bakschisch auf dem Schweizer Nummernkonto definiert den Reichen; wirklich vermögend sind jene Zeitgenossen, die bedenkenlos über eine Ressource gebieten, die das Wertvollste ist: Zeit.

Das Kapital an Werten und Daseinschancen, dass die vita activa des mündigen Bürgers ihnen in den vergangenen Jahren beigebracht hat, brauchen Nataly und Max als aufmerksame, einsichtige und zukunftsbewusste Haushälter seiner Kapazitäten. Die auf Zeit gewählten Entscheider räumen das Feld und lassen eine Ökonomisierung aller Lebensbereiche zu. Die Kulturtechnik des Weglassens, Unterscheidens und Verdichtens, aber auch der Heiterkeit und Gelassenheit wird ihr Programm für künftige Sozialisationen in der Lebenswelt. Jede Reise beginnt im Kopf. Ihre Fantasie braucht Sehnsuchtsbilder. Nataly und Max entzünden sich aneinander, fahren ihren Träumen und Wünschen aus Büchern nach.

 

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Vignetten, Novelle von A.J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.

Covermotiv, Schreibstab von Peter Meilchen

Weiterführend

Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Einen weiteren Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.