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Jede Bewegung ist Natalys Auftritt. Die Fremdheit in der eigenen Haut, das Lodern einer unerfüllten Sehnsucht, die ohnmächtige Wut auf die eigenen Skrupel: dies ist der Kern ihrer wundervoll verhaltenen Persönlichkeit. Sie besitzt eine Klarheit, die nur komplizierte Menschen verströmen. Der Türrahmen gibt sie frei. Jede Atempause = ein Untertitel. Jeder Schritt in den Raum ist taxiert. Natalys zeitgemässe Erscheinung weist Stil und Geschmacksgewandtheit auf. Ein paar Regentropfen auf den Haarspitzen geben ihrer Schönheit etwas morbid Zeitgemässes. Der rote Parapluie ergänzt sich mit der farblosen Kulisse.

Ihr Begleiter mit dem nachtblauen Anzug gereicht ihr zum Nachteil. Den Typ zeichnen Grazie, Noblesse, Witz, und Enthusiasmus aus. Für Momente wird in seiner Performance die dünne Wand seiner Gemütsverfassung sichtbar. Niemand erkundigt sich danach, wo sie ihn nach ihrem Rekurs aufgegabelt hat; aber alle sind neugierig und jeder denkt sich seinen Teil. Diese Hautevolee beherrscht die lächelnde Selbstverleugnung, ihre Mitglieder sind zugeknöpft bis unters Kinn und emotional erstarrt bis in die Knochen, dabei wahren sie stets coole Contenance und lässige Posen: Jede von ihnen eine Grosseinstellung wert. Aus ihren Posen entwickelt sich keine Position. Reflexe, nicht Reflexion, bestimmen die Szenerie.

Atmosphäre nachdenklicher Kälte und unterirdischer Spannung. Nataly und Max trotzen hartnäckigsten Definitionsattacken, behalten ihr Geheimnis, ihre eigene Aura. Sie beherrschen die Kunst, aus sich selbst ein Ereignis zu machen. Das verwirrt, denn es geht darum, eine Geschichte zu erzählen, in der echte Charaktere spielen. Die hypermoderne Generation ist an die Drehbücher ihrer Vorstellungen gebunden. Trotzdem hat sie ihre eigene Geschichte von der Figur, die sie spielen, im Kopf; und diese versuchen sie in der Konstellation, die sie auf dem Cat–Walk vorfinden, zu realisieren. Ihre Verständigung wird schlussendlich zu einer Bühne des Performativen, in dem Gebärden ausgetauscht und bearbeitet werden = virtuose Maskeraden und Inszenierungen künstlicher Authentizität.

Exorzismus im Rampenlicht. Glamour und Dekadenz werden befeuert durch Narkotika und Narzissmus. Tricks und Finten sind im Ringelreihen goutierbar; Max ist bis an die Grenzen des Autistischen selbstbezogen. Wunderbar, aber einsam und mit verheerenden Konsequenzen für die Abendgesellschaft. Nicht Virtuosität ist gefragt, sondern Egomanie, äusserste Konzentration, Direktheit und der Mut, diesen Abend Auge in Auge mit diesen Parvenüs durchzustehen. Ohne jeden weiteren Kommentar begibt sich die Gesellschaft zu Tisch.

Hier klaffen Klüfte. Die Schickeria führt mit forcierter Munterkeit eine freudlose Existenz der Vermeidung und der uneingelösten Träume. Auf Kontrollverlust folgt Desorientierung. Manipulation von Realität erweist sich als ein ermüdendes Verkleidungs– und Maskenspiel, vor allem aber als gleichmütig rotierendes Karussell nicht eben frischer, aber virtuos ausgestellter Ideen. Ihr aggressives Desinteresse ist berüchtigt. Das Establishment erlaubt den Spott des Machtlosen nur so lange, wie seine Einflusssphäre davon nicht bedroht ist. Wird dieser Kipppunkt erreicht, so dreht sich die Maschinerie um. Die Verhältnisse sind stärker als die Sprache. Wenn Gewalt die Sachverhalte schafft, taugt die Ironie kaum mehr als Waffe. In jeder Bewegung steckt nunmehr eine Erwartung.

 

 

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Vignetten, Novelle von A.J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.

Covermotiv, Schreibstab von Peter Meilchen

Weiterführend

Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Einen weiteren Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.