IX

 

Weichenstellung. Nataly flieht den Fensterplatz, als sich ein feister Spacko im Taschenmesserformat ins Abteil setzt, eine Zigarre entflammt und damit versucht, seinen alkoholisierten Atem zu maskieren. Sie begibt sich in die einzigsteklassenlose Gesellschaft, die das Rheinland bietet: das Zugrestaurant.

»Wir kennen einander nicht, aber nun habe ich Sie wieder erkannt«, begrüsst Max sie verschmitzt, die zusammengekniffenen Augen unter dem jungenhaft in die Stirn fallenden Haare, umschifft er seine Schüchternheit elegant.

»Falls ich Sie nicht bei der Arbeit störe…«, schützt sich Nataly mit einer Aura des prüfenden Blicks. Die Nähe, die sie sucht, korrespondiert mit der Distanz, die sie schafft. Ihre Sätze wirken wie permanent unter Strom und zugleich wie aus dem Eisfach. Ihr entgeht nichts, sie lässt aber auch wenig erkennen. Auf dem Resopaltisch wirft eine Lampe mit weissem Knopfschalter und Plastikschirm gedämpftes Licht auf das cremefarbene Spitzendeckchen. Vor seiner Nase dampft die Hühnersuppe der Mitropa. Sie bestellt heisse Schokolade + Sahne und Mohnkuchen, als er einladend die Notizen beiseite räumt.

»Wenn ich über den Tellerrand schaue, hilft es mir, eine Perspektive auf meine eigene Arbeit zu erhalten. Je vielseitiger Erfahrungen sind, desto vielschichtiger ist der Ausdruck«, rattert er los, damit keine unerfreuliche Pause entsteht, und beschreibt ein Werk, das aus einer offenen Wahrnehmung der Realität kommt und von einer dezidierten Handschrift geprägt wird: »Es geht um den Versuch, den Blick gleichsam zu konservieren und mit der Kraft der Vergewisserung die Seele des Augenblicks festzuhalten. Fotografie fixiert den Augenblick, als würde sie ihn einfrieren. Diese Bilder halten fest, was nicht festzuhalten ist: die Erscheinung einer Landschaft, eines Gegenstands, eines Menschen. Indem eine Fotografie den Zeitfluss unterbricht, vollzieht sie eine Inventarisierung der Sterblichkeit.«

Weberschiffchen der Textur. Als Nataly seinem Redestrom folgt, mit dem er neue Ideen aus seinem Thinktank fliessen lässt, vollzieht sie nach, dass diese Kunst mit Fantasie, Neuschöpfung und Zukunft zu tun hat. Max stellt moralische Sinnfragen aus intimer Kenntnis eigener Zerrissenheit heraus, zwingender, als mancher Zeitgenosse und lässt die Leerformeln des Kulturbetriebs mit abgehangener Lässigkeit auf ein liturgisches Maschinchen zurückschrumpfen, dass eine symbolische Deckungsreserve für sinnhungrige Gegenwartsbewohner bereitstellt. Sein blasierter Gesichtsausdruck ist eine Synthese aus Naivität und abgebrühtestem Durchblickertum, gepaart mit einer wohlkultivierten Dosis Unausgeschlafenheit. Es ist Max bedeutsam, dass er seinen eigenen Stil hat, aber dabei nicht prätentiös ist. Seine Art zu Mäandern ist nicht Schandstein, sondern privilegierter Zustand, in dem seine Inspiration zum Gedanken findet.

»Eindeutige Bilder entstehen nicht mehr, daher ist Verlassenheit kein Thema und konsequenter Nonkonformismus keine Daseinsform«, wittert Nataly den Tod in allen Begriffen. Die jeunesse dorée erscheint ihr als Kadaver, in dem Sprache ihr Zersetzungswerk vollendet; was noch zu leben scheint, sind Verwesungslaute. Nataly gibt den Toten auf, lässt ihn fortreisen, damit er nicht als Widergänger zurückkehrt, sie spart sich eine weitere Demütigung durch die Verwandtschaft auf der Beerdigung, da sie längst Abschied genommen hat; und begleitet Max zu der Vernissage, die er mit der soeben entstandenen Rede eröffnen soll.

Knotenpunkt. Die Kollegen warten auf dem Parkplatz des Bahnhofs. Jürgen steht neben dem dunkelgrünen Volvo und hält ein Stück Brot in die Höhe. Eine graugefiederte Möwe bremst ihren Flug ab und steht in der Luft. Peter schaut zu, wie der Allesfresser das Brot aufpickt. Nataly und Max kommen aus der Vorhalle und sehen das Licht durch die Federn des Vogels schimmern.

Charmeoffensive. Die Artisten sind erfreut über die zauberhafte Begleitung, die ihr Kustos absichtslos im Schlepptau hat, ihnen wird vollauf bewusst, dass die Kunst eine der schönsten Fluchtmöglichkeiten ist, mit Ankunftswillen.

Logistik, Information, Transfer. Bei der Fahrt zur Galerie ziehen sich Peter und Max auf den Rücksitz des Wagens zurück, um den Verlauf der Veranstaltung abzusprechen. Jürgen gönnt Nataly eine Stadtrundfahrt. Sein Problem, eine Tripel–Begabung zu sein, folglich in allen künstlerischen Bereichen seine Qualität zu besitzen, stellt sich für Nataly als inspirierender Vorteil dar. So wird ihr im Gespräch mit Jürgen das Zusammenwirken, die wechselseitigen Abhängigkeiten und Befruchtungen zwischen den künstlerischen Ausdrucksformen klar. Sie sehen sprechend und spazieren sprachlich durch die Bilderwelt, darüber tanzen die Noten. In dieser Leichtigkeit macht Jürgen klar, dass jedes Bild nur die Beschreibung eines Weges ist, das Nataly als Suchende gefunden hat. Kunst sollte bei aller Ernsthaftigkeit nie ihre augenzwinkernde Begleitung aufgeben, doch bei allem Spiel nie die Würde vor dem Gegenstand ihrer Betrachtung verlieren.

Bildbeschreibung: die Wandobjekte von Peter erinnern Nataly in ihrer Form und Einfachheit an frühägyptische Schreibstäbe. Ihre Gestaltung mit Fotonegativen stellt dabei einen gedanklichen Bezug zu der verschlüsselten Zeichensprache der Kartuschen her. Sie übertragen diesen kryptografischen Aspekt durch die zusätzliche Überarbeitung der belichteten Negativrollen beiläufig in einen zeitgenössischen Kunstausdruck. Diese Kunst kennt immer den doppelten Boden und sie zeigt ihn auch. Als Bindeglied zwischen zwei Negativanordnungen dienen die eingelassenen Täfelchen, die in ihrer Mitte Schriftrollen bergen. Peter lässt einen Mythos wieder zum Bild werden, er überschreitet das Künstlertum und liefert ihm so seine legitimierende Erzählung.

Zeitzeugenmosaik. Das Publikum sieht sich beim Sehen zu, weil diese Kunst den Betrachter einlädt, einen Farbraum zu teilen, gemeinsam in der Kunst zu sein. Die Besucher der Vernissage glauben, in jedem Schnappschuss einen Zipfel von der Schönheit des Lebens zu erfassen; Peter trennt Ort und Zeit voneinander, öffnet die Grenze zwischen seiner Bildwelt und dem Raum des Betrachters und macht die Erfahrung von Zeit zum bald gedehnten, bald blitzartig verdichteten Fokus der Kunst. Farbe dient nicht dem Beschreiben, sie ermöglicht ein Ineinandergreifen von Medium und Thema; zeichnet Wirkungskreise, in denen das Individuum mit den Übereinkünften seines In–Der–Welt–Seins vernetzt ist: Das mimetische Gedächtnis spielt im Bereich des nachahmenden Handelns seine Rolle; das Gedächtnis der Gegenstände hält die passenden Utensilien bereit; das kommunikative Gedächtnis bildet sich im sprachlichen Austausch. Der kulturellen Erinnerungsfähigkeit, in welche die drei anderen Beträchtlichkeiten ineinander übergehen, eröffnet Peter den Raum, in dem der künstlerische Rang überliefert wird. In der Werkstattgalerie bildet sich ein Bereich, in dem Bilder und Riten, Überlieferungen und Ideen, sich legieren und das jeweilige Kunstverständnis prägen, ohne das dies nach aussen hin in das Bewusstsein treten muss.

 

 

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Vignetten, Novelle von A.J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.

Covermotiv, Schreibstab von Peter Meilchen

Weiterführend

Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Einen weiteren Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.