Zwischenbemerkungen • Mensch der leisen Töne

Walter Helmut Fritz zum 80. Geburtstag am 26. August 2009

Im Gedicht finde ich eine Mög­lich­keit zu atmen; wach zu blei­ben; ein Dach über den Kopf zu be­kommen; […] in Au­gen­blicken der Mut­losig­keit nicht zu ver­gessen, daß etwas vor einem liegt, daß etwas of­fen­bleibt.

Walter Helmut Fritz

Sie taten es, und es war doch gar nicht möglich, es zu tun

Ich wußte nicht, wie mir geschah, als wir erstmals – fernmündlich im Jahre 2000 – miteinander sprachen. Unzweifelhaft vernahm ich seine Stimme am anderen Ende der Leitung – jedenfalls meldete sich diese mit dem entsprechenden Namen: die Stimme des leibhaftigen Walter Helmut Fritz, den ich wie einen Heiligen verehrte, seit ich seine Gedichte und Romane entdeckt hatte, über die Michael Buselmeier schreibt: Fritz‘ Interesse gilt nicht den sogenannten großen Dingen, den Staatsaktionen, sondern dem, was zwischen den Zeilen und Sätzen steht und das Leben tatsächlich ausmacht: den Möglichkeiten des Augenblicks, den kaum merklichen Veränderungen und Mehrdeutigkeiten, der Frage, wie der Mensch mit der Banalität seines Alltags, der Unbegreiflichkeit seines individuellen Schick­sals fertig wird.
Ich erinnere mich stark an die Vibrationen, die ich am ganzen Körper spürte, als ich nach dem Austausch konventioneller Höflichkeiten und dem Ablegen anfänglicher Befangenheit versuchte, Walter Helmut Fritz davon zu überzeugen, mir ein Gedicht für die erste handgeschriebene Anthologie in der edition bauwagen zur Verfügung zu stellen. Gern, meinte er nach meinen minutenlangen Erläuterungen kurz und bündig, und erst als ihm endgültig klar wurde, daß er das Gedicht 37mal würde schreiben müssen, kamen ihm sehr, sehr heftige Bedenken. 37mal??? Also, Herr Breuer, ich weiß nicht …
Wie gelang es mir, ihn trotzdem von dem Projekt zu überzeugen oder wenigstens doch zu überreden? Jedenfalls – hier liegt Wörter sind Wind in Wolken, die Anthologie von 2000 mit Autographen von Hans Bender, Aldona Gustas, Günter Kunert, Axel Kutsch, Andreas Noga und anderen Autoren auf­geschlagen neben mir, und ich lese den weiter unten zitierten Vierzeiler Vermutung in der originalen Handschrift von Walter Helmut Fritz.
Hans Bender, dem Fritz seit Ende der 1940er Jahre freund­schaftlich ver­bunden ist, hatte mich ermutigt, den direkten Kontakt zu Fritz zu suchen. Ich hätte das ohne diesen Anstoß nicht gewagt in jener Zeit, zu groß war der Respekt vor dieser litera­rischen Galionsfigur. Beim Telefonat am heißen 20. Juli 2009 erzählt Bender mir lachend, wie er damals mit Fritz überlegt hatte, ob dieser sich als Autor ein Pseudonym zulegen sollte. Es ist bezeichnend, daß Walter Helmut Fritz es nicht tat. Der Name wuchs mit den Jahren zu mehr als bloßem Namen: Er wurde Markenzeichen für eine lakonische Lyrik und Prosa, deren Wörter und Verse elektrisieren.

Angenommen, sie hätten die Lösung gefunden – was hätten sie damit gewonnen?

Wie geht das – elektri­sieren durch Wörter, durch Verse? fragen nun Menschen, die es genauer wissen wollen, und ich gerate in Erklä­rungs­not­stand, mag solche Fragen gar nicht beantworten, will bloß schweigen und die Wörter wieder- und wiederlesen. Bei den Gedichten von Walter Helmut Fritz entsteht bei jeder neuen Lektüre das Gefühl einer stets wachsenden Freundschaft, die alle Moden übersteht, schreibt Michael Krüger. Gestern abend las ich (zum wievielten Mal?) das Gedicht

Die Katze

In der Ekstase ihrer Reglosigkeit
lauschte sie in den über
und über erblühten,
atmenden, summenden Garten,
sein aus vielen Spiegeln
bestehendes, glänzendes Blattwerk,
in dessen geringer Bewegung
sich die Beute verbarg.
Mit einem Hieb wies sie deine Hand
zurück und drehte dir schweigend
den Rücken zu. Wie oft höre und lese ich das Wort Ekstase und denke gleichzeitig, nun macht mal halblang, alles nicht so wild, und „ekstatisch“ ist das alles schon gar nicht. Anders bei Fritz: Die Ekstase der Reglosigkeit ist keine Behauptung (in vielen zeitgenössischen Gedichten wird arg viel behauptet, was einem näheren Check nicht standhält), sondern sehr präzis bedachte antinomische Setzung. Hier fließt fernöstliche Weisheit und Erfahrung in eine banale Alltagssituation in Germania, die mich dennoch fesselt, fesselt wegen der Wörter und Bilder, ich erlebe den atmenden, den summenden Garten, das glänzende Blattwerk, verspüre den Hieb (der erbarmungslos zerstört, was scheinbar bloß locus amoenus war). Schließlich die barbarische Degradierung eines Lebewesens zur Beute: In den Augen der Katze (auch der des Nachbarn, die eben wieder, zum Glück vergeblich, hier bei uns auf Vogeljagd ging) ist das bloß noch Beute, schon nicht mehr atmende Kreatur.
Ein banales, kleines, stilles, in (bis auf Ekstase) alltägliche Wörter ver­wandeltes Gescheh­nis im Garten. Das lyrische Ich, ganz am Ende besonders deutlich in die Statisten­rolle verwiesen, protokolliert präzise, Hauptdarsteller ist seine Katze, alles nicht der Rede wert, aber wohl wert, ein klingendes, in sich geschlossenes Gedicht zu schreiben, das in sich geschlossen wirkt wie das Erlebnis, das es beschreibt oder besser: Sie waren auf der Suche nach den Bildern, in die sie eintreten konnten und in denen sie selbst an Deutlichkeit gewinnen würden. (Walter Helmut Fritz, Zwischenbemerkungen) In Nicholas Christophers Roman Franklin Flyer lese ich: Our sole mission should be to eternalize the things of this world. Take them in and transform their substance into spirit. That is how we become spirit.

Den Faden nicht verlieren

1956 ist eine Zahl, die für mich magische Leuchtkraft hat: Kein Wunder, denn in jenem Jahr wurde ich geboren. Ob das nun Anlaß zu ständigem Jubel ist, wage ich zu bezweifeln, und so lasse ich das einmal dahingestellt sein. 1956, und das ist die Kehrseite der Jahrgangsmedaille, ist auch das Sterbejahr von Gottfried Benn und Bertolt Brecht. Zwei der größten deutschen Dichter nicht nur des 20. Jahrhunderts legten den Stift aus der Hand, während ein anderer sich aufmachte, in deren Fußstapfen zu treten, vermutlich nicht ahnend oder gar hoffend und schon gar keinen Gedanken daran verschwendend, daß ein Verlag ihn über 50 Jahre später zum 80. Geburtstag mit einer Ausgabe der Werke in drei Bänden ehren würde.
Achtsam sein heißt der erste Lyrikband von Walter Helmut Fritz, der in eben jenem Jahr 1956 erschien und der gleichsam Fundament und Wegweiser für ein Werk wurde, das Gedicht, Prosagedicht, Roman, Erzählung, Aufzeichnung, Essay, Hörspiel und Theaterstück umfaßt.
Ich glaube, erst 1996 halte ich das erste Buch von Walter Helmut Fritz in Händen, dem bis 2008 32 weitere folgen. Je mehr Bücher ich von ihm lese, um so schätzenswerter wird dieser Autor mir. Als ich vor einiger Zeit erfahre, daß zum 80. Geburtstag am 26. August 2009 eine Werkausgabe geplant ist, läßt mich die Vorstellung daran zunächst ziemlich kalt. Ich besitze ja den Großteil der Bücher von Fritz (darunter viele Erstausgaben), was will ich da noch mit einer Werkausgabe, die schon wieder viel Platz fordert, wo ich seit langem eh um jeden Zentimeter Regal kämpfe?
Von einer Minute auf die andere alle Bedenken zerstreuend, besorge ich mir kurzerhand die Werke in drei Bänden: Auch wenn eine Reihe verstreut erschienener Text sowie die vielen kongenialen Übertragungen – vor allem aus dem Französischen – nicht aufgenommen wurden: Wenn ich den Schuber mit den drei Bänden betrachte, habe ich das Gefühl, den ganzen Fritz nun vollkommen bei mir zu haben. Ich hätte nicht für möglich gehalten, daß mehr als 50 Bücher in einer dreibändigen Ausgabe – in blaues Leinen gehüllt, das von einem blau beschrifteten weißen Umschlag aus volu­minö­sem Werkdruckpapier geschützt wird – zusammengebracht werden können, ohne daß das Ganze gedrängt wirkt. Gemeinsam mit den 33 einzelnen Büchern füllt der 12 cm breite Schuber nun ein Regalbrett, das allein das literarische Werk von Walter Helmut Fritz beherbergt.

Sie entdeckten keine andere Antwort als die, die sie lebten

In einer der Werkausgabe beiliegenden Pressemitteilung des Verlags Hoffmann und Campe lese ich: Alle Schriften von Walter Helmut Fritz sind getragen von einer zugewandten Neugier gegenüber dem Leben, der Achtung vor dem anderen Menschen, einer Liebe zur Wahrheit und natürlich zur Sprache. Ohne Bemühung oder falsche Erhöhung spiegeln die Texte sein tiefes Interesse an dem, was tatsächlich passiert. So gewinnt die Lyrik, aber auch jeder Gedanke über einen Schriftstellerfreund diese besondere Klarheit und Glaubwürdigkeit, die seine Stimme ausmacht. Als ich in den 1990er Jahren die ersten Gedichte von Walter Helmut Fritz las, war ich sogleich von dem gefangengenommen, was mich bis heute an diesen wie Kiesel geschliffenen Gedichten fesselt, deren Aura mich bei jedem Lesen neu bezaubert, denn hier spüre ich gelebtes Leben in jedem Wort und Vers pulsieren.
Wie es dazu kommt?
Ganz einfach, wie Fritz selbst erläutert: Ich nehme an, daß beides, sowohl Themen wie Stil, sich ergeben aus der Art, wie man lebt. Mir fällt in diesem Zusammenhang ein schönes Wort von Philippe Jaccottet ein, nämlich der Satz: „Die Schwierigkeit liegt nicht im Schreiben. Die Schwierigkeit liegt nur darin, so zu leben, daß das zu Schreibende dann natürlich daraus entsteht.“ Das ist für mein Gefühl der gute Versuch einer Erklärung, wie so etwas zustandekommt.
Der am 26. August 1929 in Karlsruhe geborene und seit kurzer Zeit in Heidelberg lebende Walter Helmut Fritz, Mensch der Zwischen­bemerkungen und leisen Töne, verfügt über eine der feinsten Lyrikstimmen im deutschen Sprachraum, deren Intensität und Präzision beim Lesen tiefe Spuren in den lyrischen Gängen des Gehirns hinterläßt: Sie versuchten, dorthin zu gelangen, wo man die Geräusche wahrnehmen kann, die dem Schweigen und dem Sprechen gemeinsam sind. Mit seinen Gedichten, Auf­zeichnungen und Romanen (deren eindringliche Verhaltenheit Peter Handke rühmt) ist er ein Eckstein im Bauhaus der Literatur. Dies wird nun durch die repräsentativen, von Matthias Kußmann edierten Werke in drei Bänden eindrucksvoll untermauert.
In Aus dem Hinterland schreibe ich: 2000 verstarb Ernst Jandl. Er hinterläßt ein umfangreiches, ein großes Werk. Jandl gehört zu den bedeu­tendsten und kreativsten Dichtern im deutschen Sprachraum. Seine lyrische Stimme wird man noch hören wollen, wenn viele längst in Vergessenheit geraten sind. Gemeinsam mit Rolf Dieter Brinkmann, Walter Helmut Fritz und Friederike Mayröcker bildet er mein persönliches vier­blättriges Lyrikklee­blatt (dessen fünftes Blatt ich mit Thomas Kling beschrifte).

Sie begannen zu verstehen, daß man das Spiel verlieren muß, wenn nicht alles, was man nachher sagt, falsch klingen soll

Axel Kutsch vergleicht die Welt der Lyrik gelegentlich mit der des Sports, so etwa in seinem Kommentar im Jahrbuch der Lyrik 2009 mit der des Boxens oder im Jahrbuch der Lyrik 1993 mit der des Fußballs. Mich auf diese sympathische Sichtweise einlassend, frage ich mich jetzt: In welcher Lyrikbundesligamannschaft möchte ich Walter Helmut Fritz spielen lassen? Selbstverständlich ist er, ein Meister des Leisen und Lakonischen (Peter Hamm) Spielmacher und Kapitän der Auswahl. Er wird das genauso selbstverständlich zurückweisen wollen, aber zum 80. Geburtstag muß er sich gefallen lassen, an erster Stelle zu stehen, der Star zu sein.
Walter Helmut Fritz und die Mitspieler Hans Bender, Rainer Brambach, Hans-Georg Bulla, Günter Bruno Fuchs, Hans-Jürgen Heise, Matthias Kehle, Johannes Kühn, Walle Sayer, Ludwig Steinherr und Norbert Scheuer bevorzugen das Kurzversspiel und kommen dennoch mit dem Wort aus der Tiefe des Raums. Sie setzen locker-ironisch links an, um rechts überraschend durch die Zeilen zu brechen. Ohne viel Aufhebens, gleichmütig, lakonisch, zielsicher, gespickt mit Fußangeln, antinomischen Wortpaarungen, überraschenden Kollokationen und der Sprache buchstabengetreu auf den Fuß schauend, jonglieren sie einfach und locker mit den Wörtern, spielen phrasenweise den melancholischen, gelegentlich den sarkastischen, bisweilen den subversiv klingenden, bevorzugt den unspektakulären Ton, mit dem sie Treffer um Treffer erzielen, unbemerkt vom Großteil des Publikums, das den tollen Typen der anderen Truppe zujubelt.

Da ging etwas verloren, das nicht vorhanden war

Der 1967 geborene Autor Matthias Kehle ist Karlsruher wie Walter Helmut Fritz, und er bekennt sich gern zum lakonischen Fritz-Sound, ein Sound, der – das zeigen die Jahrzehnte seit 1956 – unverwüstlich, haltbar und dauerhaft ist. In Die Schlüssel sind vertauscht lese ich: Er las Gedichte. Es gab eine Gedichtzeit. Gedichte, Welle um Welle. Das Gedicht, das dem anderen folgt. Bewegung, in der alles je Geliebte zum Widerschein wird. Die aparte Leuchtkraft dieser einfach aneinandergereihten Wörter ist hohe lyrische Kunst im Kleinen – in Muscheln versteckte Perlen, die nach 2000 offenbar nur noch von einem kleinen Leserkreis geöffnet und entdeckt werden. Um so höher ist das Engagement des Verlags Hoffmann und Campe zu bewerten, der diese Werke in drei Bänden von Walter Helmut Fritz in schwierigen Zeiten für Lyrik zwischen Buchdeckeln ermöglicht. In einem Gedicht Matthias Kehles lese ich:

er will
keine Bücher mehr lesen so weit
hat er es ohne sie
gebracht er weiß

wovon er
spricht

es gibt keine labyrinthe mehr
niemand kann ihm
vorwerfen sein leben
sei ein anderes Im Gegensatz dazu will ich allerdings noch immer mehr Bücher lesen (ohne sie komme ich nicht weit/er), ich fühle weiterhin diese leidenschaftliche Besessenheit, ohne die ich nicht lebensfähig bin: Wenn ich nicht lesen kann, kann ich nicht leben, und je mehr ich lese, um so stärker fühle ich mich in diesen anderen Leben, diesen Irrgärten (die auf englisch maze heißen, höchst amazing), in die ich zwischen zwei Buchdeckeln hineingehen kann – so, wie ich im Garten von Hampton Court kilometerweit durch den Irrgarten, the maze, gehe, bis ich doch wieder zurückfinde. Ich hasse alles, was sich nicht auf die Literatur bezieht, lese ich bei Franz Kafka.

Als es unsichtbar geworden war, begann es zu leuchten

Jeder vortreffliche ist ein aus der Tiefe des Daseins geholter Reim, betont Oskar Loerke, was gleichzeitig bedeutet, daß es so viele vortreffliche Reime nicht geben kann in den Werken der einzelnen Dichter. (Wie heißt es bei Goethe: Ob sich gleich auf deutsch nichts reimt, reimt der Deutsche kräftig fort.) Walter Helmut Fritz hat – seiner Art gemäß – selten auf offensichtliche Art und Weise gereimt – wenn, dann sind sie ganz ruhig, zurückhaltend, unscheinbar, die Binnen- und Vokalreime und gelegentlich auch die Reime am Ende wie im Vierzeiler

Vermutung

Wenn er unbeobachtet ist,
glaubt dieser Stein
(er wandert dann wahrscheinlich umher)
eine Schildkröte zu sein. Ein einfacher Reim, gewiß, und doch ein vortrefflicher: Stein und sein bilden ein Kollektiv, in dem jeder Steinesammler sich heimisch fühlt. Seit einigen Jahren bin ich ein solcher. Ich wandere – zumeist unbeobachtet und vornehmlich in Zeiten, wenn ich nicht schreiben kann – umher durch die Wälder und Felder, hebe Stein um Stein auf, Kalk- und Sandstein, Schiefer und Quarzit, trage sie traumwandelnd in den Garten, lege sie in kunstvoll akribischer Anordnung aus und glaube in jenen Augenblicken, ein Mensch zu sein: Stein oder nicht sein, das ist hier die Frage, auf die Walter Helmut Fritz, in dessen Gedichten Steine immer wieder verlebendigt werden, mit einer weiteren Zwischenbemerkung antwortet: Daß das Weinen noch im Stein sich fortsetzt, daß es Stein wird und doch Klage bleibt: Niobe zeigt es am Berg Sipylus bei Magnesia.

Im Zusammenhang mit einem neuen Gedicht von Axel Kutsch und des sich daran anschließenden Briefwechsels mache ich mir weiter Gedanken über den Reim. Kutsch erklärt kategorisch:

Kurz und klein

Reimen sei nicht
sehr modern?
Mag sein. Ich reime
aber gern.

Um dennoch
sehr modern zu sein,
hack ich die Wörter
kurz und klein. Ich lese das Gedicht mehrfach, und das Gedicht, mit dem ich postwendend antworte, schreibt sich wie von selbst:

das große ausweglos

nein dieses gedicht
wird nicht geschrieben und

darf es auch keinesfalls werden
zwar wird jetzt eine zei-

le gebrochen
hat lyrisches ich

bereits lunte gerochen?
schon haben reime sich eingenistet

(fort damit und ausgemistet)
wort für wort und irgendwie

riecht es scharf nach poesie
kriecht da ein dichter zu kreuze?

schluß jetzt und schwör nein
kein gedicht

wenn doch verlör man noch
glatt (sein gesicht) Ich drucke es aus und schicke es an Kutsch – kongenial Robert Creeley nacheifernd, der einst das immerhin auch mit einem starken Reim ausklingende Gedicht The Conspiracy schrieb:

You send me your poems,
I’ll send you mine.

Things tend to awaken
even through random communication.

Let us suddenly
proclaim spring. And jeer

at the others,
all the others.

I will send a picture too
if you will send me one of you. Im beigefügten Brief, dem ich ein weiteres Gedicht beilege, danke ich Kutsch für die lyrische Inspiration. Seine Gedichte sprühen vor Witz und Spiellaune, bergen stets eine versteckte Lunte, die sich beim Lesen unweigerlich entzündet. Und wenn die Entzündung zu einer lyrischen Erhitzung führt und kurze Zeit später ein neues Gedichtfeuer lodert: Na bravo. Jedenfalls kommt Kutschs Antwort wiederum ganz geschwind: Reime gehören ausgemistet? Kann man, darf man noch reimen? Wenn’s nicht bieder geschieht, wenn man mit dem Reim spielt, jongliert – auf jeden Fall. Dieses Spiel ist ja auch in das große ausweglos enthalten – Spiel mit dem Reim, Spiel mit dem Genre. Sehr schön auch das auf Fritz bezogene Gedicht:

beim lesen der gesammelten gedichte
von walter helmut fritz

stille und liebe ==> wörter-
triebe

kein getuschel
aus der muschel

im ohr
der chor

von
vor zeiten

bei-
nahe:
e w i g –
k e i t e n
Was sie nicht waren, schützte sie. Es ist kein Grund, daran zu zweifeln

Das lyrische Programm des Hamburger Verlags Hoffmann und Campe verbinde ich in erster Linie mit dem Namen Walter Helmut Fritz. Ich bin, wie ich bereits in den ersten Zeilen dieses Aufsatzes einräume, der spektakulär unspekta­kulären Poesie dieses sensiblen Seismographen, der insbe­sondere die aller­kleinsten Erschüt­terungen registriert, erkennt und in Wörter verwandelt, vom Lesen der ersten Gedichte an hoffnungsvoll verfallen – Gedichte, die es fertig bringen, zugleich trocken zu sein und luzid, lakonisch und leuchtend, registrierend und schwermutsvoll. (Karl Krolow)
Wo immer ich die Gelegenheit finde, fahnde ich nach vergriffenen Titeln von Walter Helmut Fritz. Während eines Aufenthalts in Speyer entdecke ich beispiels­weise Schwierige Überfahrt von 1976 in einem Antiquariat. Werkzeuge der Freiheit ersteigere ich bei Ebay. Und während ich in den letzten Tagen Zugelassen im Leben von 1999 lese, das ich bei Booklooker entdeckt habe, denke ich: Walter Helmut Fritz ist sich über alle Jahre und Zeitläufte hinweg total treu geblieben. Er hat von Beginn an den längst legendären lakonischen Stil mit den immer wieder aufblitzenden, oft nur angedeuteten Über­raschungs­momenten gefunden. Was er nicht war, wollte er nicht werden, dabei ließ er sich – naturgemäß – beeinflussen von dem, was er las, zur Kenntnis nahm, ins Deutsche übertrug, folgte jedoch nie einer modischen Strömung, die schnelle Erfolge versprach, setzte sich nie ab in irgendwelche Metropolen, wo die Fleischtröge gefüllter gewesen wären als im badischen Hinterland der nahe an der französischen Grenze gelegenen Stadt Karlsruhe.
Dennoch: Wie sehr Fritz‘ literarische Arbeit geschätzt wurde und wird, zeigen seine Berufungen in verschiedene Literaturpreis-Jurys und mehrere große Akademien: beispielsweise in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt, und in die Mainzer Akademie der Wissen­schaften und der Literatur – deren Vizepräsident er seit zehn Jahren auch ist. Dort wirkt er unter anderem an der Verleihung des Joseph-Breitbach-Preises mit, der mit 50.000 Euro höchst­dotierten Auszeichnung im deutschen Sprachraum. (Matthias Kußmann zum 75. Geburtstag)
Und das völlig zurecht, befindet auch Michael Buselmeier: Unter den bedeutenden Lyrikern der Gegenwart ist Walter Helmut Fritz einer der stillsten. Verhaltenheit, Geduld, Gelassenheit des Blicks kennzeichnen ihn und sein Werk: die Gedichte, die Kurzprosa, auch die aus kleinen Einstel­lungen zusammen­gesetzten Romane, mit denen er gegen den Lärm in der Welt anschreibt. Doch zugleich geht von diesen Texten ein irritierendes Leuchten aus, ein Fünkchen Fremdheit, das den Leser zum Innehalten zwingt und ihm hilft, Sprache und Gesellschaft anders zu sehen und genauer zu verstehen.
Ich lasse die Jahrzehnte von 1956 bis heute Revue passieren und mache mir bewußt, welchen literarischen Stürmen dieser besonnene Mensch, ein Musiker des Schweigens (Harald Hartung) ausgesetzt war. Statt sich irgendwo einer Modeströmung anzu­schließen, hielt er ruhig an Überzeu­gungen fest, die er – aufmerksam, bedächtig – bei jeder sich bietenden guten Gelegen­heit in Worte verwandelte. Hören wir Peter Ettl:

Gedichte, Gedichte, Gedichte. Wer findet sich heute noch zurecht in den Regalen? Wer kann sogenannte moderne Gedichte noch deuten? Immer wird nach einer neuen Faszination gesucht, immer wird ein neues Feld bestellt mit ungepflüg­ten Worten. Einer, der seit Jahrzehnten darüber hinweggeht, ja: nicht schreitet, ist Walter Helmut Fritz. Seine Gedichte habe ich schon verschlungen, als Eich und Bachmann und Benn und Konsorten Verse auf dem absterbenden Ast ausbrüteten. Und als die konkrete Poesie einfiel wie ein thebanisches Heer mit linksverstärkter Phalanx und als Brinkmann und Co. die Szene aufmischten in den 70ern und 80ern. In all dieser Zeit – bis heute – hat ein Lyrikautor seinen Stammplatz in meinem Bücherregal: Walter Helmut Fritz. All diese Wortgefechte hat er überlebt und schreibt unbeirrt weiter in seinem heiter-elegischen, leise-explodierenden Stil, der eben Jahrzehnte überdauert, all das Piercing-Getue und Tatoo-Geschramme der Neuzeit überlebt hat. Einer, der ganz leise und ganz böse an die Dinge des Lebens herangeht, der wird überhört und übersehen vom Multimedia-Getue der Jetztzeit.Maskenzug, 2003 erschienen, setzt mit einem Zitat von Véra Linhartová ein: Was wir aussagen können, geht in Worte ein. Die Worte stellen sich zwischen uns und unsere Vorstellung (…) wie ein neues und unabhängiges Element, wie ein dritter Partner im Spiel. Langsam kommen sie herbei und reihen sich aneinander; sie bilden einen durchsichtigen Vorhang, von dem man nicht sagen kann, ob er uns mit unserer Vorstellung verbindet oder ob er uns von ihr trennt … Dialektisch strukturiert, operiert Fritz stets nur mit wenigen Wörtern, spart aus, deutet an und verschweigt, wie Harald Hartung es zusammenfaßt. Dies ist – b u c h s t ä b l i c h – Poesie ohne Aufwand:

Lange

ließ er sich von Schönrednern
ohne Not nasführen,
wollte manches nicht wissen.
Heute seine Bemerkung,
diese Kadaver von Tieren
auf Scheiterhaufen,
im Aschenregen
seien auch wir.
Er starrte in den Qualm,
auf die Keultrupps.
Dabei ist Frühling, überall
drängen Krokusse aus dem Boden. Weiter durch die Werkausgabe segelnd, deren Register die enorme Bandbreite der Bildung, Interessen und Erlebnisse des belesenen und vielgereisten Walter Helmut Fritz zeigt (Viele von Fritz‘ Texten sind – als Kontrast zum Gerede – durch konzen­trierte Lektüre, durch Bilder, Land­schaften und Reisen angeregt. Es ist etwas Geheimnisvolles in ihnen, das sich nicht leicht erschließt, betont Michael Buselmeier), lande ich in Offene Augen

Während Dämmerung

sich auf den Teich stahl,
stießen sich Frösche
vom Ufer ab

knurrten

bis lauernd
ein Graureiher erschien
und sie augenblicklich

verstummten. Verstummen will ich nun auch. Heute ist Samstag, der 22. August 2009. Die Hitze ist gebrochen, in der vorletzten Nacht hat es reichlich geregnet, die zuvor ein wenig müde wirkenden Bäume, Pflanzen, Blumen und Gräser wirken wieder frisch, die Steine blankgeputzt, Schönwetterwolken ziehen bei etwa 20 Grad über Sistigs Hügel, Wälder und Häuser. Den Vogelbeerbaum im Blick, blättere ich weiter in den Büchern von Walter Helmut Fritz, stoße auf Ladislav in Die Schlüssel werden vertauscht: Jahre in Prag. In Paris. Was er aber vor allem liebte: die Wüste. Er liebte die Fata Morgana. Wenn er zurückkam, sagte er: Was für ein Hirngespinst ist die Wirklichkeit.
Und ankere schließlich in Sehnsucht:

Die Wolke

Wir saßen bei Schafkäse,
Oliven, Tomatensalat,
als wir die Wolke sahen,
die ihren Schatten
über einige Häuser des Dorfs legte,
dann über den Hügel,
dann ihre Fahrt
verlangsamte,
anhielt,
und in der leuchtenden Luft
Wurzeln schlug

 

* * *

Weiterführend Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.

 

* Die Überschriften der einzelnen Passagen aus Zwischenbemerkungen sowie die eingestreuten Gedichte und Aufzeichnungen von Walter Helmut Fritz werden zitiert nach:
Walter Helmut Fritz. Werke in drei Bänden. Herausgegeben von Matthias Kußmann. Hoffmann und Campe, Hamburg 2009