VIII

 

Vorteilhaft an Schieflagen = etwas kommt in Bewegung. Nataly vermeint einen Bekannten zu sehen, ruft seinen Namen. Der durchnässte Max dreht sich herum. Nataly ist verwirrt. Sie murmelt eine Entschuldigung. Max will sie aufhalten, ihn fasziniert jene Art von Cleverness und Alles–schon–gesehen–Müdigkeit in ihrem Blick… scheitert jedoch an seinem Zweifel. Es geht ihm um eine Form der Romantik, die nicht mehr so lange durch Kopiersysteme gejagt werden muss, bis sie jegliche Brisanz verloren hat, im gelungenen Fall: um reine Magie.

Lichtreflexe. Die hypermodernen Menschen jagen der Sichtbarkeit nach; sie erreichen ihre Identität im Erzählen, im Zweifelsfall geben sie der Pointe den Vorzug vor der Geschmackssicherheit. Ihr Leben ist ein Clou, die Liebe der Sprachwitz, der sich auf sie machen lässt, sie tauchen ihre Vorsätze in ein Brillantfeuerwerk aus Worten, ahnen den Verlust der Nachsätze und den Lustgipfel der Nachzünder. Liebe wird zu einem symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium. Die komödiantische Vorspiegelung falscher Identitäten sorgt für ein entspanntes Klima. Max mag nach der Schrecksekunde nicht zupacken, er lässt die Arme sinken und sieht ihr wehmütig nach.

Der Hauptbahnhof: Kathedrale des Industriezeitalters, ein stilles Denkmal minuziös geregelter Betriebsamkeit. Menschen, die umherlaufen, als würden sie an Fäden gezogen, immer in Richtung geradeaus. Nataly geht mit rigoroser Gelassenheit an der Ladenpassage vorbei durch den langgezogenen unterirdischen Fussgängertunnel zur Auskunft. Der Fahrplan sagt ihr: Bahnsteig 3.

»Eine Fahrkarte, von hier nach dort«, verlangt sie am Schalter. Die Plattform ist ein sauberer Bahnsteig. Nataly setzt sich auf eine Bank. Versteckt sich hinter einer Zeitung. Starrt in den Himmel, solange bis die Augen tränen und sich ihr Blick in den Hochleitungsmasten verheddert. Die Zeitung wirft sie überdrüssig in einen Papierkorb, sie sagt nichts Neues, nur das Datum hat sich verändert. Ein Zug fährt ein, gegenüberliegendes Gleis. Menschen mit Gepäck, angefüllt mit Gedanken und Erwartungen gehen auf andere Menschen zu und vollziehen Rituale. Sie wollte es einst so gut haben, wie diese Menschen, es ist ihr schlecht bekommen.

Der rote Sekundenzeiger der Bahnhofsuhr bewegt sich in einem monotonen Rhythmus im Kreis. Bahnarbeiter reparieren ein Gleis, ihre gelben Helme bewegen sich im Takt der Arbeit. Nataly versucht auf ihre Befindlichkeiten einen touristischen Blick zu entwickeln. Der Schienenbus fährt ein, die Menge gerät in Bewegung. Aussteigende müssen Spiessruten laufen. Es lauert ein überanstrengter Klumpen, der drängelt, um einen Fensterplatz zu ergattern, um nicht das Gegenüber ansehen zu müssen. Menschen mit zum Bersten gefüllten Einkaufstaschen, auf denen grelle Aufdrucke Farbe ins Spiel bringen, Menschen mit anderen Zielen. Ihre Motive sind erschreckend plausibel: sie gipfeln in der Vorstellung, durch den Ausstieg aus einem kranken Milieu würde man gesunden.

»Sonst noch jemand zugestiegen?«

Der Kontrolleur knipst ihre Fahrkarte. Er hat den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als Löcher in Pappe zu stanzen. Nataly sieht zum Fenster hinaus, in die ständig wechselnden Landschaften. Beobachtet eine grau gefiederte Möwe, die dem Zug in Richtung Horizont voranfliegt. Die Sonne kocht auf Sparflamme.

 

 

***

Vignetten, Novelle von A.J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.

Covermotiv, Schreibstab von Peter Meilchen

Weiterführend

Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Einen weiteren Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.

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