IV

 

Szenenwechsel, hinter der Kuppe. Stilistin des Unterwegs–Seins. Nataly pflegt eine tiefe seelische und körperliche Beziehung zum Rheinland, seinem Verfall, den Gerüchen, die dieser Landstrich bewahrt. Ihre Fahrt führt sie an den Ort der Jugend, den Erfahrungen der ersten Liebe, dem Versuch das Erleben des anderen zu integrieren, die Zurückweisungen, die sie sich ein Leben lang gemerkt hat.

Flickermaschine. Dem Reiz des Zwielichts folgend, mit gleichmässigem Tritt in die Pedale des Fahrrads, durch leere Strassen fährt sie an dem Haus vorbei, in dem sie ihre Kindheit verbracht hat. Der verwilderte Garten umschliesst das Gelände. Emporragende Bäume umstehen die zur Giebelseite sich öffnende Rasenfläche. Zwischen Farne, Schachtelhalme und Buschwerk zieht sich ein versteckter Pfad. Der im Winter abgestorbene Wacholder flammt rostbraun. Das Haus ist bis zur Traufe von dichtem Efeu überzogen und zur Wetterseite hin mit Lärchenschindeln versehen. Die Felder hinter dem Gartenzaun biegen sich einer fernen Niederung entgegen. Eine alte Linde streckt ihre Äste in den blassen Himmel. Aus einer Bibliothek knistert ein Grammophon eine Aufnahme des Figaro in die Vorgärten und lässt Cherubino „Non so più cosa son, cosa faccio“ seufzen. Im Vorbeifahren beginnt Nataly über den Klang des vergehenden Moments nachzusinnen…

Zeitkapsel. Behutsam stülpt die Nacht ihren Zylinder über die Schlafgemächer des Veedels. An einer Reihe flackernder Gaslaternen vorbei gelangt Nataly zu der alten Brücke, die als einzige den letzten Krieg unbeschadet überstanden hat. Der Geruch von verdampfendem Regen auf den Pflanzen kitzelt ihre Nase. Betört vom Nachtatem steigt sie ab. Legt geflissentlich ihr Fahrrad in das nasse Ufergras. Die Aluminiumfelgen spiegeln das Mondlicht gegen die glatt geschliffenen Steine. Während Nataly genüsslich den Rauch einer Zigarette einsaugt, lässt sie die Bewegungen des Tages ausklingen. Blickt dem Strom nach, der seinen Lauf nimmt. Der Fluss tut seine Pflicht, er fliesst immer in eine Richtung und trennt die Ufer. Einerseits befördert er die Menschen, andererseits separiert er sie. Nataly betrachtet das Schwemmland, die sandigen und die bewaldeten Ufer, die von russigen Industrieanlagen gesäumt sind, hört die Schiffe mit dem tuckernden Dieselmotor. Hier wie dort erreicht der Schwimmer sein Ziel auch bei günstiger Strömung nicht ohne eigenes Zutun. Unstillbare Sehnsucht. Nataly fühlt ein Fernweh… das Reisen auf dem Wasser ist für sie stets ein mythischer Akt, gleichsam ein Bewusstseinsstrom. Die Natur, der Fluss, das Meer, all das bedeutet für Natalyin gleichem Masse Freiheit wie Auflösung.

Selbstverwirklichung und Selbstvernichtung: Eines geht nicht ohne das Andere. Frauen sind das stärkere Geschlecht; in der Liebe werden sie graziöser schwach als Männer… Virtuosinnen der Hingabe. Das Erleben der Liebe war für Nataly völlig archetypisch. Das Unsagbare und Unvergleichliche ihrer Liebe wurde durch nicht–sprachliche Kommunikation bekräftigt; ihre Liebe überbrückte die Zeit zwischen der unmittelbaren Zweisamkeit. Alles, was Natalytat, ging ihr Gegenüber unmittelbar an. Ihre Trauer ist daher so unendlich masslos wie ihre symbiotische Beziehung… der Tod ihres Partners riss eine Lücke in ihr Leben, lies einstürzen, was unverrückbar schien. In einem Lebensschwebezustand lotet Nataly die Abgründe des Alltags unmittelbar aus; zuerst empfindet sie die Orientierungslosigkeit als Last… dann ihre absolute Souveränität als Freiheit.

Offenkundige Asymmetrie. Das Sehen der Nostalgikerin gleitet ins Traumhafte. Nataly beschwört die Kosmogonie des Kontinents, aus denen das alte Europa heraufsteigt. Unter der Oberfläche liegen Vergangenheiten begraben, Geschichte im buchstäblichen Sinn. Sie senkt ein Echolot in die Kulturgeschichte.

Türwächter der vergangenen Zeit. Es ist nicht die Wiederkehr des Ewiggleichen, sondern ein Lauf, getragen von der Immanenz der Welt. Die Ränder dieser Welt bleiben unsichtbar, ebenso der Grund, aus dem die Welt die Kraft der Erneuerung schöpft. Die Anfänge dieser Besiedlung liegen im Dunkel der Vorgeschichte. Wahrscheinlich begann die Geschichte dieser Spezies, bevor diese Erde existierte. Mutmasslich sind die Bewohner des Rheinlands Emigranten aus anderen Galaxien, ihnen ist nichts Menschliches fremd, aber auch nichts Unmenschliches.

Frivolitätsepoche. Nataly beschäftigt die Spannung zwischen der Schönheit des Einzelnen und seiner Sehnsucht, zu einer Gemeinschaft zu gehören. Ihr ästhetisch sanktionierter Distanzblick offenbart die Ausgesetztheit der kreatürlichen Existenz: die Bedingung, dass die Welt nicht für den Menschen gemacht ist.

Natur ist ein Rohstoff, aus dem die Zeit den Charakter der Landschaft meisselt. Was Nataly umgibt, sind die Aggregatzustände des festen Landes, des flüssigen Wassers, des wehenden Dunstes: das Zerfliessen, der Schleier, der Traum. Auf sie richtet sich ihr Blick in einer Form des schürfenden Lesens und Rekonstruierens, mit der sie archäologische Feldforschung betreibt: Sie will den Blättern beim Entfalten zusehen, dem Gras beim Wachsen zuhören und dabei die Heilwirkung der Natur erfahren. Verschwindet mit den Augen in der Landschaft, sieht atemlos dabei zu, wie sich die Welt als Rohmaterial darstellt, sich der Blick durch das Dickicht der Dinge windet und sich die Krümmung des Horizonts in seiner ganzen Schönheit zeigt. Nataly beobachtet das Firmament wie durch ein Teleskop und fragt sich, was die Welt im Äussersten zusammen hält. Erinnerung ist eine Abenddämmerung im Schatten der Wahrheit. Der einzige Besitz, den sie hat, ist die Vergegenwärtigung dessen, was aus ihr geworden ist: ihre Identität.

Tendenzen lassen sich überall entdecken, wo man sie ergründen will. Es scheint immer noch so zu sein, als schauten die Engel rückwärts, während der Wind des Fortschritts in ihre Flügel bläst und die Himmelsboten nach vorne schweben lässt.

Flimmerblick. Auf blassrosa Klangwolken unterwegs. Nataly blickt dem Seraph sehnsüchtig hinterher… betrachtet es als Privileg, dass sie sich ihrer Spiritualität bewusst sein kann. Ihr wird die Welt zum Symbol–Steinbruch. Sie schaltet vom unbewusst–natürlichen Modus in eine bewusst–gefälschte Manier um… fällt in einen Abgrund… dort wo man fällt, ohne je auf dem Grund zu zerschellen…

Rekurs. Hinter den zärtlich gehegten Requisiten verbirgt sich die Gewissheit, aus dem Paradies vertrieben worden zu sein und nur im Medium beschwörender Erinnerungen dorthin zurückkehren zu können. Natalys unstete geistige Arbeit bestimmt die sprunghafte Struktur ihrer stetigen Wiedererneuerung, mit der sie ihre individuelle Tragödie aufarbeitet. Sie versucht, hinter die Mechanismen, die geheimen Codes der menschlichen Interaktion zu gelangen, will herausfinden, was es ist, das ihre Mitmenschen immer wieder aufstehen lässt, wenn sie die Umstände zu Boden geworfen haben. Die Zukunft leuchtet so hell, dass sie eine gefälschte Designer–Sonnenbrille tragen muss, um nicht geblendet zu werden. Die Abendsonne verkleidet sich in Moof.

 

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Vignetten, Novelle von A.J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.

Covermotiv, Schreibstab von Peter Meilchen

Weiterführend

Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Einen weiteren Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.

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