II

 

Überblendung. Nataly tappt in die Echokammer des Selbstzweifels. Sie schickt ihre aufgestauten Gefühle durchs Mahlwerk ihrer Kieferknochen, vermag zu schluchzen und ihre Tränen im selben Augenblick als Produkt einer sinnlosen Entgleisung zu verabscheuen. Weinen wird zum Scheibenwischer für ihre Seele.

Freudlose Gasse. An der Häuserfront zerlaufen die Farben zu einem visuellen Pampf. Atemloser Erfahrungshunger, ihre gefrässigen Augen mäandern durch den dichten Dschungel empirischer Daten. Nataly sehnt sich zurück nach einer naiven Ästhetik der Unmittelbarkeit, einer Arte povera ohne Attitüde, einem Neorealismus ohne Habitus, um im Zentrum der Dinge glücklich zu werden.

Schlupfwinkel der Sichtbarkeit. Leuchtkästen strahlen die kühl kalkulierte Kälte des Designs aus. Im Spiegelblick reflektiert sich in der Schaufensterscheibe der Galerie ihre Sichtweise. Sehverbote verstärken ihr Begehren, Sinnlichkeitsverbote fördern vor allen Natalys Augensinn. Vor dem Kunstwerk ist sie immer allein und meist kommt es zu keinem Dialog. Mit dem Verzicht auf die Künste löscht die wissenschaftsgläubige Wirtschaftswelt das kollektive Menschheitsgedächtnis aus. Was Nataly in einer Atmosphäre verdichteter Konzentration im Glaskasten der Galerie als Kunst erkennt, ist nicht das, was sie wahrnimmt. Sie blinzelt, strebt adriadnefadenscheinig abwärts als Flözgängerin in den Stollen ihrer Seele.

Ausschlag in der Amplitude des permanenten Lärms. Nataly entflieht dem Bannkreis, der ihren Blickwinkel einengt. Sie schliesst die Augendeckel, findet traumwandlerisch ihre Fussspuren im aufweichenden Teer, tapst seitenverkehrt zur Kreuzung zurück. Entdeckt ihren Ausgangspunkt. Winkelt ihr rechtes Bein an die linke Kniekehle. Öffnet die Augen. Steht vor ihrem Fahrrad. Kettet es von dem Hinweisschild los. Schwingt ihr Bein über den Sattel. Pustet durch. Auf dem Fahrrad gelingt es ihr, das innere und äussere Gleichgewicht zu halten.

 

 

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Vignetten, Novelle von A.J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.

Covermotiv, Schreibstab von Peter Meilchen

Weiterführend

Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Einen weiteren Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.