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Blinklicht. Zuerst sieht Max sie an einer Ampel. Auf dem rechten Bein stehend, den Fuss ihres linken Beins in der bestrumpften Kniekehle angewinkelt, an die rechte Kniescheibe gelehnt. Sie erinnert in ihrer fragilen Statik an einen Wasservogel mit hohen Stelzen, geknicktem Schnabel und karminrotem Gefieder, der sich mit Anmut inmitten einer zweibeinigen Menschenmenge hält, die mit spitzen Ellenbogen die förderlichste Startposition unter sich ausmacht.

Zoom. Als Ethnograf der Libido richten sich seine Wimpern magnetisch nach ihr aus wie Metallspäne. Rätselwesen sind für Max anziehend, wenn sie bei ihm das Gefühl verursachen, dass sie ihm ganz vertraut sind, und desgleichen äusserst enigmatisch, dass er ihnen unendlich nah ist, und sie doch überhaupt nicht kennt; er fühlt sich zu ihr hingezogen, weil sie etwas sehr Intimes verströmt; zugleich ist sie völlig entrückt und unnahbar. Max möchte die Zeit einfrieren, um die Tiefe eines Moments, ähnlich wie auf einem Foto, auszuloten, um das Motiv mit dem Sucher ausforschen zu können. Seine Mitmenschen folgen den Bildern der Medien. Sie erzeugen Nachbilder. Nach dem Bild ist vor dem Bild. Je länger die Belichtungszeit seiner Überlegungen dauert, desto mehr Menschen würden aus diesem Bild verschwinden… aber es würden auch andere hineintreten.

Action. Die Lichtzeichenanlage legt von einem roten Symbol über einen gelben Querbalken auf ein grünes Ampelmännchen um. Der Summer der Blindenampel gibt das akustische Freigabesignal. Mit dem Klopfzeichen gibt die Taktfrequenz das Tempo für die Schritte vor. Immer mehr Menschen setzen ihren Körper im öffentlichen Raum als Schneepflug ein. Der Mob seiner Strassenseite menschelt nicht mehr, sie übermenscheln und stürmen auf das Volk der anderen Seite los.

Elaboriertes Achselzucken. Unverletzt erreicht der Plebs beider Seiten das rettende Ufer, um sich sofort wieder in verschiedene Richtungen zu vereinzeln und den Aufgaben des alltäglichen Lebens nachzugehen. Keine Magie des Alltags hält den bunten Vogel von sich selbst ab. Die Rush–Hour brandet erneut los.

Exerzitien der urteilsfähigen Klarsicht: Stadtlandschaft, so weit das Auge reicht… Max gehört zu den kultivierten Sinnsuchern, changierend zwischen depressiver Weltverneinung und rhetorischem Charme, verweigert er den Aufstieg. Seine Mitmenschen leben ein verlorenes Leben in zweckentfremdeten Städten. Ihr Aktionsradius ist mit dem Gesichtskreis abgezirkelt. Die Reichweite endet am Horizont. Die Gedankenwelt von Max geht über den Radius hinaus. Sein Denken gründet sich im Staunen, es umspielt einen Kernbestand der Tradition, verspricht sich eine Freiheit vom Gelernten. Hinter der Sichtgrenze erahnt er den Umschlag einer faktischen Realität in einen irrealen Schwebezustand. Dort gestaltet er nicht Objekte, er strukturiert Wahrnehmungen. Je näher er nach dem Abschütteln der Angststarre einer Szenerie in der Betrachtung kommt, desto weniger sieht er.

Filmriss. Als er versucht, den Flamingo auszumachen, findet er ihn nicht mehr. Die Erinnerung des vorherigen Bildes wirft den Schatten auf das nächste Motiv. Es erscheint ihm völlig absurd, die Wirklichkeit akribisch nachahmen zu wollen. Das eindrucksvollste Ding im Universum ist für Max das menschliche Gehirn. Also gebraucht er seinen Einfallsreichtum, denkt sich etwas aus und verlässt sich nicht mehr ausschliesslich auf die Bilder zwischen den Wimpernschlägen.

 

 

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Vignetten, Novelle von A.J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.

Covermotiv, Schreibstab von Peter Meilchen

Weiterführend →

Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier einen Essay. Einen weiteren Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.