Eremiten-Presse

Den Wind hassen
Wie ich den Wind haßte,
diese Gewalt von nichts über etwas!

ARNOLD STADLER

„Ich will drucken, was die großen Verlage nicht riskieren können oder wollen. Ich suche keine Bestseller, sondern junge Talente, das Abseitige, das Experiment und auch das inhaltlich Gewagte.“ Soweit das Credo des Gründers Victor Otto Stomps (1897-1970), das auch heute noch zutrifft (ich denke etwa an Alex Dreppec), auch wenn in Reden und Zeitungsartikeln verstärkt die „großen“ Autorennamen in der Eremiten-Presse Erwähnung finden, die vor Jahrzehnten schon in die Hände von Friedolin Reske und Jens Olsson (der 1983 in die Fußstapfen des früh verstorbenen Dieter Hülsmann trat) übergegangen ist. Nicht selten ist das erste Buch eines jungen und unbekannten Autors gleichsam der Abflug in die Höhen der Literaturwelt gewesen. So feierte Thomas Kling 1986 bei der Eremiten-Presse sein Debüt mit erprobung herzstärkender mittel, nachdem Friederike Mayröcker die Verleger auf die innovative Power dieses lyrischen Energiebündels hingewiesen hatte. Beim goldenen Jubiläum im Jahre 1999 gratulierte Kling den Eremiten zu „ihrer verlegerischen Besessenheit“ und ließ klangvolle Eremiten-Namen fallen: Hilde Domin, Günter Bruno Fuchs, Ernst Jandl, Marie-Lusie Kaschnitz, Christoph Meckel, Ernst Meister. In der Eremiten-Presse sind seit 1949 einige hundert Gedichtbücher erschienen – die bildschöne Reihe „Broschur“ mit originaler Graphik. Ich habe u.a. Cyrus Atabays Die Wege des Leichtsinns (1994), Iren Baumanns In unbekannter Richtung (1993), Alex Dreppecs Die Doppelmoral des Despoten. Ein Slam-Poetry-Alphabet (2003) mit Bildern von Sonja Burri, Hans-Jürgen Heises Ein Fax von Basho (2000), Christoph Klimkes Engel tötet man nicht (2002) mit Zeichnungen von Johann Kresnik, Gisela Krafts Matrix (2003) mit Original-Offsetlithographien von Walter Sachs, Marja Krawcecs Ralbitzer Sonntag (1993), Hans Dieter Schwarzes Zwölf Türen. Frühe und späte Gedichte (2002) mit Original-Graphiken von Ulrich Erben, Arnold Stadlers Gedichte aufs Land (1995) mit Offsetlithographien von Hildegard Pütz oder Gabriele Wohmanns Das könnte ich sein (1989) mit Interesse gelesen. [Meine älteste Errungenschaft aus der Eremiten-Presse ist übrigens Christa Reinigs 1969 noch in Stierstadt im „Schloß Sanssouris“ in Blei gesetztes und mit Originallinolschnitten von Axel Hertenstein bereichertes Gedichtbuch Schwalbe von Olevano, die Nummer 3 in der Reihe „Broschur“, die 2005 über 200 Bände umfaßt: „DER TRAUM VOM WESTEN // Ich träumte heute nacht, ich sei im Westen. / Und wachte auf und war – / im Westen.“ (Ich sag es ja: Westwärts ist überall.)]
Einer meiner Favoriten in der Eremiten-Presse ist Eckard Sinzigs wie entfesselt geschriebener, mit prallem Leben gefüllter Band Kopfpunktierer, Herztranchierer (1997) mit acht originalen Offsetlithographien von Klaus Endrikat, der auch nach 2000 abgeht wie ein Intercity. Bei Heinz Piontek lese ich:Manche Bücher lassen uns nicht los. Das heißt, wir hängen an ihnen. Mit Verbrennungen. Wie an Starkstromdrähten.“ Kopfpunktierer, Herztranchierer ist ein solcher Starkstromdraht. Bildschön ist der Band Verwitterungen (1995) von Margarete Hannsmann, den Bernard Schultze, der wunderbare Maler, mit originalen Graphiken bereichert hat. Annemarie Zornack gibt in strömungsgefahr (1999) mit Gedichten aus den Jahren 1961-1998 einen Überblick über die Bandbreite ihres Schaffens. 1998 entstand die

HAUSORDNUNG

halt dich gerade stuhl
klapp
dich zusammen
aaaaaaaaaaaaaatrittleiter
in einer kleinen
wohnung müssen sich
auch die möbel
disziplinieren

Es ist müßig, zu spekulieren, wer denn nun der erste unter den kleinen Verlagen im deutschen Sprachraum sei, aber die Eremiten-Presse, deren Profil und Programm in Vier Jahrzehnte Eremiten-Presse 1949-1989 (Eremiten-Presse, Düsseldorf 1989), einer Chronik von Martin Ebbertz und einer Bibliographie von Friedolin Reske, ausführlich dargestellt wird, gehört mit den zahlreichen poetischen und künstlerischen Originalen in bester Verpackung zu den primären Anwärtern.

 

 

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Weiterführend Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.