Lyrik DuMont

 

Neben mir liegt ein Stapel Bücher – gelesen und gesammelt seit 1998 – mit außergewöhnlicher Ausstrahlung. Es sind Bücher, die bereits durch ihre ausgesuchte Aufmachung – mit weißem, blauem, rotem, gelbem und grünem Leineneinband, Lesebändchen, im Schuber – erstklassige lyrische Qualität suggerieren. Diese hochwertigen Buchobjekte sind offenbarer Ausdruck eines verlegerischen Selbstbewußtseins, das fest überzeugt zu sein scheint, eine in jeder Hinsicht anspruchsvolle lyrische Idee auf dem Buchmarkt durchsetzen zu können, das im Prospekt nüchtern von „moderner Lyrik internationaler Autoren“ verspricht. Einen Teil dieser DuMont-Lyrikbücher stelle ich auf den folgenden Seiten vor, während weitere im Kapitel „Ameisenjagd“ u.a. auftauchen. Ein Autor aus der DuMont-Riege steht als Monolith für sich: Thomas Kling. Mit dieser Dichterikone und seinen Büchern setze ich mich in „Sistiger Favoriten“ auseinander.
Eine neue Lyrikreihe mit einer jungen, aber bereits recht populären englischen Dichterin – Lavinia Greenlaw – zu beginnen macht von Beginn an unmißverständlich deutlich, daß der verantwortliche Herausgeber Lyrik als Weltsprache ohne Grenzen definiert: Es spielt keine Rolle, woher die Gedichte kommen, bloß beeindruckend und interessant, bloß eigenartig und originell, bloß schön und gut müssen sie sein. Und womöglich auch preisgekrönt? Das sind nämlich bislang nahezu alle ausgewählten Autoren, und wir dürfen gespannt sein, wer weiterhin in diesen vorläufig illustren Kreis aufgenommen wird. Nachtaufnahmen (1998) bringt die Gedichte Lavinia Greenlaws auf 150 Seiten in zwei Sprachen (in der Übertragung von Gerhard Falkner und Nora Matocza). Es sind durchweg alltagsabenteuerliche, geschichte(n)erzählende, porträtierende, sinnlich orientierte phänomenale Gedichte, die Mensch und Welt in immer wieder überraschender Weise zusammenbringen und historische Berühmtheiten von der ganz anderen Seite zeigen. Locker zu lesen, gut nachzuempfinden, Wohlgefühl beim Lesen verbreitend. Rund ein Dutzend Setzfehler in den Originaltexten und eine Reihe „krumm“ übersetzter Wörter und Wendungen schmälern den sehr guten Gesamteindruck nicht.

NÄHER

Deine Berührung überrascht mich
Wie eine Brise Meeresluft in der Stadt,
ich weiß nicht, wohin
in den entgegengesetzten Landschaften meiner Sinne.
Als bekäme man plötzlich einen salzigen Geschmack in den Mund

Beim Überqueren einer Straße, in der man seit Jahren schon lebt,
und verlöre plötzlich aus den Augen, worauf man zuläuft:
ein Fenster, das alles was einem vertraut ist, eingefangen hat
und widerspiegelt; oder den Rand dieser Insel,
von dem man endlich einen Ausblick hat

Ulrich Johannes Beil läßt mit Aufgelassene Archive (1998) aufhorchen. Der Autor läßt uns beim Lesen der Gedichte teilhaben am prozeßhaften Charakter des Schreibichs, das sich – wie der moderne Mensch an sich (dessen Urvater wohl Odysseus respektive Ulysses ist) – beständig selber spiegelt und auch metasprachlich reflektiert und in seinen gleichsam verordneten Gegensätzen und Widersprüchen zumindest bruchstückhaft erkennt. Beständig zwischen verschiedenen Bewußtseins-, Bild- und Zeitebenen lavierend, muß ich auf der Hut sein, die lose ineinander geflochtenen Fäden in der Hand zu halten, um mich nicht in dieser poetischen Provinz, in der ich gezwungenermaßen dauernd auf Reisen bin und selten wahrhaftig bei mir selbst, in Luft aufzulösen. Formal wird die Durchdringung des Grundthemas der generell in sich gebrochenen spätmodernen, oft virtuellen Existenz auch durch die zwischen Prosa und Poesie schwankende Sprache erreicht, die das zwiespältige Verhältnis des Verfassers gegenüber dem Wort, gegenüber dem Gedicht wiederholt ausdrückt: „Jetzt? Zu spät für Gedichte:“, „dieser versteinerte Konjunktiv“, „ohne ein Sterbenswort“, „ohne ein weiteres Wort“, „Es wird Zeit für dieses Gedicht, / sich zu verabschieden“ – oder in der ersten Strophe von „Utopie“:

Sich aufhalten in dem weiten Raum
Der noch nicht geschriebenen Wörter,
in ihrem ungeheueren Himmel,
unterzeichnet von nichts als den Zacken der Berge,
vor denen kein Wort, keine Wolke Bestand hat

Mit Schönes Babylon (1999) begeben sich die Leser, geführt von Herausgeber Gregor Laschen, auf eine europäische Begegnungsreise. Das Buch mit Gedichten in zwölf Sprachen reiht sich ein in die Phalanx repräsentativer internationaler Lyrikanthologien. Der Band bringt eine Auswahl aus den ersten zehn in der edition die horen erschienenen Bänden Poesie unserer Nachbarn. Daß viel Spitzenlyrik dabei ist, ergibt sich automatisch: immer wieder übrigens in verschiedenen Übertragungen, was das Lesevergnügen noch einmal steigert. Die wunderbare Inger Christensen führt die dänische Riege an, gefolgt von der ungarischen, spanischen, isländischen, niederländischen, bulgarischen, italienischen, französischen, norwegischen und irischen. Ich finde es immer wieder bereichernd, mich in bislang unbekannten lyrischen Gefilden ergehen zu dürfen, denn was wissen wir schon, um nur ein Beispiel zu nennen, von der Lyrik unserer niederländischen Nachbarn? Ein schönes, in rostrotes Leinen gehülltes Buch mit einer Fülle großartiger Gedichte – ein wertvoller Baustein für die lyrische Bibliothek.

IWAN MALINOWSKI
KRITIK DES SCHMERZES

Laß den Schnaps stehen, er brennt kurz
Und betäubt. Meide den Apotheker!
Mißtraue den Verbesserungen, die das Unerträgliche
Mildern! Dein wirklicher Freund
Ist der Schmerz, Alarmglocke,
Lebensnötig.

Der eigentliche lyrische Fund in der DuMont-Reihe ist Raphael Urweider. Von diesem Schweizer Dichter des Jahrgangs 1974 hatte ich vor 2000 noch keinen Vers gelesen. Lichter im Menlo Park (2000) ist der erste Gedichtband Urweiders, der 1999 den Leonce-und-Lena-Preis gewann. Aber was heißt das schon? Wer hat nicht schon alles Preise für Gedichte gewonnen, die letztlich die Auszeichnung nicht rechtfertigten. Das ist bei Urweider überhaupt keine Frage. Wie der Mann den Zeilensprung einsetzt, um Ausdrucksvielfalt zu potenzieren, ist herausragend. Das Buch Lichter im Menlo Park ist ein Wurf. Bildstark Kleinbauern in Szene setzend, unmißverständlich Absurditäten des Alltags, der Kultur, der Wissenschaft entlarvend, ironisch historische Figuren belebend. Lichter im Menlo Park gehört zu den Lyrikbänden nach 2000, die ich für besonders gelungen halte. Der schalkhafte anthropomorphe Blick evoziert eine wunderbare Leichtigkeit des Seins:

die gebogenen hüften der kirchen
der busen gealterter prunkbauten
die muskeln beider brückenenden
der sperrige hintern der kutschen
die lockerheit gespreizter avenuen
der straffe nacken der arkaden
die metallgitter der wimpern
der schalkmund von balkonen

2001 erhielt Marcel Beyer den Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln. Aus diesem Anlaß druckte eine kölnische Zeitung das lange Titelgedicht des Gedichtbandes Erdkunde ab, der im Februar 2002 erschien. Ein Verwandter, Abonnent der Zeitung, rief mich an und machte mich auf das Gedicht aufmerksam, da er zum einen weiß, daß ich mich mit Lyrik befasse, zum anderen, daß ich selten Zeitungen lese. Er schimpfte wie ein Rohrspatz über Erdkunde: Was denn so ein Schwachsinn mit einem Gedicht zu tun habe? Das reime sich ja noch nicht mal! [Womit er nicht recht hat, denn der Reim spielt – versteckt, unauffällig, meistens als Binnenreim auftauchend – im Grunde eine bedeutende Rolle in vielen Gedichten des Buches. Gleichzeitig wird hier wieder die gleichsam allmächtige Stellung des Reims für die überwältigende Mehrheit der nicht unmittelbar mit Gedichten befaßten Menschen deutlich. Man denkt, ohne Reim sei ein Gedicht kein Gedicht. Basta. Dagegen ist schwer anzukommen.] Nun hatte ich das Gedicht deshalb schon zur Kenntnis genommen, weil ein aufmerksamer Freund es mir bereits hatte zukommen lassen, und so konnte ich zumindest den Versuch unternehmen, den Lyrikmissionar zu spielen, den Schwager auf ein paar typisch lyrische Ingredienzien aufmerksam zu machen, was selbstredend mißlang. Ja, zeitgenössische Lyrik hat es schwer unter den Leuten, denn der Anrufer steht stellvertretend für die überwältigende Mehrheit der Zeitungsleser, die mit Lyrik von heute nichts, aber auch gar nichts anfangen kann. Na ja, ich fand das Gespräch dennoch belustigend – und das Gedicht gelungen, gut. „Mir träumte…“, hebt es an (und läßt mich spontan an Günter Grass und Die Rättin denken), und ich lasse mich von Marcel Beyer gleich hineinziehen in eine offenbar ostwärts gelegene Landschaft und frage mich wie das (lyrische?) Ich: „Bin ich nun in Teplitz, in Teplice oder / in Tepl“? Ich habe Marcel Beyer von seinem ersten, 1991 erschienenen Prosaband „Menschenfleisch“ an (der mich nicht überzeugt hat, dem aber 1995 der exquisite Roman Flughunde, 1997 mit Falsches Futter einer der besten Gedichtbände der 1990er Jahre und 2000 der schöne Roman Spione folgten) als einen Schriftsteller kennengelernt, dem es in hohem Maße um die Erkundung und Wirkung der Sprache und der Wörter geht. Kurz nachdem ich Erdkunde zu Ende gelesen hatte, rief Frank Milautzcki an und fragte, warum so viele Dichter so orientierungslos durch die Landschaft liefen und die guten resonanten Wörter nicht sähen und das, was sie versprachlichen wollten, nicht einfach so in Sprache verwandelten, wie es sei: „Atem“ beispielsweise, fiel ihm spontan ein, sei ein solches, gleichsam atemberaubendes, deutsches Wort. Nun, Marcel Beyer gehört zu denen, die genau das tun, was Milautzcki bei so vielen vermißt, und so begegne ich diesen guten Wörtern, Versen, Gedichten in Erdkunde am laufenden Band. Dabei verstärken und verklammern Alliteration, Assonanz und Reim die Wirkung der Wörter dermaßen zu lyrischen Einheiten, daß es immer wieder beim Lesen kribbelt, und zwar horizontal und vertikal, wenn Sie verstehen, was ich meine. Im Gegensatz zu Falsches Futter, dessen Gedichte meistens aus einem Block von einer halben bis dreiviertel Seite bestehen, sind die Gedichte nun zu mehrseitigen Sequenzen bzw. Zyklen angewachsen, deren kurze und lange Verse meistens in drei- bis vierzeiligen Strophen angeordnet sind. Ein epischer Grundton wechselt mit auf Momentaufnahme bzw. Simultaneität disparatester Elemente abzielender Montage. „A heap of broken images“, denke ich wiederholt beim Lesen vieler Gedichte und denke gleichzeitig an Ezra Pound: „Nothing coheres.“ „A heap of broken images“ heißt es in einem der berühmtesten Gedichte des 20. Jahrhunderts, T.S. Eliots The Waste Land, aus dem Beyer spielsicher ein Zitat – natürlich verfremdet – in „Ostpreußenmuster“ einbaut, nämlich dort, wo es wieder einmal besonders sprachkritisch wird: „Gestammel, bin gar keiner, aus Litauen, echt.“

SCHNEE

Meinst du am Ende die Möwen, die Stiefel nachts
auf der Mole, nachts in den Schnee? Triest oder
Turku, Turku, Triest – wo sind die Flocken, wo
die Figuren, unsere Sohlen, was treten sie fest?

Meinst du den Lichtschein am Rand, die Tiefe,
meinst du den Schnee, Kot, Kaugummi, Eis und
kein Schnee . Schneefall ist alles, was ich noch
weiß, blau sind die Hände, blau ist der Rest.

In konzentrischen Kreisen – „Ich schaute auf meine Hände“, heißt es beispielsweise auf der ersten, „blau sind die Hände“ auf der letzten Seite – bewegt sich das in verschiedene Rollen schlüpfende, immer wieder ein Du ansprechende lyrische Ich um Fragen der Existenz innerhalb äußerer, innerer, gedachter, konstruierter, hinfälliger Realitäten. Es hört, riecht, schaut, schmeckt und tastet und setzt die vielschichtigen sinnlichen Erfahrungen in vielen Fällen in farbige faszinierende Verse um – kurz: „erdkundet“ „in seinen neuen Gedichten, ausgehend von Dresden, dem Ort seines Lebens und Schreibens, den europäischen Osten: Polen, Estland, Tschechien und Kaliningrad. Seine Gedichte werden zur Erdkunde an den Grenzen zwischen Geschichte, Sprachen und Kulturen“, wie es auf dem Schuber heißt, in dem sich auch dieser neunte, 115seitige, fest eingebundene und mit Lesebändchen versehene Band der Reihe befindet.
Die Lyrikbücher von Frieda Hughes’ Eltern Sylvia Plath und Ted Hughes gehören seit Jahren zu meiner bevorzugten Lektüre. Zu meiner vollkommenen Überraschung fällt mir auf dem Kölner Bücherherbst eine frische Lyrikfrucht in die Augen, von der ich bis dahin nichts ahnte. Die Originalausgabe von Wooroloo erschien 1998, nun bringt DuMont 2001 in seiner mittlerweile erlesen zu nennenden Lyrikreihe den Band von Frieda Hughes zweisprachig im üblichen feinen Gewand (Hardcover, Schuber, Lesebändchen) heraus.

TIGER

Tiger is born of tiger.
Looks like tiger.
Eats the same meat,
Does not complain
About its stripes.
The black slices on
Auburn red flashes
Like sun splitting thin
Black slate.
Does not complain
It looks the same.
It eats to become
Its father, to become
Its mother.

Eine Autorin, die einen Gedanken wie „Ich wüßte nichts, das leidenschaftlicher und klarer spricht als Gedichte“ derart unmißverständlich ausspricht, hat bei jedem Liebhaber von Lyrik – naturgemäß – gute Karten, zumal ich es schätze, wenn Dichterinnen und Dichter sich poetologisch äußern. Dies tut Brigitte Oleschinski in Reizstrom in Aspik. Wie Gedichte denken (2002) in genau der eigenwilligen Art, wie es der Titel des Buches bereits vermuten läßt. Es gibt kein Inhaltsverzeichnis, und der im Prinzip aus zu verschiedenen Zeiten entstandenen Aufsätzen zusammengesetzte, enorm dichte, bewegliche, vielfältige Eindrücke, Empfindungen, Gedanken formulierende Text von 128 Seiten wird zu einer auf ein crescendoartiges Ende hin komponierten Einheit montiert, die einen enormen Lesesog bewirkt (den ich während des in die Mitte des Buches eingefügten ersten Teils des Gesprächs zwischen den Berliner Dichterkolleginnen Elke Erb und Brigitte Oleschinski bei allem Interesse nicht so intensiv empfinde), zumal das, was Frau Oleschinski zu sagen hat, mich außerordentlich in den Bann zieht – vor allem eben auch durch die Art und Weise, wie sie es tut. Ich kannte bislang ausschließlich Gedichte dieser Autorin, und in diese Gedichte mit ihren simultanen, sinnlichen, synästhetischen und synchronen Systemen vertiefe ich mich wie selbstverständlich, lasse mich hineinziehen in die Kraftfelder sich mir dort offenbaren. „Gute Gedichte haben immer sowohl eine Sprache vorangetrieben als auch vergangenes, vom Untergang bedrohtes Sprachmaterial aufbewahrt“, hat Ursula Krechel einmal gesagt. Derart gute Gedichte schreibt Brigitte Oleschinski. In den beiden Gedichtbänden Mental Heat Control (Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1990) und Your Passport is Not Guilty (Rowohlt, 1997) präsentiert die Autorin eine starke, eigenstimmige, gegenwärtige Lyrik. Lesen Sie den folgenden Extrakt aus Reizstrom in Aspik, um einen kleinen authentischen Eindruck dessen zu bekommen, was Sie erwartet. Auf den Seiten 38/39 liest sich das zum Beispiel so:

Wollen, sollen, müssen Gedichte sich überhaupt auf „ihre Zeit“ einlassen, in irgendeinem Kulturbetrieb mitmischen, die Märkte für Resonanz und Rezeption bedienen? Vom Schreiben her ist der Impuls zu Gedichten eine Art zu atmen, eine Art zu gehen, eine Art, sich auszusetzen. Er wendet sich allein den Dingen zu, Materialien und Prozessen, die durch die oszillierenden Körpergrenzen in mich einzutreten scheinen, manche durch offene Türen wie höfliche Gäste, die ihren Namen sagen und Geschenke mitbringen, andere wie ungebetene Eindringlinge, als schrille Bilder und Silben, die roh die Fenster einschlagen, verletzliche Häute zerreißen, alle Nerven bloßlegen. Der Umgang mit solchen Wahrnehmungen bildet seine eigenen Gewohnheiten aus, ein (un-)duldsames Bedürfnis nach Ruhe, nach leeren Räumen im Rücken, repetitiver Musik, einsamen Wanderungen. Das Haus hier, freistehend, zweistöckig, das ich für eine Weile bewohnen kann, paßt dazu: ein halbes Dutzend Zimmer, oben gibt es noch Vorkriegstapeten, abblätternden Putz, den Staub von Jahrzehnten, unten schon weiße Wände, helle Böden, neue Steckdosen, hier wache ich allein auf, in einer geliehenen Stille, geliehener Zeit. Aber das ist nicht mein tägliches Leben. Es ist nur ein Wunschbild, gesponsert für ein paar Monate, und ich glaube, wenn es länger anhielte, würde ich den Gedichten daraus mißtrauen. Sobald ich morgens an diesem Text zu schreiben beginne, den geliehenen Vorgarten im Blick, der sich drei Erkerfenster aussuchen kann, als säße ich in einer gläsernen Kanzel, das Glas altmodisch gewellt, das sich darin die geliehenen Obstbäume sacht verzerren, der geliehene Zaun, das geliehene Kopfsteinpflaster, weiß ich schon nicht mehr, wohin ich spreche. Nicht ins Leere, dessen bin ich mir gewiß, aber wohin?

Wir begleiten Brigitte Oleschinski in ihren Schilderungen auf dem mäandernden Weg zu Wörtern und Versen, die am Ende das Gedicht ausmachen. Wir können uns in ihre fünf Sinne versetzen und erleben mit, wie sich bei Gängen durch Stadt und Land Gedichte – nicht selten über Zeiträume von Wochen, Monaten, Jahren – zu entwickeln beginnen. Einer der Hauptunterschiede zwischen dichtenden und nicht dichtenden Menschen ist die Eigenart des Lyrikers, unvermittelt auf alles aufmerksam zu werden, was ihm begegnet, vor allem dem Banalen, dem Unscheinbaren und Versteckten, das im Gedicht zurückverwandelt wird in eine Ursprünglichkeit und Echtheit, die man den Dingen in der Welt der Achtlosigkeit, Gleichgültigkeit und des Leichtsinns gestohlen hat. Mancher Leser, der selbst nicht schreiben kann, ist unendlich dankbar für das, was er dann im vorgefundenen Gedicht nachempfinden kann, was seine Sinne schärft und ihm Zugänge zu Regionen verschafft, die er ohne die gelesenen Gedichte nicht ausfindig machen würde. Wer darüber hinaus begreifen will, wie Gedichte denken – Brigitte Oleschinski sieht das Gedicht durchaus als Wesen: als Kind, als Frau, als Pflanze – und darüber hinaus noch so manches Vorurteil über Gedichte wieder vergessen möchte, liegt mit der Lektüre von Reizstrom in Aspik richtig.
Neben den drei rein poetologisch orientierten Büchern von Manfred Enzensberger, Die Hölderlin Ameisen, Thomas Kling, Botenstoffe und Brigitte Oleschinski, Reizstrom in Aspik gibt es in gleicher Aufmachung Marcel Beyers umfangreichen Band Nonfiction von 2003, in dem ich auch eine Reihe poetologischer Essays finde. Der 28seitige Aufsatz „Landkarten, Sprachigkeit, Paul Celan“ vermittelt hervorragende Anregungen für Ihre eigene Celan-Rezeption und zeigt zugleich, wie subtil, aus- und tiefgreifend Lyrik, Lyrikhandwerk und lyrischer Umgang mit Sprache eigentlich sein müssen, um diesen Namen zu verdienen. Auch dieses Buch veranlaßt mich zu der Feststellung: Der von Christian Döring edierten Lyrik bei DuMont, der in „Ameisenjagd“, „Reden wir vom Gedicht“ und „Sistiger Favoriten“ weiter auf den Grund gegangen wird, gebührt das Prädikat besonders wertvoll.

 

 

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Weiterführend Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.