Gespräch über die Poesie

Alle Gemüter, die sie lieben, befreundet und bindet Poesie mit unauflöslichen Banden. Mögen sie sonst im eignen Leben das Verschiedenste suchen, einer gänzlich verachten, was der andre am heiligsten hält, sich verkennen, nicht vernehmen, ewig fremd bleiben; in dieser Region sind sie dennoch durch höhere Zauberkraft einig und in Frieden. Jede Muse sucht und findet die andre, und alle Ströme der Poesie fließen zusammen in das allgemeine große Meer.

Die Vernunft ist nur eine und in allen dieselbe: wie aber jeder Mensch seine eigne Natur hat und seine eigne Liebe, so trägt auch jeder seine eigne Poesie in sich. Die muß ihm bleiben und soll ihm bleiben, so gewiß er der ist, der er ist, so gewiß nur irgend etwas Ursprüngliches in ihm war; und keine Kritik kann und darf ihm sein eigenstes Wesen, seine innerste Kraft rauben, um ihn zu einem allgemeinen Bilde ohne Geist und ohne Sinn zu läutern und zu reinigen, wie die Toren sich bemühen, die nicht wissen was sie wollen. Aber lehren soll ihn die hohe Wissenschaft echter Kritik, wie er sich selbst bilden muß in sich selbst, und vor allem soll sie ihn lehren, auch jede andre selbständige Gestalt der Poesie in ihrer klassischen Kraft und Fülle zu fassen, daß die Blüte und der Kern fremder Geister Nahrung und Same werde für seine eigne Fantasie.

Nie wird der Geist, welcher die Orgien der wahren Muse kennt, auf dieser Bahn bis ans Ende dringen, oder wähnen, daß er es erreicht: denn nie kann er eine Sehnsucht stillen, die aus der Fülle der Befriedigungen selbst sich ewig von neuem erzeugt. Unermeßlich und unerschöpflich ist die Welt der Poesie wie der Reichtum der belebenden Natur an Gewächsen, Tieren und Bildungen jeglicher Art, Gestalt und Farbe. Selbst die künstlichen Werke oder natürlichen Erzeugnisse, welche die Form und den Namen von Gedichten tragen, wird nicht leicht auch der umfassendste alle umfassen. Und was sind sie gegen die formlose und bewußtlose Poesie, die sich in der Pflanze regt, im Lichte strahlt, im Kinde lächelt, in der Blüte der Jugend schimmert, in der liebenden Brust der Frauen glüht? – Diese aber ist die erste, ursprüngliche, ohne die es gewiß keine Poesie der Worte geben würde. Ja wir alle, die wir Menschen sind, haben immer und ewig keinen andern Gegenstand und keinen andern Stoff aller Tätigkeit und aller Freude, als das eine Gedicht der Gottheit, dessen Teil und Blüte auch wir sind – die Erde. Die Musik des unendlichen Spielwerks zu vernehmen, die Schönheit des Gedichts zu verstehen, sind wir fähig, weil auch ein Teil des Dichters, ein Funke seines schaffenden Geistes in uns lebt und tief unter der Asche der selbstgemachten Unvernunft mit heimlicher Gewalt zu glühen niemals aufhört.

Es ist nicht nötig, daß irgend jemand sich bestrebe, etwa durch vernünftige Reden und Lehren die Poesie zu erhalten und fortzupflanzen, oder gar sie erst hervorzubringen, zu erfinden, aufzustellen und ihr strafende Gesetze zu geben, wie es die Theorie der Dichtkunst so gern möchte. Wie der Kern der Erde sich von selbst mit Gebilden und Gewächsen bekleidete, wie das Leben von selbst aus der Tiefe hervorsprang, und alles voll ward von Wesen die sich fröhlich vermehrten; so blüht auch Poesie von selbst aus der unsichtbaren Urkraft der Menschheit hervor, wenn der erwärmende Strahl der göttlichen Sonne sie trifft und befruchtet. Nur Gestalt und Farbe können es nachbildend ausdrücken, wie der Mensch gebildet ist; und so läßt sich auch eigentlich nicht reden von der Poesie als nur in Poesie.

Die Ansicht eines jeden von ihr ist wahr und gut, insofern sie selbst Poesie ist. Da nun aber seine Poesie, eben weil es die seine ist, beschränkt sein muß, so kann auch seine Ansicht der Poesie nicht anders als beschränkt sein. Dieses kann der Geist nicht ertragen, ohne Zweifel weil er, ohne es zu wissen, es dennoch weiß, daß kein Mensch schlechthin nur ein Mensch ist, sondern zugleich auch die ganze Menschheit wirklich und in Wahrheit sein kann und soll. Darum geht der Mensch, sicher sich selbst immer wieder zu finden, immer von neuem aus sich heraus, um die Ergänzung seines innersten Wesens in der Tiefe eines fremden zu suchen und zu finden. Das Spiel der Mitteilung und der Annäherung ist das Geschäft und die Kraft des Lebens, absolute Vollendung ist nur im Tode.

Darum darf es auch dem Dichter nicht genügen, den Ausdruck seiner eigentümlichen Poesie, wie sie ihm angeboren und angebildet wurde, in bleibenden Werken zu hinterlassen. Er muß streben, seine Poesie und seine Ansicht der Poesie ewig zu erweitern, und sie der höchsten zu nähern die überhaupt auf der Erde möglich ist; dadurch daß er seinen Teil an das große Ganze auf die bestimmteste Weise anzuschließen strebt: denn die tötende Verallgemeinerung wirkt gerade das Gegenteil.

Er kann es, wenn er den Mittelpunkt gefunden hat, durch Mitteilung mit denen, die ihn gleichfalls von einer andern Seite auf eine andre Weise gefunden haben. Die Liebe bedarf der Gegenliebe. Ja für den wahren Dichter kann selbst das Verkehr mit denen, die nur auf der bunten Oberfläche spielen, heilsam und lehrreich sein. Er ist ein geselliges Wesen.

Für mich hatte es von jeher einen großen Reiz mit Dichtern und dichterisch Gesinnten über die Poesie zu reden. Viele Gespräche der Art habe ich nie vergessen, von andern weiß ich nicht genau, was der Fantasie und was der Erinnerung angehört; vieles ist wirklich darin, andres ersonnen. So das gegenwärtige, welches ganz verschiedene Ansichten gegeneinander stellen soll, deren jede aus ihrem Standpunkte den unendlichen Geist der Poesie in einem neuen Lichte zeigen kann, und die alle mehr oder minder bald von dieser bald von jener Seite in den eigentlichen Kern zu dringen streben. Das Interesse an dieser Vielseitigkeit erzeugte den Entschluß, was ich in einem Kreise von Freunden bemerkt und anfänglich nur in Beziehung auf sie gedacht hatte, allen denen mitzuteilen, die eigne Liebe im Busen spüren und gesonnen sind, in die heiligen Mysterien der Natur und der Poesie kraft ihrer innern Lebensfülle sich selbst einzuweihen.

Amalia und Camilla gerieten soeben über ein neues Schauspiel in ein Gespräch, das immer lebhafter wurde, als zwei von den erwarteten Freunden, die wir Marcus und Antonio nennen wollen, mit einem lauten Gelächter in die Gesellschaft traten. Nachdem jene beiden hinzugekommen, war diese nun so vollständig als sie sich gewöhnlich bei Amalien zu versammeln pflegte, um sich frei und froh mit ihrer gemeinschaftlichen Liebhaberei zu beschäftigen. Ohne Verabredung oder Gesetz fügte es sich meistens von selbst, daß Poesie der Gegenstand, die Veranlassung, der Mittelpunkt ihres Beisammenseins war. Bisher hatte bald dieser bald jener unter ihnen ein dramatisches Werk oder auch ein andres vorgelesen, worüber dann viel hin und her geredet, und manches Gute und Schöne gesagt ward. Doch fühlten bald alle mehr oder minder einen gewissen Mangel bei dieser Art der Unterhaltung. Amalia bemerke den Umstand zuerst und wie ihm zu helfen sein möchte. Sie meinte, die Freunde wüßten nicht klar genug um die Verschiedenheit ihrer Ansichten. Dadurch werde die Mitteilung verworren, und schwiege mancher gar, der sonst wohl reden würde. Jeder, oder zunächst nur wer eben am meisten Lust habe, solle einmal seine Gedanken über Poesie, oder über einen Teil, eine Seite derselben von Grund des Herzens aussprechen, oder lieber ausschreiben, damit mans schwarz auf weiß besitze, wies jeder meine. Camilla stimmte ihrer Freundin lebhaft bei, damit wenigstens einmal etwas Neues geschähe, zur Abwechslung von dem ewigen Lesen. Der Streit, sagte sie, würde dann erst recht arg werden; und das müsse er auch, denn eher sei keine Hoffnung zum ewigen Frieden.

Die Freunde ließen sich den Vorschlag gefallen und legten sogleich Hand ans Werk, ihn auszuführen. Selbst Lothario, der sonst am wenigsten sagte und stritt, ja oft stundenlang bei allem was die andern sagen und streiten mochten, stumm blieb und sich in seiner würdigen Ruhe nicht stören ließ, schien den lebhaftesten Anteil zu nehmen, und gab selbst Versprechungen, etwas vorzulesen. Das Interesse wuchs mit dem Werk und mit den Vorbereitungen dazu, die Frauen machten sich ein Fest daraus, und es wurde endlich ein Tag festgesetzt, an dem jeder vorlesen sollte, was er bringen würde. Durch alle diese Umstände war die Aufmerksamkeit gespannter, als gewöhnlich; der Ton des Gesprächs indessen blieb ganz so zwanglos und leicht wie er sonst unter ihnen zu sein pflegte.

Camilla hatte mit vielem Feuer ein Schauspiel beschrieben und gerühmt, was am Tage zuvor gegeben war. Amalia hingegen tadelte es, und behauptete, es sei von Kunst ja von Verstand durchaus keine Ahndung darin. Ihre Freundin gab dies sogleich zu; aber, sagte sie, es ist doch wild und lebendig genug, oder wenigstens können es gute Schauspieler, wenn sie guter Laune sind, dazu machen. – Wenn sie wirklich gute Schauspieler sind, sagte Andrea, indem er auf seine Rolle und nach der Türe sah, ob die Fehlenden nicht bald kommen würden; wenn sie wirklich gute Schauspieler sind, so müssen sie eigentlich alle gute Laune verlieren, daß sie die der Dichter erst machen sollen. – Ihre gute Laune, Freund, erwiderte Amalia, macht Sie selbst zum Dichter; denn daß man dergleichen Schauspielschreiber Dichter heißt, ist doch nur ein Gedicht, und eigentlich viel ärger als wenn die Komödianten sich Künstler nennen oder nennen lassen. – Gönnt uns aber doch unsre Weise, sagte Antonio, indem er sichtbar Camillens Partei nahm; wenn sich einmal durch glücklichen Zufall ein Funken von Leben, von Freude und Geist in der gemeinen Masse entwickelt, so wollen wirs lieber erkennen, als uns immer wiederholen, wie gemein nun eben die gemeine Masse ist. – Darüber ist ja grade der Streit, sagte Amalia; gewiß es hat sich in dem Stück von dem wir reden, gar nichts weiter entwickelt, als was sich fast alle Tage da entwickelt; eine gute Portion Albernheit. Sie fing hierauf an, Beispiele anzuführen, worin sie aber bald gebeten wurde nicht länger fortzufahren, und in der Tat bewiesen sie nur zu sehr was sie beweisen sollten.

Camilla erwiderte dagegen, dieses treffe sie gar nicht, denn sie habe auf die Reden und Redensarten der Personen im Stück nicht sonderlich acht gegeben. – Man fragte sie, worauf sie denn geachtet habe, da es doch keine Operette sei? – Auf die äußre Erscheinung, sagte sie, die ich mir wie eine leichte Musik habe vorspielen lassen. Sie lobte dann eine der geistreichsten Schauspielerinnen, schilderte ihre Manieren, ihre schöne Kleidung, und äußerte ihre Verwunderung, daß man ein Wesen wie unser Theater so schwer nehmen könne. Gemein sei da in der Regel freilich fast alles; aber selbst im Leben, wo es einem doch näher träte, mache ja[288] oft das Gemeine eine sehr romantische und angenehme Erscheinung. – Gemein in der Regel fast alles, sagte Lothario. Dieses ist sehr richtig. Wahrlich, wir sollten nicht mehr so häufig an einen Ort gehen, wo der von Glück zu sagen hat, der nicht vom Gedränge, von üblem Geruch oder von unangenehmen Nachbaren leidet. Man foderte einmal von einem Gelehrten eine Inschrift für das Schauspielhaus. Ich würde vorschlagen, daß man darüber setzte: Komm Wandrer und sieh das Platteste; welches dann in den meisten Fällen eintreffen würde.

Hier wurde das Gespräch durch die eintretenden Freunde unterbrochen, und wären sie zugegen gewesen, so dürfte der Streit wohl eine andre Richtung und Verwicklung gewonnen haben, denn Marcus dachte nicht so über das Theater, und konnte die Hoffnung nicht aufgeben, daß etwas Rechtes daraus werden müsse.

Sie traten, wie gesagt, mit einem unmäßigen Gelächter in die Gesellschaft, und aus den letzten Worten, die man hören konnte, ließ sich schließen, daß ihre Unterhaltung sich auf die sogenannten klassischen Dichter der Engländer bezog. Man sagte noch einiges über denselben Gegenstand, und Antonio, der sich gern bei Gelegenheit mit dergleichen polemischen Einfällen dem Gespräch einmischte, das er selten selbst führte, behauptete, die Grundsätze ihrer Kritik und ihres Enthusiasmus wären im Smith über den Nationalreichtum zu suchen. Sie wären nur froh, wenn sie wieder einen Klassiker in die öffentliche Schatzkammer tragen könnten. Wie jedes Buch auf dieser Insel ein Essay, so werde da auch jeder Schriftsteller, wenn er nur seine gehörige Zeit gelegen habe, zum Klassiker. Sie wären aus gleichem Grund und in gleicher Weise auf die Verfertigung der besten Scheren stolz wie auf die der besten Poesie. So ein Engländer lese den Shakespeare eigentlich nicht anders wie den Pope, den Dryden, oder wer sonst noch Klassiker sei; bei dem einen denke er eben nicht mehr als bei dem andern. – Marcus meinte, das goldne Zeitalter sei nun einmal eine moderne Krankheit, durch die jede Nation hindurch müsse, wie die Kinder durch die Pocken. – So müßte man den Versuch machen können, die Kraft der Krankheit durch Inokulation zu schwächen, sagte Antonio. Ludoviko, der mit seiner revolutionären Philosophie das Vernichten gern im Großen trieb, fing an von einem System der falschen Poesie zu sprechen, was er darstellen wolle, die in diesem Zeitalter besonders bei Engländern und Franzosen grassiert habe und zum Teil noch grassiere; der tiefe gründliche Zusammenhang aller dieser falschen Tendenzen, die so schön übereinstimmen, eine die andre ergänzen und sich freundschaftlich auf halbem Wege entgegenkommen, sei ebenso merkwürdig und lehrreich als unterhaltend und grotesk. Er wünschte sich nur Verse machen zu können, denn in einem komischen Gedicht müßte sich, was er meine, eigentlich erst recht machen. Er wollte noch mehr davon sagen, aber die Frauen unterbrachen ihn und foderten den Andrea auf, daß er anfangen möchte; sonst wäre des Vorredens kein Ende. Nachher könnten sie ja desto mehr reden und streiten. Andrea schlug die Rolle auf und las.

 

 

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