Über das Studium der griechischen Poesie

 

Es springt in die Augen, daß die moderne Poesie das Ziel, nach welchem sie strebt, entweder noch nicht erreicht hat; oder daß ihr Streben überhaupt kein festes Ziel, ihre Bildung keine bestimmte Richtung, die Masse ihrer Geschichte keinen gesetzmäßigen Zusammenhang, das Ganze keine Einheit hat. Sie ist zwar nicht arm an Werken, in deren unerschöpflichem Gehalt die forschende Bewunderung sich verliert, vor deren Riesenhöhe das erstaunte Auge zurücksinkt; an Werken deren übermächtige Gewalt alle Herzen hinreißt und besiegt. Aber die stärkste Erschüttrung, die reichhaltigste Tätigkeit sind oft am wenigsten befriedigend. Eben die trefflichsten Gedichte der Modernen, deren hohe Kraft und Kunst Ehrfurcht fordert, vereinigen nicht selten das Gemüt nur um es schmerzlicher wieder zu zerreißen. Sie lassen einen verwundenden Stachel in der Seele zurück, und nehmen mehr als sie geben. Befriedigung findet sich nur in dem vollständigen Genuß, wo jede erregte Erwartung erfüllt, auch die kleinste Unruhe aufgelös’t wird; wo alle Sehnsucht schweigt. Dies ist es, was der Poesie unsres Zeitalters fehlt! Nicht eine Fülle einzelner, trefflicher Schönheiten, aber Übereinstimmung und Vollendung, und die Ruhe und Befriedigung, welche nur aus diesen entspringen können; eine vollständige Schönheit, die ganz und beharrlich wäre; eine Juno, welche nicht im Augenblick der feurigsten Umarmung zur Wolke würde. Die Kunst ist nicht deshalb verloren, weil der große Haufe aller derer, die nicht sowohl roh als verkehrt, die mehr mißgebildet als ungebildet sind, ihre Einbildungskraft mit allem, was nur seltsam, oder neu ist, willig anfüllen lassen, um nur die unendliche Leerheit ihres Gemüts mit irgend etwas anzufüllen; um der unleidlichen Länge ihres Daseins doch einige Augenblicke zu entfliehn. Der Name der Kunst wird entweiht, wenn man das Poesie nennt: mit abenteuerlichen oder kindischen Bildern spielen, um schlaffe Begierden zu stacheln, stumpfe Sinne zu kitzeln, und rohen Lüsten zu schmeicheln. Aber überall, wo echte Bildung nicht die ganze Volksmasse durchdringt, wird es eine gemeinere Kunst geben, die keine andere Reize kennt, als niedrige Üppigkeit und widerliche Heftigkeit. Bei stetem Wechsel des Stoffs bleibt ihr Geist immer derselbe: verworrne Dürftigkeit. Bei uns hingegen gibt es auch eine bessere Kunst, deren Werke unter denen der gemeinen, wie hohe Felsen aus der unbestimmten Nebelmasse einer entfernten Gegend hervortreten. Wir treffen in der neuen Kunstgeschichte hie und da auf Dichter, welche in der Mitte eines versunknen Zeitalters Fremdlinge aus einer höhern Welt zu sein scheinen. Mit der ganzen Kraft ihres Gemüts wollen sie das Ewige, und wenn sie in ihren Werken Übereinstimmung und Befriedigung noch nicht völlig erreichen: so streben sie doch so mächtig nach denselben, daß sie die gerechteste Hoffnung erregen, das Ziel der Poesie werde nicht ewig unerreichbar bleiben, wenn es anders durch Kraft und Kunst, durch Bildung und Wissenschaft erreicht werden kann. Allein in dieser bessern Kunst selbst offenbaren sich die Mängel der modernen Poesie am sichtbarsten. Eben hier, wenn das Gefühl den hohen Wert eines Gedichts anerkannt, und das Urteil den Ausspruch des Gefühls geprüft und bestätigt hat, gerät der Verstand in nicht geringe Verlegenheit. In den meisten Fällen scheint das, worauf die Kunst am ersten stolz sein dürfte, gar nicht ihr Eigentum zu sein. Es ist ein schönes Verdienst der modernen Poesie, daß so vieles Gute und Große, was in den Verfassungen, der Gesellschaft, der Schulweisheit verkannt, verdrängt und verscheucht worden war, bei ihr bald Schutz und Zuflucht, bald Pflege und eine Heimat fand. Hier, gleichsam an die einzige reine Stätte in dem unheiligen Jahrhundert legten die wenigen Edlern die Blüte ihres höhern Lebens, das Beste von allem, was sie taten, dachten, genossen und strebten, wie auf einen Altar der Menschheit nieder. Aber ist nicht eben so oft und öfter Wahrheit und Sittlichkeit der Zweck dieser Dichter als Schönheit? Analysiert die Absicht des Künstlers, er mag sie nun deutlich zu erkennen geben, oder ohne klares Bewußtsein seinem Triebe folgen; analysiert die Urteile der Kenner und die Entscheidungen des Publikums! Beinahe überall werdet[218] Ihr eher jedes andre Prinzip als höchstes Ziel und erstes Gesetz der Kunst, als letzten Maßstab für den Wert ihrer Werke stillschweigend vorausgesetzt oder ausdrücklich aufgestellt finden; nur nicht das Schöne. Dies ist so wenig das herrschende Prinzip der modernen Poesie, daß viele ihrer trefflichsten Werke ganz offenbar Darstellungen des Häßlichen sind, und man wird es wohl endlich, wenngleich ungern, eingestehen müssen, daß es eine Darstellung der Verwirrung in höchster Fülle, der Verzweiflung im Überfluß aller Kräfte gibt, welche eine gleiche wo nicht eine höhere Schöpferkraft und künstlerische Weisheit erfordert, wie die Darstellung der Fülle und Kraft in vollständiger Übereinstimmung. Die gepriesensten modernen Gedichte scheinen mehr dem Grade als der Art nach von dieser Gattung verschieden zu sein, und findet sich ja eine leise Ahndung vollkommner Schönheit, so ist es nicht sowohl im ruhigen Genuß, als in unbefriedigter Sehnsucht. Ja nicht selten entfernte man sich von dem Schönen um so weiter, je heftiger man nach demselben strebte. So verwirrt sind die Gränzen der Wissenschaft und der Kunst, des Wahren und des Schönen, daß sogar die Überzeugung von der Unwandelbarkeit jener ewigen Grenzen fast allgemein wankend geworden ist. Die Philosophie poetisiert und die Poesie philosophiert: die Geschichte wird als Dichtung, diese aber als Geschichte behandelt. Selbst die Dichtarten verwechseln gegenseitig ihre Bestimmung; eine lyrische Stimmung wird der Gegenstand eines Drama, und ein dramatischer Stoff wird in lyrische Form gezwängt. Diese Anarchie bleibt nicht an den äußern Gränzen stehn, sondern erstreckt sich über das ganze Gebiet des Geschmacks und der Kunst. Die hervorbringende Kraft ist rastlos und unstät; die einzelne wie die öffentliche Empfänglichkeit ist immer gleich unersättlich und gleich unbefriedigt. Die Theorie selbst scheint an einem festen Punkt in dem endlosen Wechsel völlig zu verzweifeln. Der öffentliche Geschmack – doch wie wäre da ein öffentlicher Geschmack möglich, wo es keine öffentliche Sitten gibt? – die Karikatur des öffentlichen Geschmacks, die Mode, huldigt mit jedem Augenblicke einem andern Abgotte. Jede neue glänzende Erscheinung erregt den zuversichtlichen Glauben, jetzt sei das Ziel, das höchste Schöne, erreicht, das Grundgesetz des Geschmacks, der äußerste Maßstab alles Kunstwertes sei gefunden. Nur daß der nächste Augenblick den Taumel endigt; daß dann die Nüchterngewordenen das Bildnis des sterblichen Abgottes zerschlagen, und in neuem erkünstelten Rausch einen andern an seiner Stelle einweihen, dessen Gottheit wiederum nicht länger dauern wird, als die Laune seiner Anbeter! – Dieser Künstler strebt allein nach den üppigen Reizen eines wollüstigen Stoffs, dem blühenden Schmuck, dem schmeichelnden Wohllaut einer bezaubernden Sprache, wenn auch seine abenteuerliche Dichtung Wahrheit und Schicklichkeit beleidigt und die Seele leer läßt. Jener täuscht sich wegen einer gewissen Rundung und Feinheit in der Anordnung und Ausführung mit dem voreiligen Wahne der Vollendung. Ein andrer, um Reiz und Rundung unbekümmert, hält ergreifende Treue der Darstellung, das tiefste Auffassen der verborgensten Eigentümlichkeit für das höchste Ziel der Kunst. Diese Einseitigkeit des Italiänischen, Französischen und Engländischen Geschmacks findet sich in ihrer schneidenden Härte in Deutschland beisammen wieder. – Die metaphysischen Untersuchungen einiger wenigen Denker über das Schöne hatten nicht den mindesten Einfluß auf die Bildung des Geschmacks und der Kunst. Die praktische Theorie der Poesie aber war bis auf wenige Ausnahmen bis jetzt nicht viel mehr als der Sinn dessen, was man verkehrt genug ausübte; gleichsam der abgezogne Begriff des falschen Geschmacks, der Geist der unglücklichen Geschichte. Sie folgte daher natürlicher Weise jenen drei Hauptrichtungen, und suchte den Zweck der Kunst bald im Reiz, bald in der Korrektheit, bald in der Wahrheit. Hier empfahl sie durch den Stempel ihrer Auktorität, sanktionierte Werke als ewige Muster der Nachahmung: dort stellte sie absolute Originalität als den höchsten Maßstab alles Kunstwerts auf, und bedeckte den entferntesten Verdacht der Nachahmung mit unendlicher Schmach. Strenge forderte sie in scholastischer Rüstung unbedingte Unterwerfung auch unter ihre willkürlichsten offenbar törichten Gesetze; oder sie vergötterte in mystischen Orakelsprüchen das Genie, machte eine künstliche Gesetzlosigkeit zum ersten Grundsatz, und verehrte mit stolzem Aberglauben Offenbarungen, die nicht selten sehr zweideutig waren. Die Hoffnung, durch Grundsätze lebendige Werke zu erfinden, nach Begriffen schöne Spiele auszuarbeiten, wurde so oft getäuscht, daß an die Stelle des Glaubens endlich eine äußerste Gleichgültigkeit trat. Die Theorie mag es sich selbst zuschreiben, wenn sie bei dem genievollen Künstler wie bei dem Publikum allen Kredit verloren hat! Wie kann sie Achtung für ihre Aussprüche erwarten, Gehorsam gegen ihre Gesetze fordern, da es ihr noch nicht einmal gelungen ist, eine richtige Erklärung von der Natur der Dichtkunst, und eine befriedigende Einteilung ihrer Arten zu geben? Da sie sogar über die Bestimmung der Kunst überhaupt mit sich noch nicht hat einig werden können? Ja wenn es auch irgendeine Behauptung gibt, in welcher die Anhänger der verschiedenen ästhetischen Systeme einigermaßen miteinander übereinzustimmen scheinen, so ist es allein die: daß es kein allgemeingültiges Gesetz der Kunst, kein beharrliches Ziel des Geschmacks gebe, oder daß es, falls es ein solches gebe, doch nicht anwendbar sei; daß die Richtigkeit des Geschmacks und die Schönheit der Kunst allein vom Zufall abhänge. Und wirklich scheint der Zufall hier allein sein Spiel zu treiben, und als unumschränkter Despot in diesem seltsamen Reiche der Verwirrung zu herrschen. Die Anarchie, welche in der ästhetischen Theorie, wie in der Praxis der Künstler so sichtbar ist, erstreckt sich sogar auf die Geschichte der modernen Poesie. Kaum läßt sich in ihrer Masse beim ersten Blick etwas Gemeinsames entdecken; geschweige denn in ihrem Fortgange Gesetzmäßigkeit, in ihrer Bildung bestimmte Stufen, zwischen ihren Teilen entschiedne Gränzen, und in ihrem Ganzen eine befriedigende Einheit. In einer aufeinanderfolgenden Reihe von Dichtern findet sich keine beharrliche Eigentümlichkeit, und in dem Geiste gleichzeitiger Werke gibt es keine gemeinschaftlichen Verhältnisse. Bei den Modernen ist es nur ein frommer Wunsch, daß der Geist eines großen Meisters, eines glücklichen Zeitalters, seine wohltätigen Wirkungen weit um sich her verbreiten möchte, ohne daß deshalb der Gemeingeist die Eigentümlichkeit des Einzelnen verwische, seine Rechte kränke, oder seine Erfindungskraft lähme. Jedem großen Originalkünstler pflegt hier, so lange ihn noch die Flut der Mode emporträgt, ein zahlloser Schwarm der armseligsten Kopisten zu folgen, bis durch ihre ewigen Wiederhohlungen und Entstellungen das große Urbild selbst so alltäglich und ekelhaft geworden ist, daß nun an die Stelle der Vergötterung Abscheu oder ewige Vergessenheit tritt. Charakterlosigkeit scheint der einzige Charakter der modernen Poesie, Verwirrung das Gemeinsame ihrer Masse, Gesetzlosigkeit der Geist ihrer Geschichte, und Skeptizismus das Resultat ihrer Theorie. Nicht einmal die Eigentümlichkeit hat bestimmte und feste Gränzen. Die Französische und Engländische, die Italiänische und Spanische Poesie scheint häufig, wie auf einer Maskerade, ihren Nationalcharakter gegenseitig zu vertauschen. Die Deutsche Poesie aber stellt ein beinahe vollständiges geographisches Naturalienkabinett aller Nationalcharaktere jedes Zeitalters und jeder Weltgegend dar: nur der Deutsche, sagt man, fehle. Im Grunde völlig gleichgültig gegen alle Form, und nur voll unersättlichen Durstes nach Stoff, verlangt auch das feinere Publikum von dem Künstler nichts als interessante Individualität. Wenn nur gewirkt wird, wenn die Wirkung nur stark und neu ist, so ist die Art, wie, und der Stoff, worin es geschieht, dem Publikum so gleichgültig, als die Übereinstimmung der einzelnen Wirkungen zu einem vollendeten Ganzen. Die Kunst tut das ihrige, um diesem Verlangen ein Genüge zu leisten. Wie in einem ästhetischen Kramladen steht hier Volkspoesie und Bontonpoesie beisammen, und selbst der Metaphysiker sucht sein eignes Sortiment nicht vergebens; Nordische oder Christliche Epopöen für die Freunde des Nordens und des Christentums; Geistergeschichten für die Liebhaber mystischer Gräßlichkeiten, und Irokesische oder Kannibalische Oden für die Liebhaber der Menschenfresserei; Griechisches Kostüm für antike Seelen, und Rittergedichte für heroische Zungen; ja sogar Nationalpoesie für die Dilettanten der Deutschheit! Aber umsonst führt ihr aus allen Zonen den reichsten Überfluß interessanter Individualität zusammen! Das Faß der Danaiden bleibt ewig leer. Durch jeden Genuß werden die Begierden nur heftiger; mit jeder Gewährung steigen die Forderungen immer höher, und die Hoffnung einer endlichen Befriedigung entfernt sich immer weiter. Das Neue wird alt, das Seltene gemein, und die Stachel des Reizenden werden stumpf. Bei schwächerer Selbstkraft und bei geringerm Kunsttriebe sinkt die schlaffe Empfänglichkeit in eine empörende Ohnmacht; der geschwächte Geschmack will endlich keine andre Speise mehr annehmen als ekelhafte Kruditäten, bis er ganz abstirbt und mit einer entschiednen Nullität endigt. Wenn aber auch die Kraft nicht unterliegt, so bringt es wenig Gewinn. Wie ein Mann von großem Gemüte, dem es aber an Übereinstimmung fehlt, bei dem Dichter von sich selbst sagt:

»So tauml‘ ich von Begierde zu Genuß,

Und im Genuß verschmacht‘ ich nach Begierde;«

so strebt und schmachtet die kraftvollere ästhetische Anlage rastlos in unbefriedigter Sehnsucht, und die Pein der vergeblichen Anstrengung steigt nicht selten bis zu einer trostlosen Verzweiflung.

Wenn man diese Zwecklosigkeit und Gesetzlosigkeit des Ganzen der modernen Poesie, und die hohe Trefflichkeit der einzelnen Teile gleich aufmerksam beobachtet: so erscheint ihre Masse wie ein Meer streitender Kräfte, wo die Teilchen der aufgelösten Schönheit, die Bruchstücke der zerschmetterten Kunst, in trüber Mischung sich verworren durcheinander regen. Man könnte sie ein Chaos alles Erhabnen, Schönen und Reizenden nennen, welches gleich dem alten Chaos, aus dem sich, wie die Sage lehrt, die Welt ordnete, eine Liebe und einen Haß erwartet, um die verschiedenartigen Bestandteile zu scheiden, die gleichartigen aber zu vereinigen.

Sollte sich nicht ein Leitfaden entdecken lassen, um diese rätselhafte Verwirrung zu lösen, den Ausweg aus diesem Labyrinthe zu finden? Der Ursprung, Zusammenhang und Grund so vieler seltsamen Eigenheiten der modernen Poesie muß doch auf irgendeine Weise erklärbar sein. Vielleicht gelingt es uns, aus dem Geist ihrer bisherigen Geschichte zugleich auch den Sinn ihres jetzigen Strebens, die Richtung ihrer fernern Laufbahn, und ihr künftiges Ziel aufzufinden. Wären wir erst über das Prinzipium ihrer Bildung aufs Reine, so würde es vielleicht nicht schwer sein, daraus die vollständige Aufgabe derselben zu entwickeln. – Schon oft erzeugte ein dringendes Bedürfnis seinen Gegenstand; aus der Verzweiflung ging eine neue Ruhe hervor, und die Anarchie ward die Mutter einer wohltätigen Revolution. Sollte die ästhetische Anarchie unsres Zeitalters nicht eine ähnliche glückliche Katastrophe erwarten dürfen? Vielleicht ist der entscheidende Augenblick gekommen, wo dem Geschmack entweder eine gänzliche Verbesserung bevorsteht, nach welcher er nie wieder zurücksinken kann, sondern notwendig fortschreiten muß; oder die Kunst wird auf immer fallen, und unser Zeitalter muß allen Hoffnungen auf Schönheit und Wiederherstellung echter Kunst ganz entsagen. Wenn wir also zuvor den Charakter der modernen Poesie bestimmter gefaßt, das Prinzipium ihrer Bildung aufgefunden, und die originellsten Züge ihrer Individualität erklärt haben werden, so werden sich uns folgende Fragen aufdringen:

Welches ist die Aufgabe der modernen Poesie? –

Kann sie erreicht werden? –

Welches sind die Mittel dazu?

Es ist einleuchtend, daß es in strengster und buchstäblicher Bedeutung keine Charakterlosigkeit geben kann. Was man so zu nennen pflegt, wird entweder ein sehr verwischter, gleichsam unleserlich gewordner, oder ein äußerst zusammengesetzter, verwickelter und rätselhafter Charakter sein. Schon jene durchgängige Anarchie in der Masse der modernen Poesie ist doch etwas Gemeinsames; ein charakteristischer Zug, der nicht ohne gemeinschaftlichen innern Grund sein kann. – Wir sind gewohnt, mehr nach einem dunkeln Gefühl als nach deutlich entwickelten Gründen, die moderne Poesie als ein zusammenhängendes Ganzes zu betrachten. Aber mit welchem Recht dürfen wir dies stillschweigend voraussetzen? – Es ist wahr, bei aller Eigentümlichkeit und Verschiedenheit der einzelnen Nationen verrät das Europäische Völkersystem dennoch durch einen auffallend ähnlichen Geist der Sprache, der Verfassungen, Gebräuche und Einrichtungen, in vielen übrig gebliebenen Spuren der frühern Zeit, den gleichartigen und gemeinschaftlichen Ursprung ihrer Kultur. Dazu kommt noch eine gemeinschaftliche von allen übrigen sehr abweichende Religion. Außerdem ist die Bildung dieser äußerst merkwürdigen Völkermasse so innig verknüpft, so durchgängig zusammenhängend, so beständig in gegenseitigem Einflusse aller einzelnen Teile; sie hat bei aller Verschiedenheit so viele gemeinschaftliche Eigenschaften, strebt so sichtbar nach einem gemeinschaftlichen Ziele, daß sie nicht wohl anders als wie ein Ganzes betrachtet werden kann. Was vom Ganzen wahr ist, gilt auch vom einzelnen Teil: wie die moderne Bildung überhaupt, so ist auch die moderne Poesie ein zusammenhängendes Ganzes. So einleuchtend und entschieden jene Bemerkung aber auch für viele sein mag, so fehlt es doch gewiß nicht an Zweiflern, die diesen Zusammenhang teils leugnen, teils aus zufälligen Umständen und nicht aus einem gemeinschaftlichen Prinzip erklären. Es ist hier nicht der Ort dies auszumitteln. Genug, es verlohnt sich doch wohl der Mühe, dieser Spur zu folgen, und den Versuch zu wagen, ob jene allgemeine Voraussetzung die Prüfung bestehe! – Schon der durchgängige gegenseitige Einfluß der modernen Poesie deutet auf innern Zusammenhang. Seit der Wiederherstellung der Wissenschaften fand unter den verschiedenen Nationalpoesien der größten und kultiviertesten Europäischen Völker eine stete Wechselnachahmung statt. Sowohl die Italiänische als die Französische und Englische Manier hatte ihre goldne Zeit, wo sie den Geschmack des ganzen übrigen gebildeten Europa despotisch beherrschte. Nur Deutschland hat bis jetzt den vielseitigsten fremden Einfluß ohne Rückwirkung erfahren. Durch diese Gemeinschaft wird die grelle Härte des ursprünglichen Nationalcharakters immer mehr verwischt, und endlich fast gar vertilgt. An seine Stelle tritt ein allgemeiner Europäischer Charakter, und die Geschichte jeder nationellen Poesie der Modernen enthält nichts andres, als den allmählichen Übergang von ihrem ursprünglichen Charakter zu dem spätern Charakter künstlicher Bildung. Aber schon in den frühesten Zeiten haben die verschiedenen ursprünglichen Eigentümlichkeiten so viel Gemeinsames, daß sie als Zweige eines Stamms erscheinen. Ähnlichkeit der Sprachen, der Versarten, ganz eigentümlicher Dichtarten! So lange die Fabel der Ritterzeit und die christliche Legende die Mythologie der Romantischen Poesie waren, ist die Ähnlichkeit des Stoffes und des Geistes der Darstellungen so groß, daß die nationelle Verschiedenheit sich beinahe in die Gleichheit der ganzen Masse verliert. Der Charakter jener Zeit selbst war einfacher und einförmiger.

Aber auch nachdem durch eine totale Revolution die Form der Europäischen Welt ganz verändert ward, und mit dem Emporkommen des dritten Standes die verschiedenen Nationalcharaktere mannigfaltiger wurden, und weiter auseinander wichen, blieb dennoch ungemein viel Ähnlichkeit übrig. Diese äußerte ihren Einfluß auch auf die Poesie; nicht nur in dem Charakter derjenigen Dichtarten, deren Stoff das bürgerliche Leben ist, und in dem Geiste aller Darstellungen, sondern sogar in gemeinschaftlichen Sonderbarkeiten.

Doch diese Züge würden sich allenfalls aus der gemeinschaftlichen Abstammung und der äußren Berührung, kurz aus der Lage erklären lassen. Es gibt aber noch andre merkwürdige Züge der modernen Poesie, wodurch sie sich von allen übrigen Poesien, welche uns die Geschichte kennen lehrt, aufs bestimmteste unterscheidet, deren Grund und Zweck nur aus einem gemeinschaftlichen innern Prinzip befriedigend deduziert werden kann. Dahin gehört die äußerst charakteristische Standhaftigkeit, mit der alle Europäische Nationen bei der Nachahmung der alten Kunst geblieben, und durch kein Mißlingen ganz abgeschreckt, oft auf neue Weise zu ihr zurückgekehrt sind. Jenes sonderbare Verhältnis der Theorie zur Praxis, da der Geschmack selbst in der Person des Künstlers, wie des Publikums von der Wissenschaft nicht bloß Erklärung seiner Aussprüche, Erläuterung seiner Gesetze, sondern Zurechtweisung verlangte, von ihr Ziel, Richtung und Gesetz der Kunst bestimmt haben wollte. In sich selbst uneins und ohne innern Widerhalt nimmt, so scheint es, der kranke Geschmack zu den Rezepten eines Arztes oder eines Quacksalbers seine Zuflucht, wenn dieser nur durch diktatorische Anmaßung die leichtgläubige Treuherzigkeit zu täuschen weiß. Ferner der schneidende Kontrast der höhern und niedern Kunst. Ganz dicht nebeneinander existieren besonders jetzt zwei verschiedene Poesien nebeneinander, deren jede ihr eignes Publikum hat, und unbekümmert um die andre ihren Gang für sich geht. Sie nehmen nicht die geringste Notiz voneinander, außer, wenn sie zufällig aufeinander treffen, durch gegenseitige Verachtung und Spott; oft nicht ohne heimlichen Neid über die Popularität der einen oder die Vornehmigkeit der andern. Das Publikum, welches sich mit der gröbern Kost begnügt, ist naiv genug, jede Poesie, welche höhere Ansprüche macht, als für Gelehrte allein bestimmt, nur außerordentlichen Individuen oder doch nur seltnen festlichen Augenblicken angemessen, von der Hand zu weisen. Ferner das totale Übergewicht des Charakteristischen, Individuellen und Interessanten in der ganzen Masse der modernen Poesie, vorzüglich aber in den spätern Zeitaltern. Endlich das rastlose unersättliche Streben nach dem Neuen, Piquanten und Frappanten, bei dem dennoch die Sehnsucht unbefriedigt bleibt.

Wenn die nationellen Teile der modernen Poesie, aus ihrem Zusammenhang gerissen, und als einzelne für sich bestehende Ganze betrachtet werden, so sind sie unerklärlich. Sie bekommen erst durcheinander Haltung und Bedeutung. Je aufmerksamer man aber die ganze Masse der modernen Poesie selbst betrachtet, je mehr erscheint auch sie als das bloße Stück eines Ganzen. Die Einheit, welche so viele gemeinsame Eigenschaften zu einem Ganzen verknüpft, ist in der Masse ihrer Geschichte nicht sogleich sichtbar. Wir müssen ihre Einheit also sogar jenseits ihrer Gränzen aufsuchen, und sie selbst gibt uns einen Wink, wohin wir unsern Weg richten sollen. Die gemeinsamen Züge, welche Spuren innern Zusammenhanges zu sein schienen, sind seltner Eigenschaften, als Bestrebungen und Verhältnisse. Die Gleichheit einiger vermehrt sich, je mehr wir uns von dem jetzigen Zeitalter rückwärts entfernen; die einiger andern, je mehr wir uns demselben nähern. Wir müssen also nach einer doppelten Richtung nach ihrer Einheit forschen; rückwärts nach dem ersten Ursprunge ihrer Entstehung und Entwicklung; vorwärts nach dem letzten Ziele ihrer Fortschreitung. Vielleicht gelingt es uns auf diesem Wege, ihre Geschichte vollständig zu erklären und nicht nur den Grund, sondern auch den Zweck ihres Charakters befriedigend zu deduzieren.

Nichts widerspricht dem Charakter und selbst dem Begriffe des Menschen so sehr, als die Idee einer völlig isolierten Kraft, welche durch sich und in sich allein wirken könnte. Niemand wird wohl leugnen, daß derjenige Mensch wenigstens, den wir kennen, nur in einer Welt existieren könne. Schon der unbestimmte Begriff, welchen der gewöhnliche Sprachgebrauch mit den Worten »Kultur, Entwicklung, Bildung« verbindet, setzt zwei verschiedene Naturen voraus; eine, welche gebildet wird, und eine andre, welche durch Umstände und äußre Lage die Bildung veranlaßt und modifiziert, befördert und hemmt. Der Mensch kann nicht tätig sein, ohne sich zu bilden. Bildung ist der eigentliche Inhalt jedes menschlichen Lebens, und der wahre Gegenstand der höhern Geschichte, welche in dem Veränderlichen das Notwendige aufsucht. So wie der Mensch ins Dasein tritt, wird er mit dem Schicksal gleichsam handgemein, und sein ganzes Leben ist ein steter Kampf auf Leben und Tod mit der furchtbaren Macht, deren Armen er nie entfliehen kann. Innig umschließt sie ihn von allen Seiten und läßt keinen Augenblick von ihm ab. Man könnte die Geschichte der Menschheit, welche die notwendige Genesis und Progression der menschlichen Bildung charakterisiert, mit militärischen Annalen vergleichen. Sie ist der treue Bericht von dem Kriege der Menschheit und des Schicksals. Der Mensch bedarf aber nicht nur einer Welt außer sich, welche bald Veranlassung, bald Element, bald Organ seiner Tätigkeit werde; sondern sogar im Mittelpunkte seines eignen Wesens hat sein Feind – die ihm entgegengesetzte Natur – noch Wurzel gefaßt. Es ist schon oft bemerkt worden: die Menschheit sei eine zwitterhafte Spielart, eine zweideutige Mischung der Gottheit und der Tierheit. Man hat es richtig gefühlt, daß es ihr ewiger, notwendiger Charakter sei, die unauflöslichen Widersprüche, die unbegreiflichen Rätsel in sich zu vereinigen, welche aus der Zusammensetzung des unendlich Entgegengesetzten entspringen. Der Mensch ist eine aus seinem reinen Selbst und einem fremdartigen Wesen gemischte Natur. Er kann mit dem Schicksal nie reine Abrechnung halten, und bestimmt sagen: jenes ist dein, dies ist mein. Nur das Gemüt, welches von dem Schicksal hinlänglich durchgearbeitet worden ist, erreicht das seltne Glück, selbständig sein zu können. Die Grundlage seiner stolzesten Werke ist oft ein bloßes Geschenk der Natur, und auch seine besten Taten sind nicht selten kaum zur Hälfte sein. Ohne alle Freiheit wäre es keine Tat: ohne alle fremde Hülfe keine menschliche. Die zu bildende Kraft aber muß notwendig das Vermögen haben, sich die Gabe der bildenden zuzueignen, das Vermögen, auf die Veranlassung jener sich selbst zu bestimmen. Sie muß frei sein. Bildung oder Entwicklung der Freiheit ist die notwendige Folge alles menschlichen Tuns und Leidens, das endliche Resultat jeder Wechselwirkung der Freiheit und der Natur. In dem gegenseitigen Einfluß, der steten Wechselbestimmung, welche zwischen beiden stattfindet, muß nun notwendiger Weise eine von den beiden Kräften die wirkende, die andre die rückwirkende sein. Entweder die Freiheit oder die Natur muß der menschlichen Bildung den ersten bestimmenden Anstoß geben, und dadurch die Richtung des Weges, das Gesetz der Progression, und das endliche Ziel der ganzen Laufbahn determinieren; es mag nun von der Entwicklung der gesamten Menschheit oder eines einzelnen wesentlichen Bestandteils derselben die Rede sein. Im ersten Fall kann die Bildung eine natürliche, im letztern eine künstliche heißen; In jener ist der erste ursprüngliche Quell der Tätigkeit ein unbestimmtes Verlangen; in dieser ein bestimmter Zweck. Dort ist der Verstand auch bei der größten Ausbildung höchstens nur der Handlanger und Dolmetscher der Neigung; der gesamte zusammengesetzte Trieb aber der unumschränkte Gesetzgeber und Führer der Bildung. Hier ist die bewegende, ausübende Macht zwar auch der Trieb; die lenkende, gesetzgebende Macht hingegen der Verstand: gleichsam ein oberstes lenkendes Prinzipium, welches die blinde Kraft leitet und führt, ihre Richtung determiniert, die Anordnung der ganzen Masse bestimmt und nach Willkür die einzelnen Teile trennt und verknüpft.

Die Erfahrung belehrt uns, daß unter allen Zonen, in jedem Zeitalter, bei allen Nationen, und in jedem Teile der menschlichen Bildung, die Praxis der Theorie voranging, daß ihre Bildung von Natur den Anfang nahm. Und auch schon vor aller Erfahrung kann die Vernunft sicher im voraus bestimmen, daß die Veranlassung dem Veranlaßten, die Wirkung der Rückwirkung, der Anstoß der Natur der Selbstbestimmung des Menschen vorangehn müsse. – Nur auf Natur kann Kunst, nur auf eine natürliche Bildung kann die künstliche folgen. Und zwar auf eine verunglückte natürliche Bildung: denn wenn der Mensch auf dem leichten Wege der Natur ohne Hindernis immer weiter zum Ziele fortschreiten könnte, so wäre ja die Hülfe der Kunst ganz überflüssig, und es ließe sich in der Tat gar nicht einsehen, was ihn bewegen sollte, einen neuen Weg einzuschlagen. Die bewegende Kraft wird sich in der einmal genommenen Richtung fortbewegen, wenn sie sich selbst überlassen bleibt, und ein Umschwung von außen ihr nicht eine neue Direktion erteilt. Die Natur wird das lenkende Prinzipium der Bildung bleiben, bis sie dies Recht verloren hat, und wahrscheinlich wird nur ein unglücklicher Mißbrauch ihrer Macht den Menschen dahin vermögen, sie ihres Amtes zu entsetzen. Daß der Versuch der natürlichen Bildung mißglücken könne, ist aber gar keine unwahrscheinliche Voraussetzung: der Trieb ist zwar ein mächtiger Beweger, aber ein blinder Führer. Überdem ist hier in die Gesetzgebung selbst etwas Fremdartiges aufgenommen: denn der gesamte Trieb ist ja nicht rein, sondern aus Menschheit und Tierheit zusammengesetzt. Die künstliche Bildung hingegen kann wenigstens zu einer richtigen Gesetzgebung, dauerhafter Vervollkommnung, und endlichen, vollständigen Befriedigung führen: weil dieselbe Kraft, welche das Ziel des Ganzen bestimmt, hier zugleich auch die Richtung der Laufbahn bestimmt, die einzelnen Teile lenkt und ordnet.

Schon in den frühesten Zeitaltern der Europäischen Bildung finden sich unverkennbare Spuren des künstlichen Ursprungs der modernen Poesie. Die Kraft, der Stoff war zwar durch Natur gegeben: das lenkende Prinzip der ästhetischen Bildung war aber nicht der Trieb, sondern gewisse dirigierende Begriffe. Selbst der individuelle Charakter dieser Begriffe war durch Umstände veranlaßt, und durch die äußre Lage notwendig bestimmt. Daß aber der Mensch nach diesen Begriffen sich selbst bestimmte, den gegebnen Stoff ordnete, und die Richtung seiner Kraft determinierte; das war ein freier Aktus des Gemüts. Dieser Aktus ist aber eben der ursprüngliche Quell, der erste bestimmende Anstoß der künstlichen Bildung, welcher also mit vollem Recht der Freiheit zugeschrieben wird. Die Phantasterei der Romantischen Poesie, hat nicht etwa wie Orientalischer Bombast eine abweichende Naturanlage zum Grunde. Es sind vielmehr abenteuerliche Begriffe, durch welche eine an sich glückliche, dem Schönen nicht ungünstige Phantasie eine verkehrte Richtung genommen hatte. Sie stand also unter der Herrschaft von Begriffen; und so dürftig und dunkel diese auch sein mochten, so war doch der Verstand das lenkende Prinzip der ästhetischen Bildung. – Das kolossalische Werk des Dante, dieses erhabne Phänomen in der trüben Nacht jenes eisernen Zeitalters, ist ein neues Dokument für den künstlichen Charakter der ältesten modernen Poesie. Im einzelnen wird niemand die großen überall verbreiteten Züge verkennen, die nur aus jener ursprünglichen Kraft gequollen sein können, welche weder gelehrt noch gelernt werden kann. Die eigensinnige Anordnung der Masse aber, den höchst seltsamen Gliederbau des ganzen Riesenwerks, verdanken wir weder dem göttlichen Barden, noch dem weisen Künstler, sondern den gotischen Begriffen des Barbaren. – Der Reim selbst scheint ein Kennzeichen dieser ursprünglichen Künstlichkeit unsrer ästhetischen Bildung. Zwar kann vielleicht das Vergnügen an der gesetzmäßigen Wiederkehr eines ähnlichen Geräusches in der Natur des menschlichen Gefühlsvermögens selbst gegründet sein. Jeder Laut eines lebenden Wesens hat seinen eigentümlichen Sinn, und auch die Gleichartigkeit mehrerer Laute ist nicht bedeutungslos. Wie der einzelne Laut den vorübergehenden Zustand, so bezeichnet sie die beharrliche Eigentümlichkeit. Sie ist die tönende Charakteristik, das musikalische Portrait einer individuellen Organisation. So wiederholen viele Tierarten stets dasselbe Geräusch, gleichsam um der Welt ihre Identität bekannt zu machen – – sie reimen.

Es ließe sich auch wohl denken, daß bei einer ungünstigen oder sehr abweichenden Naturanlage ein Volk auch ohne Künstelei an der Ähnlichkeit des Geräusches ein ganz unmäßiges Wohlgefallen fände. Aber nur wo verkehrte Begriffe die Direktion der poetischen Bildung bestimmten, konnte man eine fremde gotische Zierrat zum notwendigen Gesetz, und das kindische Behagen an einer eigensinnigen Spielerei beinahe zum letzten Zweck der Kunst erheben. Eben wegen dieser ursprünglichen Barbarei des Reims ist seine weise Behandlung eine so äußerst seltne und schwere Kunst, daß die bewundernswürdige Geschicklichkeit der größten Meister kaum hinreicht, ihn nur unschädlich zu machen. In der schönen Kunst wird der Reim immer eine fremdartige Störung bleiben. Sie verlangt Rhythmus und Melodie: denn nur die gesetzmäßige Gleichartigkeit in der zwiefachen Quantität aufeinander folgender Töne kann das Allgemeine ausdrücken. Die regelmäßige Ähnlichkeit in der physischen Qualität mehrerer Klänge kann nur das Einzelne ausdrücken. Unstreitig kann sie in der Hand eines großen Meisters ungemein viel Sinn bekommen und ein wichtiges Organ der charakteristischen Poesie werden. Auch von dieser Seite bestätigt sich also das Resultat, daß der Reim (nebst der Herrschaft des Charakteristischen selbst) in der künstlichen Bildung der Poesie seine eigentliche Stelle findet.

Es darf uns nicht irre machen, daß dieser Spuren der Künstlichkeit im Anfange der modernen Poesie, im Vergleich gegen die spätere Zeit doch nur wenige sind. Das große barbarische Intermezzo, welches den Zwischenraum zwischen der antiken und der modernen Bildung anfüllt, mußte erst beendigt sein, ehe der Charakter der letztern recht laut werden konnte. Es blieben zwar Fragmente der alten Eigentümlichkeit genug übrig; aber durch die nationale Individualität der Nordischen Sieger wurde dennoch gleichsam ein frischer Zweig auf den schadhaften Stamm gepfropft. Nun mußte freilich die neue Natur erst Zeit haben, zu werden, zu wachsen, und sich zu entwickeln, ehe die Kunst sie nach Willkür lenken und ihre Unerfahrenheit an ihr versuchen konnte. Der Keim der künstlichen Bildung war schon lange vorhanden: in einer künstlichen universellen Religion, in dem unaussprechlichen Elende selbst, welches das endliche Resultat der notwendigen Entartung der natürlichen Bildung war; in den vielen Fertigkeiten, Erfindungen und Kenntnissen, welche nicht verloren gingen. Was von der Ernte der ganzen Vorwelt noch vorhanden war, ward den barbarischen Ankömmlingen zu Teil. Eine große und reiche Erbschaft, welche sie aber dadurch teuer genug erkaufen, daß ihnen die äußerste Unsittlichkeit der in sich selbst versunknen Natur zugleich mit überliefert ward! Das Erdreich mußte erst urbar gemacht werden und kultiviert sein, ehe dieser Keim sich allmählich entwickeln, und aus dem Schoße der Barbarei die neue Form langsam ans Licht treten konnte. Überdem hatte der moderne Geist mit den notwendigen Bedürfnissen der Religion und Politik so viel zu schaffen, daß er erst spät an den Luxus des Schönen denken konnte. Daher blieb auch die Europäische Poesie so geraume Zeit beinahe ganz national. Es sind neben ihrem Naturcharakter nur einige, zwar unverkennbare, aber doch wenige Spuren des künstlichen Charakters sichtbar.

Zwar äußern dirigierende Begriffe ihren Einfluß auf die ästhetische Praxis: diese sind aber selbst so dürftig, daß sie höchstens für frühe Spuren der künftigen Theorie gelten können. Es existiert noch gar keine eigentliche Theorie, welche von der Praxis abgesondert, und notdürftig zusammenhängend wäre. Späterhin tritt aber die Theorie mit ihrem zahlreichen Gefolge desto herrschsüchtiger hervor, greift immer weiter um sich, kündigt sich selbst als gesetzgebendes Prinzip der modernen[236] Poesie an, und wird als solches auch vom Publikum, wie vom Künstler und Kenner anerkannt. Es wäre eigentlich ihre große Bestimmung, dem verderbten Geschmack seine verlorne Gesetzmäßigkeit, und der verirrten Kunst ihre echte Richtung wiederzugeben. Aber nur wenn sie allgemeingültig wäre, könnte sie allgemeingeltend werden, und von einer kraftlosen Anmaßung sich zum Range einer wirklichen öffentlichen Macht erheben. Wie wenig sie aber bis jetzt gewesen sei, was sie sein sollte, ist schon daraus offenbar, daß sie nie mit sich selbst einig werden konnte. Bis dahin müssen die Gränzen des Verstandes und des Gefühls im Gebiete der Kunst von beiden Seiten beständig überschritten werden. Die einseitige Theorie wird sich leicht noch größere Rechte anmaßen, als selbst der allgemeingültigen zukommen würden. Der entartete Geschmack hingegen wird der Wissenschaft seine eigne verkehrte Richtung mitteilen, statt daß er von ihr eine bessere empfangen sollte. Stumpfe oder niedrige Gefühle, verworrne oder schiefe Urteile, lückenhafte oder gemeine Anschauungen werden nicht nur eine Menge einzelner unrichtiger Begriffe und Grundsätze erzeugen, sondern auch grundschiefe Richtungen der Untersuchung, ganz verkehrte Grundgesetze veranlassen. Daher der zwiefache Charakter der modernen Theorie, welcher das unläugbare Resultat ihrer ganzen Geschichte ist. Sie ist nämlich teils ein treuer Abdruck des modernen Geschmacks, der abgezogene Begriff der verkehrten Praxis, die Regel der Barbarei; teils das verdienstvolle stete Streben nach einer allgemeingültigen Wissenschaft.

Aus dieser Herrschaft des Verstandes, aus dieser Künstlichkeit unsrer ästhetischen Bildung erklären sich alle, auch die seltsamsten Eigenheiten der modernen Poesie völlig.

Während der Periode der Kindheit des dirigierenden Verstandes, wenn der theoretisierende Instinkt ein selbständiges Produkt aus sich zu erzeugen noch nicht im Stande ist; pflegt er sich gern an eine gegebne Anschauung anzuschließen, wo er Allgemeingültigkeit – das Objekt seines ganzen Strebens – ahndet. Daher die auffallende Nachahmung des Antiken, auf welche alle Europäische Nationen schon so frühe fielen, bei welcher sie mit der standhaftesten Ausdauer beharrten, und zu der sie immer nach einer kurzen Pause nur auf neue Weise zurückkehrten. Denn der theoretisierende Instinkt hoffte vorzüglich hier sein Streben zu befriedigen, die gesuchte Objektivität zu finden. Der kindische Verstand erhebt das einzelne Beispiel zur allgemeinen Regel, adelt das Herkommen, und sanktioniert das Vorurteil. Die Auktorität der Alten (so schlecht man sie verstand, so verkehrt man sie auch nachahmte) ist das erste Grundgesetz in der Konstitution des ältesten ästhetischen Dogmatismus, welcher nur die Vorübung der eigentlich philosophischen Theorie der Poesie war.

Die Willkür der lenkenden Bildungskunst ist unumschränkt; die gefährlichen Werkzeuge der unerfahrnen sind Scheidung und Mischung aller gegebnen Stoffe und vorhandnen Kräfte. Ohne auch nur zu ahnden, was sie tut, eröffnet sie ihre Laufbahn mit einer zerstörenden Ungerechtigkeit; ihr erster Versuch ist ein Fehler, welcher zahllose andre nach sich zieht, welchen die Anstrengung vieler Jahrhunderte kaum wieder gut machen kann. Der widersinnige Zwang ihrer törichten Gesetze, ihrer gewaltsamen Trennungen und Verknüpfungen hemmt, verwirrt, verwischt, und vernichtet endlich die Natur. Den Werken, welche sie produziert, fehlt es an einem innern Lebensprinzip; es sind nur einzelne durch äußre Gewalt aneinander gefesselte Stücke, ohne eigentlichen Zusammenhang, ohne ein Ganzes. Nach vielfältigen Anstrengungen ist die endliche Frucht ihres langen Fleißes oft keine andre als eine durchgängige Anarchie, eine vollendete Charakterlosigkeit. Die allgemeine Vermischung der Nationalcharaktere, die stete Wechselnachahmung im ganzen Gebiete der modernen Poesie würde zwar schon durch den politischen und religiösen Zusammenhang eines Völkersystems, welches sich durch seine äußre Lage vielfach berührt und aus einem gemeinschaftlichen Stamm entsprungen ist, begreiflich werden können: gleichwohl bekommt sie durch die Künstlichkeit der Bildung einen ganz eigentümlichen Anstrich. Bei einer natürlichen Bildung würden wenigstens gewisse Gränzen der Absonderung, wie der Vereinigung entschieden und bestimmt sein. Die Willkür der Absicht allein konnte eine so gränzenlose Verwirrung erzeugen, und endlich jede Spur von Gesetzmäßigkeit vertilgen! Zwar gibt es noch immer so viele Hauptmassen der Eigentümlichkeit, als große kultivierte Nationen. Doch sind die wenigen gemeinsamen Züge sehr schwankend, und eigentlich existiert jeder Künstler für sich, ein isolierter Egoist in der Mitte seines Zeitalters und seines Volks. Es gibt so viele individuelle Manieren als originelle Künstler. Zu manierierter Einseitigkeit gesellt sich die reichste Vielseitigkeit, von der Zeit an, da die rege gewordne Kraft der Natur anfing ihrer Fülle unter dem Druck des künstlichen Zwanges Luft zu machen. Denn je weiter man von der reinen Wahrheit entfernt ist, je mehr einseitige Ansichten derselben gibt es. Je größer die schon vorhandene Masse des Originellen ist, desto seltner wird neue echte Originalität. Daher die zahllose Legion der nachahmenden Echokünstler; daher genialische Originalität das höchste Ziel des Künstlers, der oberste Maßstab des Kenners.

Der Verstand kann durch zahllose Irrtümer doch endlich eine späte bessere Einsicht teuer erkaufen und sich dann sicher einer dauernden Vervollkommnung nähern. Es ist alsdann unstreitig möglich, daß er den ursprünglichen Nationalcharakter auch rechtmäßig und zu einem höhern Zweck verändern, verwischen und selbst vertilgen könne. Weit unglücklicher noch sind aber diese seine chymischen Versuche in der willkürlichen Scheidung und Mischung der ursprünglichen Künste und reinen Kunstarten. Unvermeidlich wird sein unglücklicher Scharfsinn die Natur gewaltsam zerrütten, ihre Einfachheit verfälschen, und ihre schöne Organisation gleichsam in elementarische Masse auflösen und zerstören. Ob sich aber durch diese künstliche Zusammensetzungen wirkliche neue Verbindungen und Arten entdecken lassen, ist wenigstens äußerst ungewiß. Wie werden nicht die Gränzen der einzelnen Künste in der Vereinigung mehrerer verwirrt? In einem und demselben Kunstwerke ist die Poesie oft zugleich Despotin und Sklavin der Musik. Der Dichter will darstellen, was nur der Schauspieler vermag; und er läßt Lücken für jenen, die nur er selbst ausfüllen könnte. Die dramatische Gattung allein könnte uns eine reiche Beispielsammlung von unnatürlichen Vermischungen der reinen Dichtarten darbieten. Ich wähle nur ein einziges aber ein glänzendes Beispiel: durch die Trefflichkeit der Ausführung wird die Monstrosität der Gattung selbst nur desto sichtbarer. Es gibt eine Art moderner Dramen, welche man lyrische nennen könnte. Nicht wegen einzelner lyrischer Teile: denn jedes schöne dramatische Ganze ist aus lauter lyrischen Elementen zusammengesetzt; sondern ein Gedicht in dramatischer Form, dessen Einheit aber eine musikalische Stimmung oder lyrische Gleichartigkeit ist – die dramatische Äußerung einer lyrischen Begeistrung. Keine Gattung wird von schlechten Kennern so häufig und so sehr verkannt als diese: weil die Einheit der Stimmung nicht durch den Verstand eingesehen, sondern nur durch ein zarteres Gefühl wahrgenommen werden kann. Eins der trefflichsten Gedichte dieser Art, der »Romeo« des Shakespeare ist gleichsam nur ein romantischer Seufzer über die flüchtige Kürze der jugendlichen Freude; ein schöner Klagegesang, daß diese frischesten Blüten im Frühling des Lebens unter dem lieblosen Hauch des rauhen Schicksals so schnell dahinwelken. Es ist eine hinreißende Elegie, wo die süße Pein, der schmerzliche Genuß der zartesten Liebe unauflöslich verwebt ist. Diese bezaubernde Mischung unauflöslich verwebter Anmut und Schmerzen ist aber eben der eigentliche Charakter der Elegie.

Nichts kann die Künstlichkeit der modernen ästhetischen Bildung besser erläutern und bestätigen, als das große Übergewicht des Individuellen, Charakteristischen und Philosophischen in der ganzen Masse der modernen Poesie. Die vielen und trefflichen Kunstwerke, deren Zweck ein philosophisches Interesse ist, bilden nicht etwa bloß eine unbedeutende Nebenart der schönen Poesie, sondern eine ganz eigne große Hauptgattung, welche sich wieder in zwei Unterarten spaltet. Es gibt eine selbsttätige Darstellung einzelner und allgemeiner, bedingter und unbedingter Erkenntnisse, welche von schöner Kunst ebenso verschieden ist, als von Wissenschaft und Geschichte. Das Häßliche ist ihr oft in ihrer Vollendung unentbehrlich, und auch das Schöne gebraucht sie eigentlich nur als Mittel zu ihrem bestimmten philosophischen Zweck. Überhaupt hat man bisher das Gebiet der darstellenden Kunst zu eng beschränkt, das der schönen Kunst hingegen zu weit ausgedehnt. Der spezifische Charakter der schönen Kunst ist freies Spiel ohne bestimmten Zweck; der der darstellenden Kunst überhaupt die Idealität der Darstellung. Idealisch aber ist eine Darstellung (mag ihr Organ nun Bezeichnung oder Nachahmung sein) in welcher der dargestellte Stoff nach den Gesetzen des darstellenden Geistes gewählt und geordnet, wo möglich auch gebildet wird. Wenn es vergönnt ist, alle diejenigen Künstler zu nennen, deren Medium idealische Darstellung, deren Ziel aber unbedingt ist: so gibt es drei spezifisch verschiedene Klassen von Künstlern, je nachdem ihr Ziel das Gute, das Schöne, oder das Wahre ist. Es gibt Erkenntnisse, welche durch historische Nachahmung wie durch intellektuelle Bezeichnung durchaus nicht mitgeteilt, welche nur dargestellt werden können; individuelle idealische Anschauungen, als Beispiele und Belege zu Begriffen und Ideen. Auf der andern Seite gibt es auch Kunstwerke, idealische Darstellungen, welche offenbar keinen andern Zweck haben, als Erkenntnis. Ich nenne die idealische Poesie, deren Ziel das philosophisch Interessante ist, didaktische Poesie. Werke, deren Stoff didaktisch, deren Zweck aber ästhetisch, oder Werke, deren Stoff und Zweck didaktisch, deren äußre Form aber poetisch ist, sollte man durchaus nicht so benennen: denn nie kann die individuelle Beschaffenheit des Stoffs ein hinreichendes Prinzip zu einer gültigen ästhetischen Klassifikation sein. Die Tendenz der meisten, trefflichsten und berühmtesten modernen Gedichte ist philosophisch. Ja die moderne Poesie scheint hier eine gewisse Vollendung, ein Höchstes in ihrer Art erreicht zu haben. Die didaktische Klasse ist ihr Stolz und ihre Zierde; sie ist ihr originellstes Produkt, weder aus verkehrter Nachahmung noch aus irriger Lehre erkünstelt; sondern aus den verborgnen Tiefen ihrer ursprünglichen Kraft erzeugt.

Der große Umfang des Charakteristischen in der ganzen ästhetischen Bildung der Modernen offenbart sich auch in andern Künsten. Gibt es nicht eine charakteristische Malerei, deren Interesse weder ästhetisch, noch historisch, sondern rein physiognomisch, also philosophisch; deren Behandlung aber nicht historisch, sondern idealisch ist? Sie übertrifft sogar an Bestimmtheit der Individualität die Poesie so unendlich weit, wie sie ihr an Umfang, Zusammenhang und Vollständigkeit nachsteht. Selbst in der Musik hat die Charakteristik individueller Objekte ganz wider die Natur dieser Kunst überhand genommen. Auch in der Schauspielkunst herrscht das Charakteristische unumschränkt. Ein mimischer virtuose muß an Organisation und Geist gleichsam ein physischer und intellektueller Proteus sein, um sich selbst in jede Manier und jeden Charakter, bis auf die individuellsten Züge metamorphosieren zu können. Darüber wird die Schönheit vernachlässigt, der Anstand oft beleidigt, und der mimische Rhythmus vollends ganz vergessen.

Was war natürlicher, als daß das lenkende Prinzipium auch das gesetzgebende? daß das philosophisch Interessante letzter Zweck der Poesie ward? Der isolierende Verstand fängt damit an, daß er das Ganze der Natur trennt und vereinzelt. Unter seiner Leitung geht daher die durchgängige Richtung der Kunst auf treue Nachahmung des Einzelnen. Bei höherer intellektueller Bildung wurde also natürlich das Ziel der modernen Poesie originelle und interessante Individualität. Die nackte Nachahmung des Einzelnen ist aber eine bloße Kopistengeschicklichkeit, und keine freie Kunst. Nur durch eine idealische Stellung wird die Charakteristik eines Individuums zum philosophischen Kunstwerk. Durch diese Anordnung muß das Gesetz des Ganzen aus der Masse klar hervortreten, und sich dem Auge leicht darbieten; der Sinn, Geist, innre Zusammenhang des dargestellten Wesens muß aus ihm selbst hervorleuchten. Auch die charakteristische Poesie kann und soll daher im Einzelnen das Allgemeine darstellen; nur ist dieses Allgemeine (das Ziel des Ganzen und das Prinzip der Anordnung der Masse) nicht ästhetisch, sondern didaktisch. Aber selbst die reichhaltigste philosophische Charakteristik ist doch nur eine einzelne Merkwürdigkeit für den Verstand, eine bedingte Erkenntnis, das Stück eines Ganzen, welches die strebende Vernunft nicht befriedigt. Der Instinkt der Vernunft strebt stets nach in sich selbst vollendeter Vollständigkeit, und schreitet unaufhörlich vom Bedingten zum Unbedingten fort. Das Bedürfnis des Unbedingten und der Vollständigkeit ist der Ursprung und Grund der zweiten Art der didaktischen Gattung. Dies ist die eigentliche philosophische Poesie, welche nicht nur den Verstand, sondern auch die Vernunft interessiert. Ihre eigne natürliche Entwicklung und Fortschreitung führt die charakteristische Poesie zur philosophischen Tragödie, dem vollkommnen Gegensatze der ästhetischen Tragödie. Diese ist die Vollendung der schönen Poesie, besteht aus lauter lyrischen Elementen, und ihr endliches Resultat ist die höchste Harmonie. Jene ist das höchste Kunstwerk der didaktischen Poesie, besteht aus lauter charakteristischen Elementen, und ihr endliches Resultat ist die höchste Disharmonie. Ihre Katastrophe ist tragisch; nicht so ihre ganze Masse: denn die durchgängige Reinheit des Tragischen (eine notwendige Bedingung der ästhetischen Tragödie) würde der Wahrheit der charakteristischen und philosophischen Kunst Abbruch tun.

Es ist hier nicht der Ort, die noch völlig unbekannte Theorie der philosophischen Tragödie umständlich zu entwickeln. Doch sei es vergönnt, den aufgestellten Begriff dieser Dichtart, welche an sich ein so interessantes Phänomen, und außerdem eins der wichtigsten Dokumente für die Charakteristik der modernen Poesie ist, durch ein einziges Beispiel zu erläutern, welches an Gehalt und vollendetem Zusammenhang des Ganzen bis jetzt das trefflichste seiner Art ist. – Man verkennt den »Hamlet« oft so sehr, daß man ihn stückweise lobt. Eine ziemlich inkonsequente Toleranz, wenn das Ganze wirklich so unzusammenhängend, so sinnlos ist, als man stillschweigend voraussetzt! Überhaupt ist in Shakespeares Dramen der Zusammenhang selbst zwar so einfach und klar, daß er offnen und unbefangnen Sinnen sichtbar und von selbst einleuchtet. Der Grund des Zusammenhanges aber liegt oft so tief verborgen, die unsichtbaren Bande, die Beziehungen sind so fein, daß auch die scharfsinnigste kritische Analyse mißglücken muß, wenn es an Takt fehlt, wenn man falsche Erwartungen mitbringt, oder von irrigen Grundsätzen ausgeht. Im »Hamlet« entwickeln sich alle einzelnen Teile notwendig aus einem gemeinschaftlichen Mittelpunkt, und wirken wiederum auf ihn zurück. Nichts ist fremd, überflüssig, oder zufällig in diesem Meisterstück künstlerischer Weisheit Der Mittelpunkt des Ganzen liegt im Charakter des Helden. Durch eine wunderbare Situation wird alle Stärke seiner edeln Natur in den Verstand zusammengedrängt, die tätige Kraft aber ganz vernichtet. Sein Gemüt trennt sich, wie auf der Folterbank nach entgegengesetzten Richtungen auseinander gerissen; es zerfällt und geht unter im Überfluß von müßigem Verstand, der ihn selbst noch peinlicher drückt, als alle die ihm nahen. Es gibt vielleicht keine vollkommnere Darstellung der unauflöslichen Disharmonie, welche der eigentliche Gegenstand der philosophischen Tragödie ist, als ein so gränzenloses Mißverhältnis der denkenden und der tätigen Kraft, wie in Hamlets Charakter. Der Totaleindruck dieser Tragödie ist ein Maximum der Verzweiflung. Alle Eindrücke, welche einzeln groß und wichtig schienen, verschwinden als trivial vor dem, was hier als das letzte, einzige Resultat alles Seins und Denkens erscheint; vor der ewigen Kolossalen Dissonanz, welche die Menschheit und das Schicksal unendlich trennt.

Im ganzen Gebiete der modernen Poesie ist dieses Drama für den ästhetischen Geschichtsforscher eins der wichtigsten Dokumente. In ihm ist der Geist seines Urhebers am sichtbarsten; hier ist, was über die andern Werke des Dichters nur einzeln zerstreut ist, gleichsam ganz beisammen. Shakespeare aber ist unter allen Künstlern derjenige, welcher den Geist der modernen Poesie überhaupt am vollständigsten und am treffendsten charakterisiert. In ihm vereinigen sich die reizendsten Blüten der Romantischen Phantasie, die gigantische Größe der gotischen Heldenzeit, mit den feinsten Zügen moderner Geselligkeit, mit der tiefsten und reichhaltigsten poetischen Philosophie. In den beiden letzten Rücksichten könnte es zu Zeiten scheinen, er hätte die Bildung unsers Zeitalters antizipiert. Wer übertraf ihn je an unerschöpflicher Fülle des Interessanten? An Energie aller Leidenschaften? An unnachahmlicher Wahrheit des Charakteristischen? An einziger Originalität? Er umfaßt die eigentümlichsten ästhetischen Vorzüge der Modernen jeder Art im weitesten Umfange, höchster Trefflichkeit und in ihrer ganzen Eigentümlichkeit, sogar bis auf die exzentrischen Sonderbarkeiten und Fehler, welche sie mit sich führen. Man darf ihn ohne Übertreibung den Gipfel der modernen Poesie nennen. Wie reich ist er an einzelnen Schönheiten jeder Art! Wie oft berührt er ganz nahe das höchste Erreichbare! In der ganzen Masse der modernen Poesie entspricht vielleicht nichts dem vollkommenen Schönen so sehr als die liebenswürdige Größe, die bis zur Anmut vollendete Tugend des Brutus im »Cäsar«.

Dennoch wußten viele gelehrte und scharfsinnige Denker nie recht, was sie mit Shakespeare machen sollten. Der inkorrekte Mensch wollte ihren konventionellen Theorien gar nicht recht zusagen. Eine unwiderstehliche Sympathie befreundet nämlich den Kenner ohne Takt und treffenden Blick mit den ordentlichen Dichtern, die zu schwach sind, um ausschweifen zu können. Es ist daher wenig mehr als die Mittelmäßigkeit derjenigen Künstler, die weder warm noch kalt sind, welche unter dem Namen der Korrektheit gestempelt und geheiligt worden ist. Das gewöhnliche Urteil, Shakespeares Inkorrektheit sündige wider die Regeln der Kunst, ist, um wenig zu sagen, sehr voreilig, so lange noch gar keine objektive Theorie existiert. Überdem hat ja noch kaum irgendein Theoretiker auch nur versucht, die Gesetze der charakteristischen Poesie und der philosophischen Kunst überhaupt etwas vollständiger zu entwickeln. Es ist wahr, Shakespeare hat, ungeachtet der beständigen Protestationen der Regelmäßigkeit, die Menge immer unwiderstehlich gefesselt. Dennoch zweifle ich, daß sein philosophischer Geist der Menge eigentlich faßlich sein könne. Durch seine sinnliche Stärke fortgerissen, von seiner täuschenden Wahrheit ergriffen, und höchstens durch seine unerschöpfliche Fülle bezaubert, war es vielleicht nur seine körperliche Masse, bei der sie stehenblieben.

Man hat, so scheint es, den richtigen Gesichtspunkt ganz verfehlt. Wer seine Poesie als schöne Kunst beurteilt, der gerät nur in tiefere Widersprüche, je mehr Scharfsinn er besitzt, je besser er den Dichter kennt. Wie die Natur Schönes und Häßliches durcheinander mit gleich üppigem Reichtum erzeugt, so auch Shakespeare. Keins seiner Dramen ist in Masse schön; nie bestimmt Schönheit die Anordnung des Ganzen. Auch die einzelnen Schönheiten sind wie in der Natur nur selten von häßlichen Zusätzen rein, und sie sind nur Mittel eines andern Zwecks; sie dienen dem charakteristischen oder philosophischen Interesse. Er ist oft auch da eckig und ungeschliffen, wo die feinere Rundung am nächsten lag; nämlich um dieses höhern Interesse willen. Nicht selten ist seine Fülle eine unauflösliche Verwirrung und das Resultat des Ganzen ein unendlicher Streit. Selbst mitten unter den heitern Gestalten unbefangner Kindheit oder fröhlicher Jugend verwundet uns eine bittre Erinnerung an die völlige Zwecklosigkeit des Lebens, an die vollkommne Leerheit alles Daseins. Nichts ist so widerlich, bitter, empörend, ekelhaft, platt und gräßlich, dem seine Darstellung sich entzöge, sobald es ihr Zweck dessen bedarf. Nicht selten entfleischt er seine Gegenstände, und wühlt wie mit anatomischem Messer in der ekelhaften Verwesung moralischer Kadaver. »Daß er den Menschen mit seinem Schicksale auf die freundlichste Weise bekannt mache;« ist daher wohl eine zu weit getriebne Milderung. Ja eigentlich kann man nicht einmal sagen, daß er uns zu der reinen Wahrheit führe. Er gibt uns nur eine einseitige Ansicht derselben, wenngleich die reichhaltigste und umfassendste. Seine Darstellung ist nie objektiv, sondern durchgängig maniriert: wiewohl ich der erste bin, der eingesteht, daß seine Manier die größte, seine Individualität die interessanteste sei, welche wir bis jetzt kennen. Man hat es schon oft bemerkt, daß das originelle Gepräge seiner individuellen Manier unverkennbar und unnachahmlich sei. Vielleicht kann überhaupt das Individuelle nur individuell aufgefaßt und dargestellt werden. Wenigstens scheinen charakteristische Kunst und Manier unzertrennliche Gefährten, notwendige Korrelaten. Unter Manier verstehe ich in der Kunst eine individuelle Richtung des Geistes und eine individuelle Stimmung der Sinnlichkeit, welche sich in Darstellungen, die idealisch sein sollen, äußern.

Aus diesem Mangel der Allgemeingültigkeit, aus dieser Herrschaft des Manirierten, Charakteristischen und Individuellen, erklärt sich von selbst die durchgängige Richtung der Poesie, ja der ganzen ästhetischen Bildung der Modernen aufs Interessante. Interessant nämlich ist jedes originelle Individuum, welches ein größeres Quantum von intellektuellem Gehalt oder ästhetischer Energie enthält. Ich sagte mit Bedacht: ein größeres. Ein größeres nämlich als das empfangende Individuum bereits besitzt: denn das Interessante verlangt eine individuelle Empfänglichkeit, ja nicht selten eine momentane Stimmung derselben. Da alle Größen ins Unendliche vermehrt werden können, so ist klar, warum auf diesem Wege nie eine vollständige Befriedigung erreicht werden kann; warum es kein höchstes Interessantes gibt. Unter den verschiedensten Formen und Richtungen, in allen Graden der Kraft äußert sich in der ganzen Masse der modernen Poesie durchgängig dasselbe Bedürfnis nach einer vollständigen Befriedigung, ein gleiches Streben nach einem absoluten Maximum der Kunst. – Was die Theorie versprach, was man in der Natur suchte, in jedem einzelnen Idol zu finden hoffte; was war es anders als ein ästhetisches Höchstes? Je öfter das in der menschlichen Natur gegründete Verlangen nach vollständiger Befriedigung durch das Einzelne und Veränderliche (auf deren Darstellung die Kunst bisher ausschließend gerichtet war) getäuscht wurde, je heftiger und rastloser ward es. Nur das Allgemeingültige, Beharrliche und Notwendige – das Objektive kann diese große Lücke ausfüllen; nur das Schöne kann diese heiße Sehnsucht stillen. Das Schöne (ich stelle dessen Begriff hier nur problematisch auf, und lasse dessen wirkliche Gültigkeit und Anwendbarkeit für jetzt unentschieden) ist der allgemeingültige Gegenstand eines uninteressierten Wohlgefallens, welches von dem Zwange des Bedürfnisses und des Gesetzes gleich unabhängig, frei und dennoch notwendig, ganz zwecklos und dennoch unbedingt zweckmäßig ist. Das Übermaß des Individuellen führt also von selbst zum Objektiven, das Interessante ist die Vorbereitung des Schönen, und das letzte Ziel der modernen Poesie kann kein andres sein als das höchste Schöne, ein Maximum von objektiver ästhetischer Vollkommenheit.

In diesem zweiten Berührungspunkte treffen von neuem die verschiedenen Ströme, in die sich die moderne Poesie seit ihrem Ursprunge spaltete, alle zusammen. Die Künstlichkeit ihrer Bildung enthielt den Grund ihrer Eigenschaften, und wenn die Richtung und das Ziel ihrer Laufbahn den Zweck ihrer Bestrebungen begreiflich macht, so wird der Sinn ihrer ganzen Masse vollständig erklärt, und unsre Frage beantwortet sein.

Die Herrschaft des Interessanten ist durchaus nur eine vorübergehende Krise des Geschmacks: denn sie muß sich endlich selbst vernichten. Doch sind die zwei Katastrophen, unter denen sie zu wählen hat, von sehr verschiedner Art. Geht die Richtung mehr auf ästhetische Energie, so wird der Geschmack, der alten Reize je mehr und mehr gewohnt, nur immer heftigere und schärfere begehren. Er wird schnell genug zum Piquanten und Frappanten übergehn. Das Piquante ist, was eine stumpfgewordne Empfindung krampfhaft reizt; das Frappante ist ein ähnlicher Stachel für die Einbildungskraft. Dies sind die Vorboten des nahen Todes. Das Fade ist die dünne Nahrung des ohnmächtigen, und das Choquante, sei es abenteuerlich, ekelhaft oder gräßlich, die letzte Konvulsion des sterbenden Geschmacks. – Wenn hingegen philosophischer Gehalt in der Tendenz des Geschmacks das Übergewicht hat, und die Natur stark genug ist, auch den heftigsten Erschütterungen nicht zu unterliegen: so wird die strebende Kraft, nachdem sie sich in Erzeugung einer übermäßigen Fülle des Interessanten erschöpft hat, sich gewaltsam ermannen, und zu Versuchen des Objektiven übergehn. Daher ist der echte Geschmack in unserm Zeitalter weder ein Geschenk der Natur noch eine Frucht der Bildung allein, sondern nur unter der Bedingung großer sittlicher Kraft und fester Selbständigkeit möglich.

Die erhabne Bestimmung der modernen Poesie ist also nichts geringeres als das höchste Ziel jeder möglichen Poesie, das Größte was von der Kunst gefordert werden, und wonach sie streben kann. Das unbedingt Höchste kann aber nie ganz erreicht werden. Das äußerste, was die strebende Kraft vermag, ist: sich diesem unerreichbaren Ziele immer mehr und mehr zu nähern. Und auch diese endlose Annäherung scheint nicht ohne innere Widersprüche zu sein, die ihre Möglichkeit zweifelhaft machen. Die Rückkehr von entarteter Kunst zur echten, vom verderbten Geschmack zum richtigen scheint nur ein plötzlicher Sprung sein zu können, der sich mit dem steten Fortschreiten, durch welches sich jede Fertigkeit zu entwickeln pflegt, nicht wohl vereinigen läßt. Denn das Objektive ist unveränderlich und beharrlich: sollte also die Kunst und der Geschmack je Objektivität erreichen, so müßte die ästhetische Bildung gleichsam fixiert werden. Ein absoluter Stillstand der ästhetischen Bildung läßt sich gar nicht denken. Die moderne Poesie wird sich also immer verändern. Kann sie sich aber nicht ebensowohl wiederum rückwärts von dem Ziele entfernen? Kann sie dies nicht auch dann noch, wenn sie schon eine bessere Richtung genommen hatte? Sind also nicht alle menschlichen Bemühungen fruchtlos? –

Schon im Einzelnen ist das Schöne eine Gunst der Natur. Wie viel mehr wird es in der Masse immer von einem einzigen Zusammenfluß seltner Umstände abhängen, welchen der Mensch nicht einmal zu lenken, geschweige denn hervorzubringen vermag? Überhaupt können die Ansprüche an die Selbsttätigkeit der Masse, so scheint es, nie mäßig genug sein. Ihre Bildung, ihre Fortschritte und ihr endliches Gelingen bleiben – trauriges Los! – dem Zufall überlassen.

Alle bessere Menschen hassen den Zufall und sein Gefolge in jeder Gestalt. Jene große Aufgabe des Schicksals muß gleichsam ein mächtiges Aufgebot der Aufmerksamkeit und Tätigkeit für alle die sein, welche die Poesie interessiert. Mag die Hoffnung noch so gering, die Auflösung noch so schwer sein: der Versuch ist notwendig! Wer hier gleichgültig und faul bleibt, dem liegt nichts an der Würde der Kunst und der Menschheit. Was hilft die Höhe der Bildung ohne eine feste Grundlage? Was Kraft ohne eine sichre Richtung, ohne Ebenmaß und Gleichgewicht? Was ein Chaos einzelner schöner Elemente ohne eine vollständige, reine Schönheit? Nur die gewisse Aussicht auf eine günstige Katastrophe der Zukunft könnte uns über den jetzigen Zustand der ästhetischen Bildung befriedigen und beruhigen.

Wahr ists, der Gang der modernen Bildung, der Geist unsres Zeitalters und der Deutsche Nationalcharakter insbesondre scheinen der Poesie nicht sehr günstig! – »Wie geschmacklos sind doch, könnte vielleicht mancher denken, alle Einrichtungen und Verfassungen; wie unpoetisch alle Gebräuche, die ganze Lebensart der Modernen! Überall herrscht schwerfällige Formalität ohne Leben und Geist, leidenschaftliche Verwirrung und häßlicher Streit. Umsonst sucht mein Blick hier eine freie Fülle, eine leichte Einheit. – Heißt es, die edle Kraft der Deutschen Vorväter verkennen, wenn man Zweifel hegt, ob die Goten geborne Dichter waren? Oder war auch das barbarische Christentum der Mönche eine schöne Religion? Tausend Beweise rufen euch einstimmig zu: Prosa ist die eigentliche Natur der Modernen. Früherhin ist in der modernen Poesie doch wenigstens gigantische Kraft und phantastisches Leben. Bald aber wurde die Kunst das gelehrte Spielwerk eitler Virtuosen. Die Lebenskraft jener heroischen Zeit war nun verloschen, der Geist entflohn; nur der Nachhall des ehemaligen Sinns blieb zurück. Was ist die Poesie der spätern Zeit, als ein Chaos aus dürftigen Fragmenten der Romantischen Poesie, ohnmächtigen Versuchen höchster Vollkommenheit, welche sich mit wächsernen Flügeln in grader Richtung gen Himmel schwingen, und aus verunglückten Nachahmungen mißverstandner Muster? So flickten Barbaren aus schönen Fragmenten einer bessern Welt Gotische Gebäude zusammen. So fertigt der Nordische Schüler mit eisernem Fleiß mühsam nach der Antike steinerne Gemälde – Die Menschheit blühte nur einmal und nicht wieder. Diese Blüte war die schöne Kunst. Im herben Winter läßt sich ja kein künstlicher Frühling erzwingen. Der allgemeine Geist des Zeitalters ist überdem aufgelöste Erschlaffung und Sittenlosigkeit. Ihr seid schlecht, und wollt schön scheinen? Euer Innres ist wurmstichig und euer Äußres soll rein sein? Widersinniges Beginnen! Wo der Charakter entmannt ist, wo es keine eigentliche sittliche Bildung gibt, da sinkt die Kunst natürlich zu einem niedrigen Kitzel zerflossener Üppigkeit herab. – Am hoffnungslosesten ist das Los der Deutschen Poesie! Unter den Engländern und Franzosen haben doch wenigstens die Darstellungen des geselligen Lebens ursprüngliche Wahrheit, eigne Bestandheit, lebendigen Sinn und echte Bedeutung. Der Deutsche hingegen kann nicht darstellen, was er gar nicht hat; wenn er es versucht, fällt er in überspannte Träumereien oder in Frost. Zwar entfernt auch den Engländer die eckige Ungeschliffenheit, der stumpfe Trübsinn, die eiserne Hartnäckigkeit; den Franzosen die flache Heftigkeit, der seichte Ungestüm, die abgeschliffne Leerheit ihres einseitigen Nationalcharakters weit genug vom vollkommnen Schönen. Den charakterlosen Deutschen macht aber die kleinliche Umständlichkeit, die verworrne Schwerfälligkeit, die uralte bedächtliche Langsamkeit seines Geistes zu den leichten Spielen der freien Kunst vollends ganz unfähig. Einzelne Ausnahmen beweisen nichts fürs Ganze. Gibt es auch in Deutschland hie und da Geschmack, so gab es auch noch unter dem Nero Römer.«

In solchen und noch schwärzern historischen Rembrandts schildert man mit Farben der Hölle – zwar nicht ohne feierliches Pathos im Vortrag, aber eigentlich leichtsinnig genug – den Geist großer Völker, eines merkwürdigen Zeitalters. Jeder einzelne Zug dieser Darstellung kann wahr sein, oder doch etwas Wahres enthalten, wenn aber die Züge nicht vollständig sind, wenn der Zusammenhang fehlt, so ist das Ganze dennoch falsch. – So ist die höchste ästhetische Erschlaffung in dem Zusammenhange unsres Zeitalters ein offenbar günstiges Symptom der vorübergehenden wohltätigen Krise des Interessanten, welcher nur die schwache Natur unterliegt. Diese Erschlaffung entspringt aus dem gewaltsamsten oft überspannten Streben; daher steht so oft die größte Kraft dicht neben ihr. Der Fall ist natürlich der Höhe, die Erschlaffung der Anspannung gleich. Die Sittenlosigkeit mag von der Masse wahr sein, doch würde sie die Fortschritte des Geschmacks schwerlich hemmen, welche der sittlichen Bildung leicht zuvoreilen könnten. Der Geschmack ist ungleich freier von äußrer Gewalt und von verderblicher Ansteckung. Die sittliche Bildung auch der Einzelnen wird durch die verführerische Gewalt der Masse viel leichter fortgerissen, durch allgemeinherrschende Vorurteile erstickt, durch äußre Einrichtungen jeder Art gefesselt. Es kann auch nicht von einem glücklichen Nationalcharakter allein abhängen, ob die Poesie der Modernen ihre hohe Bestimmung erreichen werde oder nicht: denn ihre Bildung ist künstlich. Der bessre Geschmack der Modernen soll nicht ein Geschenk der Natur, sondern das selbständige Werk ihrer Freiheit sein. Wenn nur Kraft da ist, so wird es der Kunst endlich gelingen können, die Einseitigkeit derselben zu berichtigen und die höchste Gunst der Natur zu ersetzen. An ästhetischer Kraft fehlt es aber den Modernen nicht, wenn ihr gleich noch eine weise Führung fehlt. Gewiß ihre poetische Anlage ließe sich wohl in Schutz nehmen. Oder ist die Natur auch gegen die Italiäner karg gewesen? Es sind bei den Deutschen noch Erinnerungen übrig, daß der Deutsche Geschmack später gebildet wurde. So weit sie die andern kultivierten Nationen Europas im Einzelnen übertreffen, so weit stehn sie in Masse zurück. Anspruchslose Erfindsamkeit und bescheidne Kraft aber sind ursprüngliche charakteristische Züge dieser Nation, die sich oft selbst verkennt. Die berüchtigte Deutsche Nachahmungssucht mag hie und da wirklich den Spott verdienen, mit dem man sie zu brandmarken pflegt. Im Ganzen aber ist Vielseitigkeit ein echter Fortschritt der ästhetischen Bildung, und ein naher Vorbote der Allgemeingültigkeit. Die sogenannte Charakterlosigkeit der Deutschen ist also dem manirierten Charakter andrer Nationen weit vorzuziehen, und erst, wenn die nationale Einseitigkeit ihrer ästhetischen Bildung mehr verwischt, und berichtigt sein wird, können sie sich zu der höhern Stufe jener Vielseitigkeit erheben.

Der Charakter der ästhetischen Bildung unsres Zeitalters und unsrer Nation verrät sich selbst durch ein merkwürdiges und großes Symptom. Goethens Poesie ist die Morgenröte echter Kunst und reiner Schönheit. – Die sinnliche Stärke, welche ein Zeitalter, ein Volk mit sich fortreißt, war der kleinste Vorzug, mit dem schon der Jüngling auftrat. Der philosophische Gehalt, die charakteristische Wahrheit seiner spätern Werke durfte mit dem unerschöpflichen Reichtum des Shakespeare verglichen werden. Ja wenn der »Faust« vollendet wäre, so würde er wahrscheinlich den »Hamlet«, das Meisterstück des Engländers, mit welchem er gleichen Zweck zu haben scheint, weit übertreffen. Was dort nur Schicksal, Begebenheit – Schwäche ist, das ist hier Gemüt, Handlung – Kraft. Hamlets Stimmung und Richtung nämlich ist ein Resultat seiner äußern Lage; Fausts ähnliche Richtung ist ursprünglicher Charakter. – Die Vielseitigkeit des darstellenden Vermögens dieses Dichters ist so gränzenlos, daß man ihn den Proteus unter den Künstlern nennen, und diesem Meergotte gleichstellen könnte, von dem es heißt:

»Erstlich ward er ein Leu mit fürchterlich wallender Mähne.

Floß dann als Wasser dahin, und rauscht‘ als Baum in den Wolken;«

Man kann daher den mystischen Ausdruck der richtigen Wahrnehmung allenfalls verzeihen, wenn einige Liebhaber ihm eine gewisse poetische Allmacht beilegen, welcher nichts unmöglich sei; und sich in scharfsinnigen Abhandlungen über seine Einzigkeit erschöpfen.

Mir scheint es, daß dieser raffinierte Mystizismus den richtigen Gesichtspunkt verfehle; daß man Goethen sehr Unrecht tue, wenn man ihn auf diese Weise in einen Deutschen Shakespeare metamorphosiert. In der charakteristischen Poesie würde der manirierte Engländer vielleicht doch den Vorzug behaupten. Das Ziel des Deutschen ist aber das Objektive. Das Schöne ist der wahre Maßstab, seine liebenswürdige Dichtung zu würdigen. – Was kann reizender sein als die leichte Fröhlichkeit, die ruhige Heiterkeit seiner Stimmung? Die reine Bestimmtheit, die zarte Weichheit seiner Umrisse? Hier ist nicht bloß Kraft, sondern auch Ebenmaß und Gleichgewicht! Die Grazien selbst verrieten ihrem Lieblinge das Geheimnis einer schönen Stellung. Durch einen wohltätigen Wechsel von Ruhe und Bewegung weiß er das reizendste Leben über das Ganze gleichmäßig zu verbreiten, und in einfachen Massen ordnet sich die freie Fülle von selbst zu einer leichten Einheit.

Er steht in der Mitte zwischen dem Interessanten und dem Schönen, zwischen dem Manirierten und dem Objektiven. Es darf uns daher nicht befremden, daß in einigen wenigen Werken seine eigne Individualität noch zu laut wird, daß er in vielen andern sich nach Laune metamorphosiert, und fremde Manier annimmt. Dies sind gleichsam übriggebliebene Erinnerungen an die Epoche des Charakteristischen und Individuellen. Und doch weiß er, so weit dies möglich ist, selbst in die Manier eine Art von Objektivität zu bringen. So gefällt er sich auch zu Zeiten in geringfügigem Stoff, der hie und da so dünne und gleichgültig wird, als ginge er ernstlich damit um – wie es ein leeres Denken ohne Inhalt gibt – ganz reine Gedichte ohne allen Stoff hervorzubringen. In diesen Werken ist der Trieb des Schönen gleichsam müßig; sie sind ein reines Produkt des Darstellungstriebes allein. Fast könnte es scheinen, als sei die Objektivität seiner Kunst nicht angeborne Gabe allein, sondern auch Frucht der Bildung; die Schönheit seiner Werke hingegen eine unwillkürliche Zugabe seiner ursprünglichen Natur. Er ist im Fröhlichen wie im Rührenden immer reizend; so oft er will, schön; seltner erhaben. Seine rührende Kraft streift hie und da, aus ungestümer Heftigkeit ans Bittre und Empörende, oder aus mildernder Schwächung ans Matte. Gewöhnlich aber ist hinreißende Kraft mit weiser Schonung aufs glücklichste vereinigt. – Wo er ganz frei von Manier ist, da ist seine Darstellung wie die ruhige und heitre Ansicht eines höhern Geistes, der keine Schwäche teilt, und durch kein Leiden gestört wird, sondern die reine Kraft allein ergreift und für die Ewigkeit hinstellt. Wo er ganz er selbst ist, da ist der Geist seiner reizenden Dichtung liebliche Fülle und hinreißende Anmut.

Dieser große Künstler eröffnet die Aussicht auf eine ganz neue Stufe der ästhetischen Bildung. Seine Werke sind eine unwiderlegliche Beglaubigung, daß das Objektive möglich, und die Hoffnung des Schönen kein leerer Wahn der Vernunft sei. Das Objektive ist hier wirklich schon erreicht, und da die notwendige Gewalt des Instinkts jede stärkere ästhetische Kraft (die sich nicht selbst aufreibt) aus der Krise des Interessanten dahin führen muß: so wird das Objektive auch bald allgemeiner, es wird öffentlich anerkannt, und durchgängig herrschend werden. Dann hat die ästhetische Bildung den entscheidenden Punkt erreicht, wo sie sich selbst überlassen nicht mehr sinken, sondern nur durch äußre Gewalt in ihren Fortschritten aufgehalten, oder (etwa durch eine physische Revolution) völlig zerstört werden kann. Ich meine die große, moralische Revolution, durch welche die Freiheit in ihrem Kampfe mit dem Schicksal (in der Bildung) endlich ein entschiedenes Übergewicht über die Natur bekommt. Dies geschieht in dem wichtigen Moment, wenn auch im bewegenden Prinzip, in der Kraft der Masse die Selbsttätigkeit herrschend wird; denn das lenkende Prinzip der künstlichen Bildung ist ohnehin selbsttätig. Nach jener Revolution wird nicht nur der Gang der Bildung, die Richtung der ästhetischen Kraft, die Anordnung der ganzen Masse des gemeinschaftlichen Produkts nach dem Zweck und Gesetz der Menschheit sich bestimmen; sondern auch in der vorhandnen Kraft und Masse der Bildung selbst wird das Menschliche das Übergewicht haben. Wenn die Natur nicht etwa Verstärkung bekommt, wie durch eine physische Revolution, die freilich alle Kultur mit einem Streich vernichten könnte: so kann die Menschheit in ihrer Entwicklung ungestört fortschreiten. Die künstliche Bildung kann dann wenigstens nicht wie die natürliche in sich selbst zurücksinken. – Es ist auch kein Wunder, daß die Freiheit in jenem harten Kampf endlich den Sieg davonträgt, wenngleich die Überlegenheit der Natur im Anfange der Bildung noch so groß sein mag. Denn die Kraft des Menschen wächst mit verdoppelter Progression, indem jeder Fortschritt nicht nur größere Kräfte gewährt, sondern auch neue Mittel zu fernern Fortschritten an die Hand gibt. Der lenkende Verstand mag sich, so lange er unerfahren ist, noch so oft selbst schaden: es muß eine Zeit kommen, wo er alle seine Fehler reichlich ersetzen wird. Die blinde Übermacht muß endlich dem verständigen Gegner unterliegen. – Nichts ist überhaupt so einleuchtend als die Theorie der Perfektibilität. Der reine Satz der Vernunft von der notwendigen unendlichen Vervollkommnung der Menschheit ist ohne alle Schwierigkeit. Nur die Anwendung auf die Geschichte kann die schlimmsten Mißverständnisse veranlassen, wenn der Blick fehlt, den eigentlichen Punkt zu treffen, den rechten Moment wahrzunehmen, das Ganze zu übersehn. Es ist immer schwer, oft unmöglich, das verworrne Gewebe der Erfahrung in seine einfachen Fäden aufzulösen, die gegenwärtige Stufe der Bildung richtig zu würdigen, die nächstkommende glücklich zu erraten.

Den Gang und die Richtung der modernen Bildung bestimmen herrschende Begriffe. Ihr Einfluß ist also unendlich wichtig, ja entscheidend. Wie es in der modernen Masse nur wenige Bruchstücke echter sittlicher Bildung gibt, moralische Vorurteile aber statt großer und guter Gesinnungen allgemein herrschen: so gibt es auch ästhetische Vorurteile, welche weit tiefer gewurzelt, allgemeiner verbreitet, und ungleich schädlicher sind, als es dem ersten flüchtigen Blick scheinen möchte. Der allmähliche und langsame Stufengang der Entwicklung des Verstandes führt notwendigerweise einseitige Meinungen mit sich. Diese enthalten zwar einzelne Züge der Wahrheit; aber die Züge sind unvollständig und aus ihrem eigentlichen Zusammenhang gerissen, und dadurch der Gesichtspunkt verrückt, das Ganze zerstört. Solche Vorurteile sind zuweilen zu ihrer Zeit gewissermaßen nützlich, und haben eine lokale Zweckmäßigkeit. So wurde durch den orthodoxen Glauben, daß es eine Wissenschaft gebe, die allein zureichend sei, schöne Werke zu verfertigen, doch das Streben nach dem Objektiven aufrecht, und standhaft erhalten; und das System der ästhetischen Anarchie diente wenigstens dazu, den Despotismus der einseitigen Theorie zu desorganisieren. Gefährlicher und schlechthin verwerflich sind aber andre ästhetische Vorurteile, welche die fernere Entwicklung selbst hemmen. Es ist die heiligste Pflicht aller Freunde der Kunst, solche Irrtümer, welche der natürlichen Freiheit schmeicheln, und die Selbstkraft lähmen, indem sie die Hoffnungen der Kunst als unmöglich, die Bestrebungen derselben als fruchtlos darstellen, ohne Schonung zu bekämpfen, ja wo möglich ganz zu vertilgen.

So denken viele: »Schöne Kunst sei gar nicht Eigentum der ganzen Menschheit; am wenigsten eine Frucht künstlicher Bildung. Sie sei die unwillkürliche Ergießung einer günstigen Natur; die lokale Frucht des glücklichsten Klima; eine momentane Epoche, eine vorübergehende Blüte, gleichsam der kurze Frühling der Menschheit. Da sei schon die Wirklichkeit selbst edel, schön und reizend, und die gemeinste Volkssage ohne alle künstliche Zubereitung bezaubernde Poesie. Jene frische Blüte der jugendlichen Phantasie, jene mächtige und schnelle Elastizität, jene höhere Gesundheit des Gefühls könne nicht erkünstelt, und einmal zerrüttet nie wieder geheilt werden. Am wenigsten unter der Nordischen Härte eines trüben Himmels, der Barbarei gotischer Verfassungen, dem Herzensfrost gelehrter Vielwisserei.«

Vielleicht kann dies unter manchen Einschränkungen, wenigstens für einen Teil der bildenden Kunst gelten. Es scheint in der Tat daß für schöne Plastik der Mangel einer glücklichen Organisation, und eines günstigen Klimas weder durch einen gewaltsamen Schwung der Freiheit, noch durch die höchste Bildung ersetzt werden könne. Mit Unrecht und wider alle Erfahrung dehnt man dies aber auch auf die Poesie aus. Wie viel große Barden und glückliche Dichter gab es nicht unter allen Zonen, deren ursprüngliche Feuerkraft durch die ausgesuchteste Unterdrückung nicht erstickt werden konnte? Die Poesie ist eine universelle Kunst: denn ihr Organ, die Phantasie ist schon ungleich näher mit der Freiheit verwandt, und unabhängiger von äußerm Einfluß. Poesie und poetischer Geschmack ist daher weit korruptibler wie der plastische, aber auch unendlich perfektibler. Allerdings ist die frische Blüte der jugendlichen Phantasie ein köstliches Geschenk der Natur und zugleich das flüchtigste. Schon durch einen einzigen giftigen Hauch entfärbt sich das Kolorit der Unschuld, und welkend senkt die schöne Blume ihr Haupt. Aber auch dann, wenn die Phantasie schon lange durch Vielwisserei erdrückt und abgestumpft, durch Wollust erschlafft und zerrüttet worden ist, kann sie sich durch einen Schwung der Freiheit und durch echte Bildung von neuem emporschwingen, und allmählich vervollkommnen. Stärke, Feuer, Elastizität kann sie völlig wieder erreichen; nur das frische Kolorit, der romantische Duft jenes Frühlings kehrt im Herbst nicht leicht zurück.

Sehr allgemein verbreitet ist ein andres Vorurteil, welches der schönen Kunst sogar alle selbständige Existenz, alle eigentümliche Bestandheit völlig abspricht; ihre spezifische Verschiedenheit ganz leugnet. Ich fürchte, wenn gewisse Leute laut dächten, es würden sich viele Stimmen erheben: »Die Poesie sei nichts andres als die sinnbildliche Kindersprache der jugendlichen Menschheit: nur Vorübung der Wissenschaft, Hülle der Erkenntnis, eine überflüssige Zugabe des wesentlich Guten und Nützlichen. Je höher die Kultur steige, desto unermeßlicher verbreite sich das Gebiet der deutlichen Erkenntnis; das eigentliche Gebiet der Darstellung – die Dämmerung schrumpfe vor dem einbrechenden Licht immer enger zusammen. Der helle Mittag der Aufklärung sei nun da. Poesie – diese artige Kinderei sei für das letzte Jahrzehnt unsres philosophischen Jahrhunderts nicht mehr anständig. Es sei endlich einmal Zeit, damit aufzuhören.«

So hat man einen einzelnen Bestandteil der schönen Kunst, einen vorübergehenden Zustand derselben in einer frühern Stufe der Bildung mit ihrem Wesen selbst verwechselt. So lange die menschliche Natur existiert, wird der Trieb zur Darstellung sich regen, und die Forderung des Schönen bestehen. Die notwendige Anlage des Menschen, welche, sobald sie sich frei entwickeln darf, schöne Kunst erzeugen muß, ist ewig. Die Kunst ist eine ganz eigentümliche Tätigkeit des menschlichen Gemüts, welche durch ewige Gränzen von jeder andern geschieden ist. – Alles menschliche Tun und Leiden ist ein gemeinschaftliches Wechselwirken des Gemüts und der Natur. Nun muß entweder die Natur oder das Gemüt den letzten Grund des Daseins eines gemeinschaftlichen einzelnen Produkts enthalten, oder den ersten bestimmenden Stoß zu dessen Hervorbringung geben. Im ersten Fall ist das Resultat Erkenntnis. Der Charakter des rohen Stoffs bestimmt den Charakter der aufgefaßten Mannigfaltigkeit, und veranlaßt das Gemüt, diese Mannigfaltigkeit zu einer bestimmten Einheit zu verknüpfen, und in einer bestimmten Richtung die Verknüpfung fortzusetzen, und zur Vollständigkeit zu ergänzen. Erkenntnis ist eine Wirkung der Natur im Gemüt. – Im zweiten Fall hingegen muß das freie Vermögen sich selbst eine bestimmte Richtung geben, und der Charakter der gewählten Einheit bestimmt den Charakter der zu wählenden Mannigfaltigkeit, die jenem Zwecke gemäß gewählt, geordnet und womöglich gebildet wird. Das Produkt ist ein Kunstwerk und eine Wirkung des Gemüts in der Natur. Zur darstellenden Kunst gehört jede Ausführung eines ewigen menschlichen Zwecks im Stoff der äußern mit dem Menschen nur mittelbar verbundnen Natur. Es ist nicht zu besorgen, daß dieser Stoff je ausgehn, oder daß die ewigen Zwecke je aufhören werden, Zwecke des Menschen zu sein. – Nicht weniger ist die Schönheit durch ewige Gränzen von allen übrigen Teilen der menschlichen Bestimmung geschieden. Die reine Menschheit (ich verstehe darunter hier die vollständige Bestimmung der menschlichen Gattung) ist nur eine und dieselbe, ohne alle Teile. In ihrer Anwendung auf die Wirklichkeit aber teilt sie sich nach der ewigen Verschiedenheit der ursprünglichen Vermögen und Zustände, und nach den besondern Organen, welche diese erfordern, in mehrere Richtungen. Wenn ich hier voraussetzen darf, daß das Gefühlsvermögen vom Vorstellungsvermögen und Begehrungsvermögen spezifisch verschieden sei; daß ein mittlerer Zustand zwischen dem Zwang des Gesetzes und des Bedürfnisses, ein Zustand des freien Spiels, und der bestimmungslosen Bestimmbarkeit in der menschlichen Natur ebenso notwendig sei, wie der Zustand gehorsamer Arbeit, und beschränkter Bestimmtheit: so ist auch die Schönheit eine dieser Richtungen und von ihrer Gattung – der ganzen Menschheit, wie von ihren Nebenarten – den übrigen ursprünglichen Bestandteilen der menschlichen Aufgabe, spezifisch verschieden.

Aber nicht bloß die Anlage zur Kunst und das Gebot der Schönheit sind physisch und moralisch notwendig; auch die Organe der schönen Kunst versprechen Dauer. Es muß doch wohl nicht erst erwiesen werden, daß der Schein ein unzertrennlicher Gefährte des Menschen sei? Den Schein der Schwäche, des Irrtums, des Bedürfnisses mag das Licht der Aufklärung immerhin zerstören: der freie Schein der spielenden Einbildungskraft kann darunter nicht leiden. Nur muß man der generelle Forderung der Darstellung und Erscheinung nicht eine spezielle Art der Bildlichkeit unterschieben; oder die gewaltsamen Ausbrüche der furchtbaren Leidenschaften wilder Naturmenschen mit dem Wesen der Poesie verwechseln. Allerdings ist es sehr natürlich und begreiflich, daß auf einer gewissen mittlern Höhe der künstlichen Bildung Grübelei und Vielwisserei, jene leichten Spiele der Einbildungskraft, lähme und erdrücke, Verfeinerung und Verzärtelung das Gefühl abschleife und schwäche. Durch den Zwang unvollkommner Kunst wird die Kraft des Triebes abgestumpft, seine Regsamkeit gefesselt, seine einfache Bewegung zerstreut und verwirrt. Die Sinnlichkeit und Geistigkeit ist aber im Menschen so innig verwebt, daß ihre Entwicklung zwar wohl in vorübergehenden Stufen, aber auch nur in diesen divergieren kann. In Masse werden sie gleichen Schritt halten, und der vernachlässigte Teil wird über kurz oder lang das versäumte nachholen. Es hat in der Tat den größten Anschein, daß der Mensch mit der wachsenden Höhe wahrer Geistesbildung auch an Stärke und Reizbarkeit des Gefühls, also an echter ästhetischer Lebenskraft (Leidenschaft und Reiz) eher gewinne als verliere.

Unbegreiflich scheint es, wie man sich habe überreden können, die Italiänische und Französische Poesie, und wohl gar auch die Engländische und Deutsche habe ihr goldnes Zeitalter schon gehabt. Man mißbrauchte diesen Namen so sehr, daß eine fürstliche Protektion, eine Zahl berühmter Namen, ein gewisser Eifer des Publikums, und allenfalls ein höchster Gipfel in einer Nebensache hinlängliche Ansprüche dazu schienen. Nur war dabei schlimm, daß für das unglückliche silberne eiserne, und bleierne Jahrhundert nichts übrig blieb, als das traurige Los, jenen ewigen Mustern aus allen Kräften vergeblich nachzustreben. Wie kann vom vollkommnen Stil da auch nur die Frage sein, wo es eigentlich gar keinen Stil, sondern nur Manier gibt? Im strengsten Sinne des Worts hat auch nicht ein einziges modernes Kunstwerk, geschweige denn ein ganzes Zeitalter der Poesie den Gipfel ästhetischer Vollendung erreicht. Die stillschweigende Voraussetzung, welche dabei zum Grunde lag: daß es die Bestimmung der ästhetischen Bildung sei, wie eine Pflanze oder ein Tier zu entstehen, allmählich sich zu entwickeln, dann zu reifen, wieder zu sinken, und endlich unterzugehen, – im ewigen Kreislauf immer endlich dahin zurückzukehren, von wo ihr Weg zuerst ausging; diese Voraussetzung beruht auf einem bloßen Mißverständnisse, auf dessen tiefliegenden Quell wir in der Folge stoßen werden.

Bei der Entwicklung einer so kolossalischen und künstlich organisierten Masse, wie das Europäische Völkersystem, darf ein partialer Stillstand, oder hie und da ein scheinbarer Rückgang der Bildung nicht außerordentlich scheinen. Doch ist wahrscheinlich auch da, wo man gewiß glaubt, die Katastrophe sei vorüber, und die ästhetische Kraft auf immer erloschen, das Drama bei weitem noch nicht geendigt. Vielmehr scheint die Kraft da wie ein Feuer unter der Asche zu glimmen, und nur den günstigen Augenblick zu erwarten, um in eine helle Flamme aufzulodern. Es ist wahrhaft wunderbar, wie in unserm Zeitalter das Bedürfnis des Objektiven sich allenthalben regt; wie auch der Glaube an das Schöne wieder erwacht, und unzweideutige Symptome den herannahenden bessern Geschmack verkündigen. Der Augenblick scheint in der Tat für eine ästhetische Revolution reif zu sein, durch welche das Objektive in der ästhetischen Bildung der Modernen herrschend werden könnte. Nur geschieht freilich nichts Großes von selbst, ohne Kraft und Entschluß! Es würde ein sich selbst bestrafender Irrtum sein, wenn wir die Hände in den Schoß legen und uns überreden wollten, der Geschmack des Zeitalters bedürfe gar keiner durchgängigen Verbesserung mehr. So lange das Objektive nicht allgemein herrschend ist, leuchtet dies Bedürfnis von selbst ein. Die Herrschaft des Interessanten, Charakteristischen und Manirierten ist eine wahre ästhetische Heteronomie in der schönen Poesie. So wie in der chaotischen Anarchie der Masse der modernen Poesie alle Elemente der schönen Kunst vorhanden sind, so finden sich in ihr auch alle selbst die entgegengesetzten Arten des ästhetischen Verderbens, Rohigkeit neben Künstelei, kraftlose Dürftigkeit neben gesetzlosem Frevel. Ich habe mich schon wider die Behauptung eines gänzlichen Unvermögens, einer rettungslosen Entartung ausdrücklich erklärt, und die Höhe der ästhetischen Bildung, die Stärke der ästhetischen Kraft unsers Zeitalters anerkannt. Nur die echte Richtung, die richtige Stimmung fehlt; und nur durch sie und mit ihnen wird jede einzelne Trefflichkeit, welche außer ihrem wahren Zusammenhange sehr leicht äußerst schädlich werden kann, ihren vollen Wert, und gleichsam ihre eigentliche Bedeutung erhalten. Dazu bedarf es einer völligen Umgestaltung, eines totalen Umschwunges einer Revolution.

Die ästhetische Bildung nämlich ist von einer doppelten Art. Entweder die progressive Entwicklung einer Fertigkeit. Diese erweitert, schärft, verfeinert; ja sie belebt, stärkt und erhöht sogar die ursprüngliche Anlage. Oder sie ist eine absolute Gesetzgebung, welche die Kraft ordnet. Sie hebt den Streit einzelner Schönheiten, und fordert Übereinstimmung aller nach dem Bedürfnis des Ganzen; sie gebietet strenge Richtigkeit, Ebenmaß und Vollständigkeit; sie verbietet die Verwirrung der ursprünglichen ästhetischen Gränzen, und verbannt das Manirierte, wie jede ästhetische Heteronomie. Mit einem Worte: ihr Werk ist die Objektivität.

Die ästhetische Revolution setzt zwei notwendige Postulate als vorläufige Bedingungen ihrer Möglichkeit voraus. Das erste derselben ist ästhetische Kraft. Nicht das Genie des Künstlers allein, oder die originelle Kraft idealischer Darstellung und ästhetischer Energie läßt sich weder erwerben noch ersetzen. Es gibt auch eine ursprüngliche Naturgabe des echten Kenners, welche zwar, wenn sie schon vorhanden ist, vielfach gebildet werden, wenn sie aber mangelt, durch keine Bildung ersetzt werden kann. Der treffende Blick, der sichre Takt; jene höhere Reizbarkeit des Gefühls, jede höhere Empfänglichkeit der Einbildungskraft lassen sich weder lernen noch lehren. Aber auch die glücklichste Anlage ist weder zu einem großen Künstler noch zu einem großen Kenner zureichend. Ohne Stärke und Umfang des sittlichen Vermögens, ohne Harmonie des ganzen Gemüts, oder wenigstens eine durchgängige Tendenz zu derselben, wird niemand in das Allerheiligste des Musentempels gelangen können. Daher ist das zweite notwendige Postulat für den einzelnen Künstler und Kenner wie für die Masse des Publikums – Moralität. Der richtige Geschmack, könnte man sagen, ist das gebildete Gefühl eines sittlich guten Gemüts. Unmöglich kann hingegen der Geschmack eines schlechten Menschen richtig und mit sich selbst einig sein. Die Stoiker hatten in dieser Rücksicht nicht Unrecht zu behaupten, daß nur der Weise ein vollkommner Dichter und Kenner sein könne. Gewiß hat der Mensch das Vermögen, durch bloße Freiheit die mannigfaltigen Kräfte seines Gemüts zu lenken und zu ordnen. Er wird also auch seiner ästhetischen Kraft eine bessere Richtung und richtige Stimmung erteilen können. Nur muß er es wollen; und die Kraft, es zu wollen, die Selbstständigkeit bei dem Entschluß zu beharren, kam ihm niemand mitteilen, wenn er sie nicht in sich selbst findet.

Freilich ist aber der bloße gute Wille nicht zureichend, so wenig wie die nackte Grundlage zur vollständigen Ausführung eines Gebäudes. Eine entartete und mit sich selbst uneinige Kraft bedarf einer Kritik, einer Zensur, und diese setzt eine Gesetzgebung voraus. Eine vollkommne ästhetische Gesetzgebung würde das erste Organ der ästhetischen Revolution sein. Ihre Bestimmung wäre es, die blinde Kraft zu lenken, das Streitende in Gleichgewicht zu setzen, das Gesetzlose zur Harmonie zu ordnen; der ästhetischen Bildung eine feste Grundlage, eine sichre Richtung und eine gesetzmäßige Stimmung zu erteilen. Die gesetzgebende Macht der ästhetischen Bildung der Modernen dürfen wir aber nicht erst lange suchen. Sie ist schon konstituiert. Es ist die Theorie: denn der Verstand war ja von Anfang an das lenkende Prinzip dieser Bildung. – Verkehrte Begriffe haben lange die Kunst beherrscht, und sie auf Abwege verleitet; richtige Begriffe müssen sie auch wieder auf die rechte Bahn zurückführen. Von jeher haben auch sowohl die Künstler als das Publikum der Modernen von der Theorie Zurechtweisung und befriedigende Gesetze erwartet und gefordert. Eine vollendete ästhetische Theorie würde aber nicht nur ein zuverlässiger Wegweiser der Bildung sein, sondern auch durch die Vertilgung schädlicher Vorurteile die Kraft von manchen Fesseln befreien, und ihren Weg von Dornen reinigen. Die Gesetze der ästhetischen Theorie haben aber nur insofern wahre Auktorität, als sie von der Majorität der öffentlichen Meinung anerkannt und sanktioniert worden sind. Wenn das Bedürfnis allgemeingültiger Wahrheit Charakter des Zeitalters ist, so ist ein durch rhetorische Künste erschlichnes Ansehn von kurzer Dauer; einseitige Unwahrheiten zerstören sich gegenseitig, und verjährte Vorurteile zerfallen von selbst. Dann kann die Theorie nur durch vollkommne und freie Übereinstimmung mit sich selbst ihren Gesetzen das vollgültigste Ansehn verschaffen, und sich zu einer wirklichen öffentlichen Macht erheben. Nur durch Objektivität kann sie ihrer Bestimmung entsprechen.

Gesetzt aber auch, es gäbe eine objektive ästhetische Theorie, welches mehr ist, als wir bis jetzt rühmen können. Reine Wissenschaft bestimmt nur die Ordnung der Erfahrung, die Fächer für den Inhalt der Anschauung. Sie allein würde leer sein – wie Erfahrung allein verworren, ohne Sinn und Zweck – und nur in Verbindung mit einer vollkommnen Geschichte würde sie die Natur der Kunst und ihrer Arten vollständig kennen lehren. Die Wissenschaft bedarf also der Erfahrung von einer Kunst, welche ein durchaus vollkommnes Beispiel ihrer Art, die Kunst kat’exochän, deren besondre Geschichte die allgemeine Naturgeschichte der Kunst wäre. Überdem kommt der Denker nicht frisch und unversehrt zur wissenschaftlichen Untersuchung. Er ist durch die Einflüsse einer verkehrten Erfahrung angesteckt; er bringt Vorurteile mit, welche seiner Untersuchung auch im Gebiete der reinen Abstraktion eine durchaus falsche Richtung erteilen können. Auch bei dem aufrichtigsten Eifer steht es gar nicht in seiner Gewalt, diesen mächtigen Vorurteilen mit einemmale zu entsagen: denn er müßte die reine Wahrheit schon ergriffen haben, um den Ungrund des Irrtums einzusehen, und inne zu werden, wie falsch der Gang seiner Methode sei. Er bedarf daher aus einem doppelten Grunde einer vollkommnen Anschauung. Teils als Beispiel und Beleg zu seinem Begriff; teils als Tatsache und Urkunde seiner Untersuchung.

Aber auch die Lücke zwischen Theorie und Praxis, zwischen dem Gesetz und der einzelnen Tat ist unendlich groß. Es wäre wohlfeil, wenn der Künstler durch den bloßen Begriff vom richtigen Geschmack und vollkommnen Stil das höchste Schöne in seinen Werken wirklich hervorzubringen vermöchte. Das Gesetz muß Neigung werden. Leben kommt nur von Leben; Kraft erregt Kraft. Das reine Gesetz ist leer. Damit es ausgefüllt, und seine wirkliche Anwendung möglich werde, bedarf es einer Anschauung, in welcher es in gleichmäßiger Vollständigkeit gleichsam sichtbar erscheine – eines höchsten ästhetischen Urbildes.

Schon der Name der »Nachahmung« ist schimpflich und gebrandmarkt bei allen denen, die sich Originalgenies zu sein dünken. Man versteht darunter nämlich die Gewalttätigkeit, welche die starke und große Natur an dem Ohnmächtigen ausübt. Doch weiß ich kein andres Wort als Nachahmung für die Handlung desjenigen – sei er Künstler oder Kenner – der sich die Gesetzmäßigkeit jenes Urbildes zueignet, ohne sich durch die Eigentümlichkeit, welche die äußre Gestalt, die Hülle des allgemeingültigen Geistes, immer noch mit sich führen mag, beschränken zu lassen. Es versteht sich von selbst, daß diese Nachahmung ohne die höchste Selbständigkeit durchaus unmöglich ist. Ich rede von jener Mitteilung des Schönen, durch welche der Kenner den Künstler, der Künstler die Gottheit berührt, wie der Magnet das Eisen nicht bloß anzieht, sondern durch seine Berührung ihm auch die magnetische Kraft mitteilt.

Wandelt die Gottheit auch in irdischer Gestalt? Kann das Beschränkte je vollständig, das Endliche vollendet, das Einzelne allgemeingültig sein? Gibt es unter Menschen eine Kunst, welche die Kunst schlechthin genannt zu werden verdiente? Gibt es sterbliche Werke, in denen das Gesetz der Ewigkeit sichtbar wird?

Mit richterlicher Majestät überschaut die Muse das Buch der Zeiten, die Versammlung der Völker. Überall findet ihr strenger Blick nur Rohigkeit und Künstelei, Dürftigkeit und Ausschweifung in stetem Wechsel. Kaum erheitert dann und wann ein schonendes Lächeln über die liebenswürdigen Spiele der kindlichen Unschuld ihren unwilligen Ernst.

Nur bei einem Volke entsprach die schöne Kunst der hohen Würde ihrer Bestimmung.

Bei den Griechen allein war die Kunst von dem Zwange des Bedürfnisses und der Herrschaft des Verstandes immer gleich frei; und vom ersten Anfange Griechischer Bildung bis zum letzten Augenblick, wo noch ein Hauch von echtem Griechensinn lebte, waren den Griechen schöne Spiele heilig.

Diese Heiligkeit schöner Spiele und diese Freiheit der darstellenden Kunst sind die eigentlichen Kennzeichen echter Griechheit. Allen Barbaren hingegen ist die Schönheit an sich selbst nicht gut genug. Ohne Sinn für die unbedingte Zweckmäßigkeit ihres zwecklosen Spiels bedarf sie bei ihnen einer fremden Hülfe, einer äußern Empfehlung. Bei rohen wie bei verfeinerten Nichtgriechen ist die Kunst nur eine Sklavin der Sinnlichkeit oder der Vernunft. Nur durch merkwürdigen, reichen, neuen und sonderbaren Inhalt; nur durch wollüstigen Stoff kann eine Darstellung ihnen wichtig und interessant werden.

Schon auf der ersten Stufe der Bildung und noch unter der Vormundschaft der Natur umfaßte die Griechische Poesie in gleichmäßiger Vollständigkeit, im glücklichsten Gleichgewicht und ohne einseitige Richtung oder übertriebne Abweichung das Ganze der menschlichen Natur. Ihr kräftiges Wachstum entwickelte sich bald zur Selbständigkeit, und erreichte die Stufe, wo das Gemüt in seinem Kampfe mit der Natur ein entschiedenes Übergewicht erlangt; und ihr goldnes Zeitalter erreichte den höchsten Gipfel der Idealität (vollständiger Selbstbestimmung der Kunst) und der Schönheit, welcher in irgendeiner natürlichen Bildung möglich ist. Ihre Eigentümlichkeit ist der kräftigste, reinste, bestimmteste, einfachste und vollständigste Abdruck der allgemeinen Menschennatur. Die Geschichte der Griechischen Dichtkunst ist eine allgemeine Naturgeschichte der Dichtkunst; eine vollkommne und gesetzgebende Anschauung.

In Griechenland wuchs die Schönheit ohne künstliche Pflege und gleichsam wild. Unter diesem glücklichen Himmel war die darstellende Kunst nicht erlernte Fertigkeit, sondern ursprüngliche Natur. Ihre Bildung war keine andre als die freieste Entwicklung der glücklichsten Anlage. Die Griechische Poesie nahm von der rohesten Einfalt ihren Anfang: aber dieser geringe Ursprung schändet sie nicht. Ihr ältester Charakter ist einfach und prunklos, aber unverdorben. Hier findet ihr weder abgeschmackte Fantasterei, noch verkehrte Nachahmung eines fremden Nationalcharakters noch ekzentrische und unübersteiglich fixierte Einseitigkeit. Hier konnte die Willkür verkehrter Begriffe den freien Wuchs der Natur nicht fesseln, ihre Eintracht zerreißen und zerstören, ihre Einfalt verfälschen, den Gang und die Richtung der Bildung verschrauben. Schon frühe unterscheidet sich die Griechische Poesie durch ein gewisses Etwas von allen übrigen Nationalpoesien auf einer ähnlichen Stufe der kindlichen Kultur. Gleich weit entfernt von Orientalischem Schwulst und von Nordischen Trübsinn, voll Kraft aber ohne Härte, und voll Anmut aber ohne Weichlichkeit ist sie eben dadurch abweichend, daß sie mehr als jede andre reinmenschlich und dem allgemeinen Gesetze aus eigner freier Neigung getreu ist. Schon in der Kindheit meldet sich ihr hoher Beruf, nicht das Zufällige sondern das Wesentliche und Notwendige darzustellen, nicht nach dem Einzelnen sondern nach dem Allgemeinen zu streben. Auch sie hatte ihren mythischen Ursprung, wie jede freie Entwicklung des Dichtungsvermögens. Während des ersten Zeitalters ihrer Entwicklung schwankte die Griechische Poesie zwischen schöner Kunst und Sage. Sie war eine unbestimmte Mischung von Überlieferung und Erfindung, von bildlicher Lehre, Geschichte und freiem Spiel. Aber welch‘ eine Sage? Nie gab es eine geistreichere oder sittlichere. Der Griechische Mythus ist – wie der treuste Abdruck im hellsten Spiegel – die bestimmteste und zarteste Bildersprache für alle ewigen Wünsche des menschlichen Gemüts mit allen seinen so wunderbaren als notwendigen Widersprüchen; eine kleine vollendete Welt der schönsten Ahndungen der kindlich dichtenden Vernunft. Dichtung, Gesang, Tanz und Geselligkeit – festliche Freude war das holde Band der Gemeinschaft, welches Menschen und Götter verknüpfte. Und in der Tat war auch der Sinn ihrer Sage, Gebräuche und besonders ihrer Feste, der Gegenstand ihrer Verehrung das echte Göttliche: die reinste Menschheit. In lieblichen Bildern haben die Griechen freie Fülle, selbständige Kraft, und gesetzmäßige Eintracht angebetet.

Durch einen in seiner Art einzigen Zusammenfluß der glücklichsten Umstände hatte die Natur in ihrer Begünstigung für diese Lieblingskinder gleichsam ein Äußerstes getan. Oft wird die menschliche Bildung gleich nach ihrer ersten Veranlassung, während sie noch zu schwach ist, um den harten Kampf mit dem Schicksal glücklich zu bestehen, ohne fernere gütige Pflege wiederum ihrer eignen Schwäche und jedem ungünstigen Zufalle Preis gegeben. Ja ein Volk hat noch von Glück zu sagen, wenn es nur durch die Gunst seiner Lage mit Mühe zu einer bedeutenden Höhe einer einseitigen Bildung gelangen kann. Bei den Griechen vereinigte und umfaßte schon die erste Stufe der Bildung dasjenige vollständig, was sonst auch auf der höchsten Stufe nur getrennt und einzeln vorhanden zu sein pflegt. Wie im Gemüte des Homerischen Diomedes alle Kräfte gleichmäßig und in der schönsten Eintracht zu einem vollendeten Gleichgewicht zusammenstimmen: so entwickelte sich hier die ganze Menschheit gleichmäßig und vollständig. Schon im heroischen Zeitalter der mythischen Kunst vereinigt die griechische Naturpoesie die schönsten Blüten der edelsten Nordischen und der zartesten Südlichen Naturpoesie, und ist die vollkommenste ihrer Art.

Vielen gefällt Homerus, von wenigen aber wird seine Schönheit eigentlich ganz gefaßt. So wie viele Reisende in weiter Ferne suchen, was sie in ihrer Heimat ebenso gut und näher finden könnten: so bewundert man nicht selten im Homer allein das, worin der erste der beste Nordische oder Südliche Barbar, wofern er nur ein großer Dichter ist, ihm gleich kommt. Worin er einzig ist, das wird selten bemerkt, gewöhnlich ganz aus der Acht gelassen. Die treue Wahrheit, die ursprüngliche Kraft, die einfache Anmut, die reizende Natürlichkeit sind Vorzüge, welche der Griechische Barde vielleicht mit einem oder dem andern seiner Indischen oder Keltischen Brüder teilt. Es gibt aber andre charakteristische Züge der Homerischen Poesie, welche dem Griechen allein eigen sind.

Ein solcher Griechischer Zug ist die Vollständigkeit seiner Ansicht der ganzen menschlichen Natur, welche im glücklichsten Ebenmaß, im vollkommnen Gleichgewicht von der einseitigen Beschränkung einer abweichenden Anlage, und von der Verkehrtheit künstlicher Mißbildung so weit entfernt ist. – Der Umfang seiner Dichtung ist so unbeschränkt, wie der Umfang der ganzen menschlichen Natur selbst. Die äußersten Enden der verschiedensten Richtungen, deren ursprüngliche Keime schon in der allgemeinen Menschennatur verborgen liegen, gesellen sich hier freundlich zueinander, wie im unbefangnen, kindlichen Spiel. Seine heitre und reine Darstellung vereinigt hinreißende Gewalt mit inniger Ruhe, die schärfste Bestimmtheit mit der weichsten Zartheit der Umrisse.

In den Sitten seiner Helden sind Kraft und Anmut im Gleichgewicht. Sie sind stark aber nicht roh, milde, ohne schlaff zu sein, und geistreich ohne Kälte. Achilles, obgleich im Zorn furchtbarer wie ein kämpfender Löwe, kennt dennoch die Tränen des zärtlichen Schmerzens am treuen Busen einer liebenden Mutter; er zerstreut seine Einsamkeit durch die milde Lust süßer Gesänge. Mit einem rührenden Seufzer blickt er auf seinen eignen Fehler zurück, auf das ungeheure Unheil, welches die starrsinnige Anmaßung eines stolzen Königs und der rasche Zorn eines jungen Helden veranlaßt haben. Mit hinreißender Wehmut weiht er die Locke an dem Grabe des geliebten Freundes. Im Arm eines ehrwürdigen Alten, des durch ihn unglücklichen Vaters seines verhaßten Feindes, kann er in Tränen der Rührung zerfließen. Der allgemeine Umriß eines Charakters, wie Achilles hätte vielleicht auch in der Fantasie eines Nord- oder Süd-Homerus entstehen können: diese feineren Züge der Ausbildung waren nur dem Griechen möglich. Nur der Grieche konnte diese brennbare Reizbarkeit, diese furchtbare Schnellkraft wie eines jungen Löwen mit so viel Geist, Sitten, Gemüt vereinigen und verschmelzen. Selbst in der Schlacht, in dem Augenblicke, wo ihn der Zorn so sehr fortreißt, daß er ungerührt durch das Flehen des Jünglings, dem überwundnen Feinde die Brust durchbohrt bleibt er menschlich, ja sogar liebenswürdig und versöhnt uns durch eine entzückend rührende Betrachtung. Der Charakter des Diomedes ist aber schon in seiner ursprünglichen Zusammensetzung ganz Griechisch. In seiner stillen Größe, seiner bescheidnen Vollendung, spiegelt sich der ruhige Geist des Dichters selbst am hellsten und am reinsten.

Die Homerischen Helden, wie den Dichter selbst unterscheidet eine freiere Menschlichkeit von allen nicht-Griechischen Heroen und Barden. In jeder bestimmten Lage, jeder einzelnen Gemütsart strebt der Dichter, so viel nur der Zusammenhang verstattet, nach derjenigen sittlichen Schönheit, deren das kindliche Zeitalter unverdorbener Sinnlichkeit fähig ist. Sittliche Kraft und Fülle haben in Homers Dichtung das Übergewicht; sittliche Einheit und Beharrlichkeit sind, wo sie sich finden, kein selbständiges Werk des Gemüts, sondern nur ein glückliches Erzeugnis der bildenden Natur. Aber nicht gewaltige Stärke und sinnlicher Genuß allein weckte und fesselte sein Gemüt. Der bescheidne Reiz stiller Häuslichkeit vorzüglich in der »Odyssee«; die Anfänge des Bürgersinns, und die ersten Regungen schöner Geselligkeit sind nicht die kleinsten Vorzüge des Griechen.

Vergleicht damit die geistlose Monotonie der barbarischen Chevalerie! Im modernen Ritter der Romantischen Poesie ist der Heroismus durch die abenteuerlichsten Begriffe in die seltsamsten Gestalten und Bewegungen so sehr verrenkt, daß selbst von dem ursprünglichen Zauber des freien Heldenlebens nur wenige Spuren übrig geblieben sind. Statt Sitten und Empfindungen findet ihr hier dürre Begriffe und stumpfe Vorurteile; statt freier Fülle verworrne Dürftigkeit, statt reger Kraft tote Masse. Vergleicht sie mit jenen Darstellungen, in denen auch der kleinste Atom von höherm Leben glüht, mit den Homerischen Helden deren Bildung so echt menschlich ist, wie eine heroische Bildung nur sein kann. In ihrem Gemüte ist die rege Masse nicht getrennt, sondern durchgängig zusammenhängend: Vorstellungen und Bestrebungen sind hier innigst ineinander verschmolzen; alle Teile stimmen im vollkommensten Einklang zusammen, und die reiche Fülle ursprünglicher Kraft ordnet sich mit leichter Ordnung zu einem befriedigenden Ganzen.

Man nennt das oft »Schonung«, die Sinne verzärteln, und die Würde der Menschheit dadurch entweihen, daß man keine andere Bestimmung der Kunst anerkennt, als die, der Tierheit zu schmeicheln. Es gibt aber eine andre Eigenschaft gleiches Namens, welche sich scheut, das Gemüt zu verletzen: sittliche Schonung. In nicht-Griechischen Poesien wird auch da, wo die zartesten Blüten der feinsten Sinnlichkeit am frischesten duften; auch da, wo die Verfeinerung des Geistes aufs höchste gestiegen ist, dennoch unser Gefühl nicht selten durch ein gewisses Etwas sehr beleidigt. Ja es ist eigentlich wohl kein barbarisches Werk ganz rein von allem, was einen echten Griechischen Sinn empören würde. Diese Menschen scheinen gar nicht zu ahnden, daß mit dem Unwillen der Genuß des Schönen sogleich zerstört wird; daß unnütze Schlechtheit der größte Fehler sei, dessen ein Dichter sich schuldig machen kann. Den Musiker, der ohne Grund mit einer unaufgelösten Dissonanz endigte, würde man tadeln, und dem Dichter, welcher ohne Gefühl für den Einklang des Ganzen das zarte Ohr des Gemüts durch die schreiendsten Mißtöne verletzt; verzeiht man, oder bewundert ihn wohl gar. Im Homer hingegen wird jeder Übelstand vorbereitet und aufgelöst. Durch einen Augenblick von jugendlichem Übermut versöhnt uns Patroklus mit seinem Tode, und was sonst bittrer Unwillen gewesen sein würde, wird nun sanfte Rührung. Der Übermut des Hektors ist eine Vorbereitung seines Falles. Hätte ausschweifender Zorn den Achilles nicht bis zu Augenblicken von Wildheit und Ungerechtigkeit verlockt, so würde seine Kränkung, der Verlust seines Freundes, sein Schmerz, die unwandelbar bestimmte Kürze seines herrlichen Lebens unser Gemüt tief verwunden und mit Bitterkeit anfüllen. Der ruhigen Kraft, der weisen Gleichmütigkeit des Diomedes entspricht die ungemischte und nie getrübte Reinheit seines Glücks und seines unbeneideten Ruhms. Wie der Vater der Götter das Schicksal der Kämpfer auf der entscheidenden Wagschale gedankenvoll abmißt, so läßt Homerus mit künstlerischer Weisheit seine Helden sinken und steigen, nicht nach Laune und Zufall, sondern nach den heiligen Entscheidungen der reinsten Menschlichkeit.

Nur hüte man sich zu denken, das Nachahmungswürdige in der Griechischen Poesie sei das Privilegium weniger auserwählter Genies, wie jede trefflichere Originalität bei den Modernen. Das bloß Individuelle würde dann weder nachahmungwürdig, noch dessen völlige Zueignung möglich sein: denn nur das Allgemeine ist Gesetz und Urbild für alle Zeiten und Völker. Die Griechische Schönheit war ein Gemeingut des öffentlichen Geschmacks, der Geist der ganzen Masse. Auch solche Gedichte, welche wenig künstlerische Weisheit und geringe Erfindungskraft verraten, sind in demselben Geiste gedacht, entworfen und ausgeführt, dessen Züge wir im Homer und andern Dichtern vom ersten Range nur bestimmter und klarer lesen. Sie unterscheiden sich durch dieselben Eigenheiten, wie die besten, von allen nicht-Griechischen Gedichten.

Die Griechische Poesie hat ihre Sonderbarkeiten, welche oft ekzentrisch genug sind: denn obgleich die Griechische Bildung reinmenschlich ist, so kann dennoch die äußre Form sehr abweichend sein; es vielleicht eben darum sein, weil der Geist dem allgemeingültigen Gesetz so getreu ist. Die meisten dieser ästhetischen Paradoxien sind nur scheinbar und enthalten einen großen Sinn. So das Satyrische Drama, der Dithyrambus, der lyrische Chor der Dorier, und der dramatische Chor der Athener. Nur aus völliger Unkunde mit der eigentlichen Natur der Kunst und ihrer Arten hat man solche Eigenheiten für bloß individuell gehalten, und sich mit einer historischen Genesis derselben begnügt. Überdem waren die Tatsachen lückenhaft, und solange man die notwendigen Bildungsgesetze der Kunst nicht kennt, wird man in der Geschichte der Kunst im dunkeln tappen, und keinen Leitfaden haben, vom Bekannten aufs Unbekannte zu schließen. Man analysiere nur den Charakter dieser Anomalien nach Anleitung sichrer Grundsätze und Begriffe vollständig, und man wird durch das Resultat einer philosophischen Deduktion überrascht, die durchgängige Objektivität der Griechischen Poesie auch hier wiederfinden. Selbst in dem Zeitalter, wo ihre ganze Masse sich in mehrere genau bestimmte Richtungen – gleichsam ebenso viele Äste eines gemeinschaftlichen Stammes – spaltete, und ihr Umfang dadurch so sehr beschränkt als ihre Kraft erhöht ward: selbst in der lyrischen Gattung, deren eigentlicher Gegenstand schöne Eigentümlichkeit ist, bewährt sie dennoch ihre beständige Tendenz zum Objektiven durch die Art und den Geist der Darstellung welche soweit es die besondern Schranken ihrer eigentümlichen Richtung und ihres Stoffs nur immer erlauben, sich dem rein Menschlichen nähert, das Einzelne selbst zum Allgemeinen erhebt, und im Eigentümlichen eigentlich nur das Allgemeingültige darstellt.

Die Griechische Poesie ist gesunken, tief, sehr tief gesunken, und endlich völlig entartet. Aber auch im äußersten Verfall blieben ihr noch Spuren jener Allgemeingültigkeit, bis sie überhaupt aufhörte einen bestimmten Charakter zu haben. So sehr ist die Griechheit nichts andres als eine höhere, reinere Menschheit! Im Zeitalter der gelehrten Dichtkunst gab es weder öffentliche Sitten, noch öffentlichen Geschmack. Die Gedichte der Alexandriner sind ohne eigentliche Sitten, ohne Geist und Leben; kalt, tot, arm und schwerfällig. Statt einer vollkommnen Organisation und lebendiger Einheit des Ganzen sind diese Machwerke nur aus abgerißnen Bruchstücken zusammengeflickt. Sie enthalten nur einzelne schöne Züge, keine vollständige und ganze Schönheit. Aber dennoch enthält ihre fleißige Darstellung in ihrer durchgearbeiteten feinen Bestimmtheit, in ihrer völligen Freiheit von den unreinen Zusätzen der Subjektivität, von den technischen Fehlern monströser Mischung, und poetischer Unwahrheit eine höchste Naturvollkommenheit in ihrer wenngleich an sich tadelhaften Art, ein gewisses klassisches Etwas, welches demjenigen nicht unähnlich ist, was Kenner der Griechischen Plastik an Überbleibseln der bildenden Kunst auch aus der schlechtesten Zeit, oder von der Hand des mittelmäßigsten Künstlers wahrnehmen. Der schwülstige, überladne Schmuck gehört dem allgemeinen schlechten Geschmack des Zeitalters an. Die Fehler der Ausführung kommen auf die Rechnung des Stümpers. Allein der Geist in welchem das Werk gedacht, entworfen und ausgebildet wurde, enthält wenigstens Spuren von dem vollkommnen Ideal, welches für alle Zeiten und Völker ein gültiges Gesetz und allgemeines Urbild ist. So findet ihr im Apollonius sehr oft wahrhaft klassische Details, und hie und da trefft ihr auf Erinnerungen an die ehemalige Göttlichkeit der Griechischen Dichtkunst. Solche Züge sind die Bescheidenheit des heroischen Jason und seine nachsinnende Stille bei der großen Ausfahrt der Heldenschar, und bei dem Verlust des Herkules; die feine Charakteristik des Telamon, Herkules, Idas und Idmon; das liebliche Spiel des Amor und Ganymedes; die Anmut, welche über die ganze Episode von der Hypsipyle und Medea verbreitet ist. Die schärfere Bestimmtheit, die feinere Zartheit, das noch mehr Durchgearbeitete seines fleißigen Werks; Eigenschaften, welche er vor dem gelehrtesten aller Römischen Dichter voraus hat, sind so viele übrig gebliebene Spuren echt Griechischer Bildung.

Das Schicksal bildete den Griechen nicht nur zu dem Höchsten, was der Sohn der Natur sein kann; sondern es entzog ihm auch seine mütterliche Pflege nicht eher, als bis die Griechische Bildung selbständig und mündig geworden, fremder Hülfe und Führung nicht weiter bedurfte. Mit diesem entscheidenden Schritt, durch den die Freiheit das Übergewicht über die Natur bekam, trat der Mensch in eine ganz neue Ordnung der Dinge; es begann eine neue Stufe der Entwicklung. Er bestimmt, lenkt und ordnet nun seine Kräfte selbst, bildet seine Anlagen nach den innern Gesetzen seines Gemüts. Die Schönheit der Kunst ist nun nicht mehr Geschenk einer gütigen Natur, sondern sein eignes Werk, Eigentum seines Gemüts. Das Geistige bekommt das Übergewicht über das Sinnliche, selbständig bestimmt er die Richtung seines Geschmacks, und ordnet die Darstellung. Er eignet sich nicht mehr bloß das Gegebne zu, sondern er bringt das Schöne selbsttätig hervor. Und wenn der erste Gebrauch der Mündigkeit, den Umfang der Kunst durch eine genau bestimmte Richtung beschränkt, so wird dieser Verlust durch die innre Stärke und Hoheit der zusammengedrängten Kraft wieder ersetzt. Das epische Zeitalter der Griechischen Poesie läßt sich noch mit andern Nationalpoesien vergleichen. Im lyrischen Zeitalter steht sie allein. Nur sie hat in Masse die Bildungsstufe der Selbständigkeit erreicht; nur in ihr ist das idealische Schöne öffentlich gewesen. So häufig und so glänzend auch in der modernen Poesie die Beispiele sein mögen, so sind es doch nur einzelne Ausnahmen, und die Masse ist weit hinter jener Stufe zurückgeblieben, und verfälscht sogar jene Ausnahmen. Bei dem herrschenden Unglauben an göttlichere Schönheit, verliert die Verkannte ihre unbefangne Zuversicht, und der Kampf, welcher sie geltend machen soll, entweiht sie nicht weniger, wie der menschenfeindliche Stolz, der den Genuß der Mitteilung ersetzen muß. – Von jeher haben viele Völker die Griechen an Fertigkeiten übertroffen, und desfalls die Griechische Höhe der eigentlichen Bildung nicht eingesehen. Aber Fertigkeiten sind nur notwendige Zugaben der Bildung, Werkzeuge der Freiheit. Nur Entwicklung der reinen Menschheit ist wahre Bildung. Wo hat freie Menschheit in der Masse des Volks ein so durchgängiges Übergewicht erhalten als bei den Griechen? Wo war die Bildung so echt, und echte Bildung so öffentlich? – In der Tat kaum gibt es im ganzen Lauf der Menschengeschichte ein erhabneres Schauspiel, als der große Augenblick darbietet, da mit einemmale und gleichsam von selbst, durch bloße Entwicklung der innern Lebenskraft, in den Griechischen Verfassungen Republikanismus, in den Sitten Enthusiasmus und Weisheit, in den Wissenschaften, statt der mythischen Anordnung der Fantasie logischer und systematisierender Zusammenhang, und in den Griechischen Künsten das Ideal hervortrat.

Wenn die Freiheit einmal das Übergewicht über die Natur hat, so muß die freie, sich selbst überlaßne Bildung sich in der einmal genommenen Richtung fortbewegen, und immer höher steigen, bis ihr Lauf durch äußre Gewalt gehemmt wird, oder bis sich durch bloße innre Entwicklung das Verhältnis der Freiheit und der Natur von neuem ändert. Wenn der gesammte zusammengesetzte menschliche Trieb nicht allein das bewegende sondern auch lenkende Prinzip der Bildung, wenn die Bildung natürlich und nicht künstlich, wenn die ursprüngliche Anlage die glücklichste, und die äußre Begünstigung vollendet ist: so entwickeln, wachsen, und vollenden sich alle Bestandteile der strebenden Kraft, der sich bildenden Menschheit gleichmäßig, bis die Fortschreitung den Augenblick erreicht hat, wo die Fülle nicht mehr steigen kann, ohne die Harmonie des Ganzen zu trennen und zu zerstören.

Trifft nun die höchste Stufe der Bildung der vollkommensten Gattung der trefflichsten Kunst mit dem günstigsten Augenblick im Strome des öffentlichen Geschmacks glücklich zusammen; verdient ein großer Künstler die Kunst des Schicksals, und weiß die unbestimmten Umrisse, welche die Notwendigkeit vorzeichnete, würdig auszufüllen; so wird das äußerste Ziel schöner Kunst erreicht, welches durch die freieste Entwicklung der glücklichsten Anlage erreichbar ist.

Diese letzte Gränze der natürlichen Bildung der Kunst und des Geschmacks, diesen höchsten Gipfel freier Schönheit hat die Griechische Poesie wirklich erreicht. Vollendung heißt der Zustand der Bildung wenn die innre strebende Kraft sich völlig ausgewickelt hat, wenn die Absicht ganz erreicht ist, und in gleichmäßiger Vollständigkeit des Ganzen keine Erwartung unbefriedigt bleibt. Goldnes Zeitalter heißt dieser Zustand, wenn er einer ganzen gleichzeitigen Masse zukommt. Der Genuß, welchen die Werke des goldnen Zeitalters der Griechischen Kunst gewähren, ist zwar eines Zusatzes fähig, aber dennoch ohne Störung und Bedürfnis – vollständig und selbstgenugsam. Ich weiß für diese Höhe keinen schicklicheren Namen als das höchste Schöne. Nicht etwa ein Schönes, über welches sich nichts schöneres denken ließe; sondern das vollständige Beispiel der unerreichbaren Idee, die hier gleichsam ganz sichtbar wird: das Urbild der Kunst und des Geschmacks.

Der einzige Maßstab, nach dem wir den höchsten Gipfel der Griechischen Poesie würdigen können, sind die Schranken aller Kunst. »Aber wie, wird man fragen, ist die Kunst nicht einer schlechthin unendlichen Vervollkommnung fähig? Gibt es Gränzen ihrer fortschreitenden Bildung?«

Die Kunst ist unendlich perfektibel und ein absolutes Maximum ist in ihrer steten Entwicklung nicht möglich: aber doch ein bedingtes relatives Maximum, ein unübersteigliches fixes Proximum. Die Aufgabe der Kunst besteht nämlich aus zweierlei ganz verschiedenartigen Bestandteilen: teils aus bestimmten Gesetzen, welche nur ganz erfüllt oder ganz übertreten werden können, und teils aus unersättlichen, unbestimmten Forderungen, wo auch die höchste Gewährung noch einen Zusatz leidet. Jede wirklich gegebne Kraft ist einer Vergrößerung und jede endliche reale Vollkommenheit eines unendlichen Zuwachses fähig. In Verhältnissen aber findet kein Mehr oder Weniger statt; die Gesetzmäßigkeit eines Gegenstandes kann weder vermehrt noch vermindert werden. So sind auch alle wirklichen Bestandteile der schönen Kunst einzeln eines unendlichen Zuwachses fähig, aber in der Zusammensetzung dieser verschiedenen Bestandteile gibt es unbedingte Gesetze für die gegenseitigen Verhältnisse.

Das Schöne im weitesten Sinne (in welchem es das Erhabne, das Schöne im engern Sinne, und das Reizende umfaßt) ist die angenehme Erscheinung des Guten. Es scheint zwar für jede einzelne Reizbarkeit eine feste Gränze bestimmt zu sein, welche weder der Schmerz noch die Freude überschreiten darf, wenn nicht alle Besonnenheit aufhören, und mit dieser selbst der Zweck der Leidenschaft und der Lust verloren gehn soll. Im allgemeinen aber, und ohne besondre Rücksicht läßt sich über jedes gegebne Maß von Energie ein höheres denken. Unter Energie verstehe ich alles, was den gemischten Trieb sinnlich weckt und erregt, um ihm dann den Genuß des reinen Geistigen zu gewähren; die bewegende Triebfeder mag nun Schmerz oder Freude sein. Die Energie ist aber nur Mittel und Organ der idealischen Kunst, gleichsam die physische Lebenskraft der reinen Schönheit, welche die sinnliche Erscheinung des Geistigen veranlaßt und trägt, so wie das freie Gemüt nur im Element einer tierischen Organisation empirisch existieren kann. – Auf gleiche Weise gibt es für jede besondre Empfänglichkeit eine bestimmte Sphäre der Sichtbarkeit, wenn ich so sagen darf, in der Mitte zwischen zu großer Nähe und zu weiter Entfernung. An und für sich aber kann die Erscheinung des Geistigen immer lebhafter, bestimmter und klarer werden. So lange sie Erscheinung bleibt, ist sie einer endlosen Vervollkommnung fähig, ohne je ihr Ziel ganz erreichen zu können: denn sonst müßte das Allgemeine, welches im Einzelnen erscheinen soll, sich in das Einzelne selbst verwandeln. Dies ist unmöglich, weil beide durch eine unendliche Kluft getrennt sind. Auf der andern Seite kann aber auch die Nachahmung des Wirklichen an Vollkommenheit unendlich zunehmen: denn die Fülle jedes Einzelnen ist unerschöpflich, und kein Abbild kann jemals ganz in sein Urbild übergehen. – Daß das Gute oder dasjenige, was schlechthin sein soll, der reine Gegenstand des freien Triebes, das reine Ich nicht als theoretisches Vermögen, sondern als praktisches Gebot; die Gattung, deren Arten Erkenntnis Sittlichkeit und Schönheit ist; das Ganze, dessen Bestandteile Vielheit Einheit und Allheit sind in der Wirklichkeit nur beschränkt vorhanden sein kann, darf ich als evident voraussetzen: denn der zusammengesetzte Mensch kann im gemischten Leben sich seiner reinen Natur nur ins Unendliche nähern, ohne sie je völlig zu erreichen.

Alle diese Bestandteile des Schönen – der Reiz, der Schein, das Gute – sind also einer gränzenlosen Vervollkommnung fähig. Für die gegenseitigen Verhältnisse dieser Bestandteile aber gibt es unwandelbare Gesetze. Das Sinnliche soll nur Mittel des Schönen nicht Zweck der Kunst sein. Hat aber unverdorbne Sinnlichkeit in einer frühen Stufe der Bildung das Übergewicht, so wird Fülle der Zweck des Dichters sein. Es darf der Selbsttätigkeit eigentlich nicht zum Vorwurf gereichen, daß sie sich allmählich entwickeln muß, und nur unter der Vormundschaft der Natur die Stufe selbständiger Selbstbestimmung erreichen kann. Durch die Sinnlichkeit eines Homerus wird das Gesetz nicht übertreten, sondern das Gesetz ist eigentlich noch gar nicht vorhanden. Ist die Kunst aber schon gesetzmäßig gewesen, und hört auf es ferner zu sein, so herrscht dann auch wieder die Fülle, aber auf eine ganz andre Weise. Es ist nicht mehr unverdorbne Sinnlichkeit, sondern üppige Ausschweifung, gesetzlose Schwelgerei. – Jene drei Bestandteile der Schönheit – Mannigfaltigkeit, Einheit und Allheit – sind nichts andres, als ebenso viele Arten, wie der reine Mensch in der Welt zum wirklichen Dasein gelangen kann, verschiedene Berührungspunkte des Gemüts und der Natur. Einzeln betrachtet, haben sie alle drei gleichen Wert; eine wie die andre nämlich hat unbedingten, unendlichen Wert. Auch die Fülle ist heilig, und darf in der Vereinigung aller Bestandteile dem Gesetz der Ordnung nicht anders als frei gehorchen: denn die Mannigfaltigkeit ist schon die erste Form des Lebens, nicht roher Stoff, mit dem sie oft verwechselt wird. Die Gesetzesgleichheit soll durch die Ordnung nicht aufgehoben werden, aber doch ist das Gesetz des Verhältnisses der vereinigten Bestandteile der Schönheit unwandelbar bestimmt, und nicht die Mannigfaltigkeit, sondern die Allheit soll der erste bestimmende Grund und das letzte Ziel jeder vollkommnen Schönheit sein. Das Gemüt soll den Stoff und die Leidenschaft, der Geist soll den Reiz überwiegen, und nicht umgekehrt der Geist gebraucht werden, um das Leben zu wecken und den Sinn zu kitzeln. Ein Zweck, den man wohlfeiler erreichen könnte! – Stil bedeutet beharrliche Verhältnisse der ursprünglichen und wesentlichen Bestandteile der Schönheit oder des Geschmacks. Vollkommnen Stil wird man also demjenigen Kunstwerke und demjenigen Zeitalter beilegen können, welches in diesen Verhältnissen das notwendige Gesetz aus freier Neigung ganz erfüllt.

Außer diesem absoluten ästhetischen Gesetz für jeden Geschmack gibt es auch zwei absolute technische Gesetze für alle darstellende Kunst. – Die Bestandteile der darstellenden Kunst, welche das Mögliche mit dem Wirklichen vermischt, sind Versinnlichung des Allgemeinen und Nachahmung des Einzelnen. Für die Vervollkommnung beider Bestandteile ist, wie schon oben erinnert wurde, keine Gränze abgemessen: für ihr Verhältnis aber ist ein unwandelbares Gesetz notwendig bestimmt. Das Ziel der freien darstellenden Kunst ist das Unbedingte; das Einzelne darf nicht selbst Zweck sein (Subjektivität). Widrigenfalls sinkt die freie Kunst zu einer nachahmenden Geschicklichkeit herunter, welche einem physischen Bedürfnisse oder einem individuellen Zweck des Verstandes dient. Doch ist das Mittel durchaus notwendig, und es muß wenigstens scheinen, frei zu dienen. Objektivität ist der angemessenste Ausdruck für dies gesetzmäßige Verhältnis des Allgemeinen und des Einzelnen in der freien Darstellung. – Überdem ist jedes einzelne Kunstwerk zwar keineswegs an die Gesetze der Wirklichkeit gefesselt, aber allerdings durch Gesetze innrer Möglichkeit beschränkt. Es darf sich selbst nicht widersprechen, muß durchgängig mit sich übereinstimmen. Diese technische Richtigkeit – so würde ich sie lieber nennen als »Wahrheit«, weil dieses Wort zu sehr an die Gesetze der Wirklichkeit erinnert, und so oft von der Kopistentreue sklavischer Künstler gemißbraucht wird, welche nur das Einzelne nachahmen – darf im Kollisionsfalle selbst die Schönheit zwar nicht beherrschen, aber doch beschränken: denn sie ist die erste Bedingung eines Kunstwerks. Ohne innre Übereinstimmung würde eine Darstellung sich selbst aufheben, und also auch ihren Zweck (die Schönheit) gar nicht erreichen können. Nur wenn das Ganze der vollständigen Schönheit schon getrennt und aufgelöst ist, und ausschweifende Fülle den Geschmack beherrscht, wird die Regelmäßigkeit der Proportion, und die Symmetrie dieser Fülle aufgeopfert.

Der Schwäche kostet es keine große Entsagung, nicht auszuschweifen, und wo es an Kraft fehlt, da ist Gesetzmäßigkeit kein sonderliches Verdienst. Ein Gedicht im vollkommnen Stil und von tadelloser Richtigkeit, aber ohne Geist und Leben würde nur eine Armseligkeit ohne allen Wert sein. Aber wenn ein Gedicht mit jener vollkommnen Gesetzmäßigkeit auch die höchste Kraft vereinigte, welche man nur immer von einem menschlichen Künstler erwarten kann, so darf es doch nicht hoffen, das äußerste Ziel erreicht zu haben, wenn der Umfang desselben nicht vollständig, sondern durch die genau bestimmte Richtung einer gewissen zwar schönen aber doch einseitigen Eigentümlichkeit beschränkt ist, wie die Dorische Lyrik. Der Dichter darf keine Ansprüche auf Vollendung machen, so lange er wie Äschylus selbst mehr Erwartungen erregt, als er befriedigt. Nur dasjenige Kunstwerk, welches in der vollkommensten Gattung, und mit höchster Kraft und Weisheit die bestimmten ästhetischen und technischen Gesetze ganz erfüllt, den unbegränzten Forderungen aber gleichmäßig entspricht, kann ein unübertreffliches Beispiel sein, in welchem die vollständige Aufgabe der schönen Kunst so sichtbar wird, als sie in einem wirklichen Kunstwerke werden kann.

Nur da ist das höchste Schöne möglich, wo alle Bestandteile der Kunst und des Geschmacks sich gleichmäßig entwickeln, ausbilden, und vollenden; in der natürlichen Bildung. In der künstlichen Bildung geht diese Gleichmäßigkeit durch die willkürlichen Scheidungen und Mischungen des lenkenden Verstandes unwiderbringlich verloren. An einzelnen Vollkommenheiten und Schönheiten kann sie vielleicht die freie Entwicklung sehr weit übertreffen: aber jenes höchste Schöne ist ein gewordnes organisch gebildetes Ganzes, welches durch die kleinste Trennung zerrissen, durch das geringste Übergewicht zerstört wird. Der künstliche Mechanismus des lenkenden Verstandes kann sich die Gesetzmäßigkeit des goldnen Zeitalters der Kunst der bildenden Natur zueignen, aber seine Gleichmäßigkeit kann er nie völlig wiederherstellen; die einmal aufgelöste elementarische Masse organisiert sich nie wieder. Der Gipfel der natürlichen Bildung der schönen Kunst bleibt daher für alle Zeiten das hohe Urbild der künstlichen Fortschreitung.

Wir sind gewohnt, ich weiß nicht aus welchen Gründen, uns die Schranken der Poesie viel zu eng zu denken. Wenn die Darstellung nicht bezeichnet, wie die Dichtkunst, sondern wirklich nachahmt oder sich natürlich äußert, wie die sinnlichen Künste, so ist ihre Freiheit durch die Schranken des gegebnen Werkzeuges und des bestimmten Stoffs schon enger begränzt. Sollten in einer gewissen Kunstart die Schranken des Stoffs sehr eng, das Werkzeug sehr einfach sein, so läßt es sich wohl denken, daß ein begünstigtes Volk eine Höhe in derselben erreicht habe, welche nie übertroffen werden könnte. Vielleicht haben die Griechen in der Plastik diese Höhe wirklich erreicht. Die Malerei und die Musik haben schon freieres Feld; das Werkzeug ist zusammengesetzter, mannigfaltiger und umfassender. Es würde sehr gewagt sein, für sie eine äußerste Gränze der Vervollkommnung festsetzen zu wollen. Wie viel weniger läßt sich eine solche für die Poesie bestimmen, die durch keinen besondren Stoff weder im Umfang noch in der Kraft beschränkt ist? deren Werkzeug, die willkürliche Zeichensprache, Menschenwerk und also unendlich perfektibel und korruptibel ist? – Unbeschränkter Umfang ist der eine große Vorzug der Poesie, dessen sie vielleicht sehr notwendig bedarf, um die durchgängige Bestimmtheit des Beharrlichen, welche die Plastik, und die durchgängige Lebendigkeit des Wechselnden, welche die Musik vor ihr voraus hat, zu ersetzen. Beide geben der Sinnlichkeit unmittelbar Anschauungen und Empfindungen; zu dem Gemüte reden sie nur durch Umwege eine oft dunkle Sprache. Sie können Gedanken und Sitten nur mittelbar darstellen. Die Dichtkunst redet durch die Einbildungskraft unmittelbar zu Geist und Herz in einer oft matten und vieldeutig unbestimmten aber allumfassenden Sprache. Der Vorzug jener sinnlichen Künste, unendliche Bestimmtheit und unendliche Lebendigkeit – Einzelnheit ist nicht sowohl Verdienst der Kunst als entlehntes Eigentum der Natur. Sie sind Mischungen, welche zwischen reiner Natur und reiner Kunst in der Mitte stehen. Die einzige eigentliche reine Kunst ohne erborgte Kraft, und fremde Hülfe, ist Poesie.

Wenn man verschiedene Kunstarten miteinander vergleicht, so kann nicht von dem größern oder geringern Werte des Zwecks die Rede sein. Sonst wäre die ganze Untersuchung so widersinnig als etwa die Frage: »Ob Sokrates oder Timoleon tugendhafter gewesen sei?« Denn das Unendliche leidet gar keine Vergleichung, und der Genuß des Schönen hat unbedingten Wert. Aber in der Vollkommenheit der verschiedenen Mittel, denselben Zweck zu erreichen, finden Stufen, findet ein Mehr oder Weniger statt. Keine Kunst kann in einem Werke einen so großen Umfang umspannen, wie die Poesie. Aber keine hat auch solche Mittel, Vieles zu Einem zu verknüpfen, und die Verknüpfung zu einem unbedingt vollständigen Ganzen zu vollenden. Die Plastik, die Musik, und die Lyrik stehn in Rücksicht der Einheit eigentlich auf einer Stufe. Sie setzen ein gewisses höchst gleichartiges Mannigfaltiges neben oder nacheinander, und streben, aus diesem Gesetzten das übrige Mannigfaltige organisch zu entwickeln. – Der Charakter, oder das Beharrliche in Vorstellungen und Bestrebungen könnte allein in Gott schlechthin einfach, durch sich selbst bestimmt, und in sich vollendet sein. Im Gebiete der Erscheinung ist seine Einheit nur bedingt; er muß noch ein Mannigfaltiges enthalten, welches nicht durch ihn selbst bestimmt sein kann. Eine wirkliche einzelne Erscheinung wird durch den Zusammenhang der ganzen Welt, zu der sie gehört, vollständig bestimmt und erklärt. Nicht anders verhält es sich mit dem Bruchstück einer bloß möglichen Welt. Der dramatische Charakter wird durch seine Stelle im Ganzen, seinen Anteil an der Handlung vollständig bestimmt. Eine Handlung wird nur in der Zeit vollendet; daher kann der bildende Künstler keine vollständige Handlung darstellen. Wenngleich der plastische Charakter noch so bestimmt ist, so setzt er doch notwendig die Welt, in welcher er eigentlich zu Hause ist, und welche nicht mit dargestellt werden konnte, als schon bekannt voraus. Sollte diese Welt auch die Olympische, und die Deutung die leichteste sein: die vollkommenste Statue ist doch nur ein abgerißnes unvollständiges Bruchstück, kein in sich vollendetes Ganzes, und das höchste, was der Bildner, erreichen kann ist ein Analogon von Einheit. Die Einheit des Lyrikers und Musikers besteht in der Gleichartigkeit einiger aus der ganzen Reihe der zusammenhängenden Zustände herausgehobnen, die übrigen beherrschenden, und in der vollkommnen Unterordnung dieser übrigen unter jene herrschenden.

Die notwendige Mannigfaltigkeit und Freiheit setzen der Vollkommenheit dieses Zusammenhanges enge Gränzen, und an Vollständigkeit der Verknüpfung ist hier gar nicht zu denken. Vollständigkeit der Verknüpfung ist der zweite große Vorzug der Poesie. Nur der Tragiker, dessen eigentliches Ziel es ist, den größten Umfang und die stärkste Kraft mit der höchsten Einheit zu verbinden, kann seinem Werke eine vollkommne Organisation geben, dessen schöner Gliederbau auch nicht durch den kleinsten Mangel, den geringsten Überfluß gestört wird. Er allein kann eine vollständige Handlung, das einzige unbedingte Ganze im Gebiete der Erscheinung, darstellen. Eine ganz vollbrachte Tat, ein völlig ausgeführter Zweck gewähren die vollste Befriedigung. Eine vollendete poetische Handlung ist ein in sich abgeschloßnes Ganzes, eine technische Welt.

Die frühern Griechischen Dichtarten sind teils an sich unvollkommne Versuche einer noch unreifen Bildung, wie das Epos des mythischen Zeitalters; teils einseitig beschränkte Richtungen, welche die vollständige Schönheit zerspalten und unter sich gleichsam teilen, wie die verschiedenen Schulen des lyrischen Zeitalters. Die trefflichste unter den Griechischen Dichtarten, ist die Attische Tragödie. Alle einzelnen Vollkommenheiten der frühern Arten, Zeitalter und Schulen bestimmt, läutert, erhöht, vereinigt und ordnet sie zu einem neuen Ganzen.

Mit echter Schöpferkraft hatte Äschylus die Tragödie erfunden, ihre Umrisse entworfen, ihre Gränzen, ihre Richtung und ihr Ziel bestimmt. Was der Kühne entwarf führte Sophokles aus. Er bildete seine Erfindungen, milderte seine Härten, ergänzte seine Lücken, vollendete die tragische Kunst, und erreichte das äußerste Ziel der Griechischen Poesie. Glücklicherweise traf er mit dem höchsten Augenblick des öffentlichen Attischen Geschmacks zusammen. Er wußte aber auch die Gunst des Schicksals zu verdienen. Den Vorzug eines vollendeten Geschmacks, eines vollkommnen Stils teilt er mit seinem Zeitalter: die Art aber, wie er seine Stelle ausfüllte, seinem Beruf entsprach, ist ganz sein eigen. An genialischer Kraft weicht er weder dem Äschylus noch dem Aristophanes, an Vollendung und Ruhe kommt er dem Homerus und dem Pindarus gleich, und an Anmut übertrifft er alle seine Vorgänger und Nachfolger.

Die technische Richtigkeit seiner Darstellung ist vollkommen, und die Eurythmie, die regelmäßige Verknüpfung seiner bestimmt und reich gegliederten Werke ist so kanonisch, wie etwa die Proportion des berühmten Doryphorus vom Polyklet. Die reife und ausgewachsne Organisation eines jeden Ganzen ist bis zu einer Vollständigkeit vollendet, welche auch nicht durch die geringste Lücke, nicht durch einen überflüssigen Hauch gestört wird. Notwendig entwickelt sich alles aus Einem, und auch der kleinste Teil gehorcht unbedingt dem großen Gesetz des Ganzen.

Die Enthaltsamkeit, mit welcher er auch dem schönsten Auswuchs entsagt, auch der lockendsten Verführung, das Gleichgewicht des Ganzen zu verletzen, widerstanden haben würde, ist bei diesem Dichter ein Beweis seines Reichtums. Denn seine Gesetzmäßigkeit ist frei, seine Richtigkeit ist leicht, und die reichste Fülle ordnet sich gleichsam von selbst zu einer vollkommnen aber gefälligen Übereinstimmung. Die Einheit seiner Dramen ist nicht mechanisch erzwungen, sondern organisch entstanden. Auch der kleinste Nebenzweig genießt eignes Leben, und scheint nur aus freier Neigung sich an seiner Stelle in den gesetzmäßigen Zusammenhang der ganzen Bildung zu fügen. Mit Lust und ohne Anstoß folgen wir dem hinreißenden Strome, verbreiten uns über die bezaubernde Fläche seiner Dichtung: denn die Schönheit der richtigen aber einfachen und freien Stellung gibt ihr einen unaussprechlichen Reiz. Das größere Ganze, wie das Kleinere ist in die reichsten und einfachsten Massen bestimmt geschieden, und angenehm gruppiert. Und wie in der ganzen Handlung Kampf und Ruhe, Tat und Betrachtung, Menschheit und Schicksal gefällig wechseln, und sich frei vereinigen, wenn bald die einzelne Kraft ihren kühnen Lauf ungehemmt ergießt, bald zwei Kräfte in raschem Wechsel sich kämpfend umschlingen, bald alles Einzelne vor der majestätischen Masse des Chors schweigt: so ist auch noch in dem kleinsten Teil der Rede das Mannigfaltige in leichtem Wechsel, und freier Vereinigung.

Hier ist auch nicht die leiseste Erinnrung an Arbeit, Kunst und Bedürfnis. Wir werden das Medium nicht mehr gewahr, die Hülle schwindet, und unmittelbar genießen wir die reine Schönheit. Diese anspruchslose Vollkommenheit scheint ohne bei ihrer eignen Hoheit zu verweilen, oder für den äußern Eindruck zu sorgen, nur um ihrer selbst willen da zu sein. Diese Bildungen scheinen nicht gemacht oder geworden, sondern ewig vorhanden gewesen, oder von selbst entstanden zu sein, wie die Göttin der Liebe leicht und plötzlich vollendet aus dem Meere emporstieg.

Im Gemüte des Sophokles war die göttliche Trunkenheit des Dionysos, die tiefe Erfindsamkeit der Athene, und die leise Besonnenheit des Apollo gleichmäßig verschmolzen. Mit Zaubermacht entrückt seine Dichtung die Geister ihren Sitzen und versetzt sie in eine höhere Welt; mit süßer Gewalt lockt er die Herzen, und reißt sie unwiderstehlich fort. Aber ein großer Meister in der seltnen Kunst des Schicklichen weiß er auch durch den glücklichsten Gebrauch der größten tragischen Kraft die höchste Schonung zu erreichen; gewaltig im Rührenden, wie im Schrecklichen ist er dennoch nie bitter oder gräßlich. – In stetem Schrecken würden wir bis zur Bewußtlosigkeit erstarren; in steter Rührung zerschmelzen. Sophokles hingegen weiß Schrecken und Rührung im vollkommensten Gleichgewicht wohltätig zu mischen, an treffenden Stellen durch entzückende Freude und frische Anmut köstlich zu würzen, und dieses schöne Leben in gleichmäßiger Spannung über das Ganze zu verbreiten.

Wunderbar groß ist seine Überlegenheit über den Stoff, seine glückliche Auswahl desselben, seine weise Benutzung der gegebenen Umrisse. Unter so vielen vielleicht zahllosen möglichen Auflösungen immer sicher die beste zu treffen, nie von der zarten Gränze zu verirren und selbst unter den verwickeltsten Schranken, mit geschickter Fügung in das Notwendige, seine völlige Freiheit behaupten; das ist das Meisterstück der künstlerischen Weisheit. Auch wenn ein Vorgänger ihm die nächste und beste Auflösung vorweggenommen hatte, wußte er den entrissenen Stoff sich von neuem zuzueignen. Er vermochte nach dem Äschylus in der »elektra« neu zu sein, ohne unnatürlich zu werden. Auch den an einzelnen großen Umrissen und glücklichen Veranlassungen reichen, im Ganzen aber ungünstigen und lückenhaften Stoff des »Philoktetes« wußte er zu einer vollständigen Handlung zu bilden, zu runden, und zu ergänzen, welcher es weder an einer leichten Einheit noch an einer völligen Befriedigung fehlt.

Der Attische Zauber seiner Sprache vereinigt die rege Fülle des Homerus, und die sanfte Pracht des Pindarus mit durchgearbeiteter Bestimmtheit. Die kühnen und großen aber harten, eckichten und schneidenden Umrisse des Äschylus sind in der Diktion des Sophokles bis zu einer scharfen Richtigkeit, bis zu einer weichen Vollendung verfeinert, gemildert und ausgebildet. – Nur da, wo Erfindsamkeit, Geselligkeit, Beredsamkeit und Schonung gleichsam eingeboren waren; wo die vollständige Bildung die einseitigen Vorzüge der Dorischen und Jonischen Bildung umfaßte; wo bei der unbeschränktesten Freiheit und Gesetzesgleichheit alles Innre in kecker Gestalt ans Licht treten durfte, und durch den lebhaftesten Kampf, die vielseitigste Friktion von außen gewetzt, gereinigt, gerundet und geordnet wurde: nur in Athen war die Vollendung der Griechischen Sprache möglich.

Der Rhythmus des Sophokles vereinigt den starken Fluß, die gedrängte Kraft und die männliche Würde des Dorischen Stils, mit der reichen Fülle, der raschen Weichheit und der zarten Leichtigkeit Jonischer oder Aeolischer Rhythmen.

Das Ideal der Schönheit, welches in allen Werken des Sophokles, und deren einzelnen Teilen durchaus herrscht, ist ganz vollendet. Die Kraft der einzelnen wesentlichen Bestandteile der Schönheit ist gleichmäßig, und die Ordnung der vereinigten völlig gesetzmäßig. Sein Stil ist vollkommen. In jeder einzelnen Tragödie, und in jedem einzelnen Fall ist der Grad der Schönheit durch die Schranken des Stoffs, den Zusammenhang des Ganzen, und die Beschaffenheit der besondren Stelle näher bestimmt.

Die sittliche Schönheit aller einzelnen Handelnden ist so groß, als diese Bedingungen jedesmal nur immer verstatten. Alle Taten und Leidenschaften entspringen so weit als möglich aus Sitten oder Charakter, und die besondren Charaktere, die bestimmten Sitten nähern sich so sehr als möglich der reinen Menschheit. Unnütze Schlechtheit findet sich hier so wenig wie müßiger Schmerz und auch die leiseste Anwandlung des bittern Unwillens ist aufs strengste vermieden.

Der Begebenheiten, im Gegensatz der Handlungen, sind so wenig als möglich, und diese werden alle aus Schicksal hergeleitet. Der unaufhörliche notwendige Streit des Schicksals und der Menschheit aber wird durch eine andre Art von sittlicher Schönheit immer wieder in Eintracht aufgelöst, bis endlich die Menschheit, so weit es die Gesetze der technischen Richtigkeit verstatten, den vollständigsten Sieg davon trägt. Die Betrachtung, dieser notwendige innre Nachklang jeder großen äußern Tat oder Begebenheit trägt und erhält das Gleichgewicht des Ganzen. Die ruhige Würde einer schönen Gesinnung schlichtet den furchtbaren Kampf, und lenkt die kühne Übermacht, welche jeden Damm der Ordnung heftig durchbrach, wieder in das milde Gleis des ewig ruhigen Gesetzes. Der Schluß des ganzen Werks gewährt endlich jederzeit die vollste Befriedigung: denn wenngleich der äußern Ansicht nach die Menschheit zu sinken scheint, so siegt sie dennoch durch innre Gesinnung. Die tapfre Gegenwehr des Helden kann der blinden Wut des Schicksals zuletzt unterliegen: aber das selbständige Gemüt hält dennoch in allen Qualen standhaft zusammen, und schwingt sich endlich frei empor, wie der sterbende Herkules in den »Trachinerinnen«.

Alle diese skizzierten Vollkommenheiten der Sophokleischen Dichtung sind nicht getrennte und für sich bestehende Eigenschaften, sondern nur verschiedene Ansichten und Teile eines streng verknüpften und innigst verschmolznen Ganzen. So lange das Gleichgewicht der Kraft und Gesetzmäßigkeit in der Bildung noch nicht verloren, so lange das Ganze der Schönheit noch nicht zerrissen ist, kann das Einzelne gar nicht auf Unkosten des Ganzen vollkommner sein. Alle einzelne Trefflichkeiten leihen sich gegenseitig in durchgängiger Wechselwirkung einen höhern Wert. Aus der Vereinigung aller dieser Eigenschaften, in denen ich nur die allgemeinsten Umrisse gleichsam die äußersten Gränzen seines unerschöpflich reichen Wesens entworfen habe, entspringt die selbstgenugsame Vollendung, die eigne Süßigkeit, welche den Griechen selbst vorzüglich charakteristische Züge dieses Dichters zu sein schienen.

In praktischer Rücksicht sind die Vorzüge der verschiedenen Zeitalter, Dichtarten und Richtungen sehr ungleich, und wiewohl das Nachahmungswürdige in der Griechischen Poesie überall verbreitet ist, so vereinigt es sich doch gleichsam in dem Mittelpunkte des goldnen Zeitalters. In theoretischer Rücksicht hingegen ist die ganze Masse ohngefähr gleich merkwürdig.

Sehr auffallend kontrastiert die einfache Gleichartigkeit der ganzen Masse der Griechischen Poesie mit dem bunten Kolorit, und der heterogenen Mischung der modernen Poesie.

Die Griechische Bildung überhaupt war durchaus originell und national, ein in sich vollendetes Ganzes, welches durch bloße innre Entwicklung einen höchsten Gipfel erreichte, und in einem völligen Kreislauf auch wieder in sich selbst zurücksank. Ebenso originell war auch die Griechische Poesie. Die Griechen bewahrten ihre Eigentümlichkeit rein und ihre Poesie war nicht nur im ersten Anfange, sondern auch im ganzen Fortgange beständig national. Sie war nicht nur in ihrem Ursprunge, sondern auch in ihrer ganzen Masse mythisch: denn im Zeitalter kindlicher Bildung, so lange die Freiheit nur durch Natur veranlaßt und nicht selbständig ist, sind die verschiedenen Zwecke der Menschheit nicht bestimmt, und ihre Teile vermischt. Die Sage oder der Mythus ist ja aber eben jene Mischung, wo sich Überlieferung und Dichtung gatten, wo die Ahndung der kindischen Vernunft und die Morgenröte der schönen Kunst ineinander verschmelzen. Die natürliche Bildung ist nur die stete Entwicklung eines und desselben Keims; die Grundzüge ihrer Kindheit werden sich daher über das Ganze verbreiten und durch überlieferte Gebräuche und geheiligte Einrichtungen befestigt bis auf die späteste Zeit erhalten werden. Die Griechische Poesie ist von ihrem Ursprunge an, während ihres Fortganges, und in ihrer ganzen Masse musikalisch, rhythmisch und mimisch. Nur die Willkür des künstelnden Verstandes kann gewaltsam scheiden, was durch die Natur ewig vereinigt ist. Ein wahrhaft menschlicher Zustand besteht nicht aus Vorstellungen oder aus Bestrebungen allein, sondern aus der Mischung beider. Er ergießt sich ganz, durch alle vorhandnen Öffnungen, nach allen möglichen Richtungen. Er äußert sich in willkürlichen und natürlichen Zeichen, in Rede, Stimme und Gebärde zugleich. In der natürlichen Bildung der Künste, ehe der Verstand seine Rechte verkennt, und durch gewaltsame Eingriffe die Gränzen der Natur verwirrt, ihre schöne Organisation zerstört, sind Poesie, Musik und Mimik (welche dann auch rhythmisch ist) fast immer unzertrennliche Schwestern.

Diese Gleichartigkeit nehmen wir nicht nur in der ganzen Masse, sondern auch in den größern und kleinern, koexistenten oder sukzessiven Klassen, in welche das Ganze sich spaltet, wahr. Bei der größten Verschiedenheit der ursprünglichen Dichterkraft, und der weisen Anwendung derselben, ja sogar des individuellen Nationalcharakters der verschiedenen Stämme, und der herrschenden Stimmung des Künstlers, sind dennoch in jeder größern Epoche der ästhetischen Bildung die allgemeinen Verhältnisse des Gemüts und der Natur unabänderlich und ohne Ausnahme bestimmt. In derjenigen dieser Epochen, wo der öffentliche Geschmacks auf der höchsten Stufe der Bildung stand, und bei der größten Vollkommenheit alle Organe der Kunst sich zugleich am vollständigsten und am freiesten äußern konnten, waren die allgemeinen Verhältnisse der ursprünglichen Bestandteile der Schönheit durch den Geist des Zeitalters entschieden determiniert, und weder der höchste noch der geringste Grad des originellen Genies, oder die eigentümliche Bildung und Stimmung des Dichters konnte eine einzige Ausnahme von dieser Notwendigkeit möglich machen. Während diese koexistenten Verhältnisse schnell wechselten, verbreitete der Geist eines großen Meisters seine wohltätigen Wirkungen durch viele Zeitalter, ohne daß dadurch die Erfindung gelähmt, oder die Originalität gefesselt worden wäre. Mit merkwürdiger Gleichheit erhielt sich oft durch eine lange Reihe von Künstlern eine vorzügliche eigentümlich bestimmte Richtung. Dennoch aber ging die durchgängige Tendenz des Individuellen auf das Objektive, so daß das erste den Spielraum des letzten wohl hie und da beschränkte, nie aber seiner gesetzmäßigen Herrschaft sich entzog.

Die verschiednen Stufen der sukzessiven Entwicklung, sondern sich zwar in Masse deutlich und entschieden voneinander ab, aber in dem stetigen Fluß der Geschichte verschmelzen die äußersten Gränzen wie Wellen des Stromes, ineinander. Desto unvermischter sind die Gränzen der koexistenten Richtungen des Geschmacks und Arten der Kunst. Ihre Zusammensetzung ist durchaus gleichartig, rein und einfach, wie der Organismus der plastischen Natur, nicht wie der Mechanismus des technischen Verstandes. Nach einem ewigen und einfachen Gesetz der Anziehung und der Rückstoßung koalisieren sich die homogenen Elemente, entledigen sich alles Fremdartigen, je mehr sie sich entwickeln, und bilden sich organisch.

Die ganze Masse der modernen Poesie ist ein unvollendeter Anfang, dessen Zusammenhang nur in Gedanken zur Vollständigkeit ergänzt werden kann. Die Einheit dieses teils wahrgenommenen, teils gedachten Ganzen ist der künstliche Mechanismus eines durch menschlichen Fleiß hervorgebrachten Produkts. Die gleichartige Masse der Griechischen Poesie hingegen ist ein selbständiges, in sich vollendetes, vollkommnes Ganzes, und die einfache Verknüpfung ihres durchgängigen Zusammenhanges ist die Einheit einer schönen Organisation, wo auch der kleinste Teil durch die Gesetze und den Zweck des Ganzen notwendig bestimmt, und doch für sich bestehend und frei ist. – Die sichtbare Regelmäßigkeit ihrer progressiven Entwicklung verrät mehr als Zufall. Der größte wie der kleinste Fortschritt entwickelt sich wie von selbst aus der vorhergehenden, und enthält den vollständigen Keim der folgenden Stufe. Die sonst auch in der Menschengeschichte oft so tief verhüllten innern Prinzipien der lebendigen Bildung liegen hier offenbar am Tage, und sind selbst der äußern Gestalt mit bestimmter und einfacher Schrift eingeprägt. Wie in der ganzen Masse die homogenen Elemente durch innre Stärke der strebenden Kraft zu einer gesunden Organisation sich freundlich koalisierten; wie der organische Keim durch stete Evolutionen des Bildungstriebes seinen Kreislauf vollendete, glücklich wuchs, üppig blühte, schnell reifte und plötzlich welkte: so auch jede Dichtart, jedes Zeitalter, jede Schule der Poesie.

Die Analogie erlaubt und nötigt uns vorauszusetzen, daß in der Griechischen Poesie gar nichts zufällig und bloß durch äußre Einwirkung gewalttätig bestimmt sei. Es scheint vielmehr auch das Geringste, Seltsamste und der ersten Ansicht nach Zufälligste sich aus innern Gründen notwendig entwickelt zu haben. – Der Punkt, von dem die Griechische Bildung ausging, war eine absolute Rohigkeit, und ihre kosmische Lage ein Maximum von Begünstigung in Anlagen und Veranlassungen welches in der ästhetischen Bildung wenigstens nie durch schädliche äußre Einflüsse gestört ward. Diese veranlassenden Ursachen erklären die Herkunft, die eigentümliche Beschaffenheit, und die äußern Schicksale der Griechischen Poesie. Die allgemeinen Verhältnisse ihrer Teile aber, die Umrisse ihres Ganzen, die bestimmten Gränzen ihrer Stufen und Arten, die notwendigen Gesetze ihrer Fortschreitung erklären sich nur aus innern Gründen, aus der Natürlichkeit ihrer Bildung. Diese Bildung war keine andre als die freieste Entwicklung der glücklichsten Anlage, deren allgemeiner und notwendiger Keim in der menschlichen Natur selbst gegründet ist. – Nie ist die ästhetische Bildung der Griechen weder zu Athen noch zu Alexandrien in dem Sinne künstlich gewesen, daß der Verstand die ganze Masse geordnet, alle Kräfte gelenkt, das Ziel und die Richtung ihres Ganges bestimmt hätte. Im Gegenteil war die Griechische Theorie eigentlich ohne die mindeste Gemeinschaft mit der Praxis des Künstlers und höchstens späterhin die Handlangerin derselben. Der gesamte Trieb war nicht nur das bewegende, sondern auch das lenkende Prinzip der Griechischen Bildung.

Die Griechische Poesie in Masse ist ein Maximum und Kanon der natürlichen Poesie, und auch jedes einzelne Erzeugnis derselben ist das vollkommenste in seiner Art. Mit kühner Bestimmtheit sind die Umrisse einfach entworfen, mit üppiger Kraft ausgefüllt und vollendet; jede Bildung ist die vollständige Anschauung eines echten Begriffs. Die Griechische Poesie enthält für alle ursprünglichen Geschmacks- und Kunstbegriffe eine vollständige Sammlung von Beispielen, welche so überraschend zweckmäßig für das theoretische System sind, als hätte sich die bildende Natur gleichsam herabgelassen, den Wünschen des nach Erkenntnis strebenden Verstandes zuvorzukommen. In ihr ist der ganze Kreislauf der organischen Entwicklung der Kunst abgeschlossen und vollendet, und das höchste Zeitalter der Kunst, wo das Vermögen des Schönen sich am freiesten und vollständigsten äußern konnte, enthält den vollständigen Stufengang des Geschmacks. Alle reinen Arten der verschiedenen möglichen Zusammensetzungen der Bestandteile der Schönheit sind erschöpft, und selbst die Ordnung der Aufeinanderfolge und die Beschaffenheit der Übergänge ist durch innre Gesetze notwendig bestimmt. Die Gränzen ihrer Dichtarten sind nicht durch willkürliche Scheidungen und Mischungen erkünstelt, sondern durch die bildende Natur selbst erzeugt und bestimmt. Das System aller möglichen reinen Dichtarten ist sogar bis auf die Spielarten, die unreifen Arten der unentwickelten Kindheit, und die einfachsten Bastardarten, welche sich im versunknen Zeitalter der Nachahmung aus dem Zusammenfluß aller echten vorhandnen erzeugten, vollständig erschöpft. Sie ist eine ewige Naturgeschichte des Geschmacks und der Kunst.

Sie enthält eigentlich die reinen und einfachen Elemente, in welche man die gemischten Produkte der modernen Poesie erst analysieren muß, um ihr labyrinthisches Chaos völlig zu enträtseln. Hier sind alle Verhältnisse so echt, ursprünglich und notwendig bestimmt, daß der Charakter auch jedes einzelnen Griechischen Dichters gleichsam eine reine und einfache ästhetische Elementaranschauung ist. Man kann zum Beispiel Goethens Stil nicht bestimmter, anschaulicher und kürzer erklären, als wenn man sagt, er sei aus dem Stil des Homerus, des Euripides und des Aristophanes gemischt.

»Aber die griechische Poesie beleidigt ja unsre Delikatesse so oft und so empfindlich! Weit entfernt von der höhern Sittlichkeit unsers verfeinerten Jahrhunderts bleibt sie selbst in ihrer höchsten Vollendung hinter der alten Romanze an Edelmut, Anstand, Scham und Zartheit weit zurück. Wie arm und uninteressant ist nicht die gerühmte Simplizität ihrer ernsthaften Produkte! Der Stoff ist dürftig, die Ausführung monoton, die Gedanken trivial, die Gefühle und Leidenschaften ohne Energie, und selbst die Form nach den strengen Forderungen unsrer höhern Theorie nicht selten inkorrekt. Die Griechische Poesie sollte unser Muster sein? Sie, welche den höchsten Gegenstand schöner Kunst – eine edle geistige Liebe – gar nicht kennt?« So werden viele Moderne denken. »Sehr viele lyrische Gedichte besingen die unnatürlichste Ausschweifung und fast in allen atmet der Geist zügelloser Wollust aufgelöster Üppigkeit, zerflossener Unmännlichkeit. In der plumpen Possenreißerei der pöbelhaften alten Komödie scheint alles zusammengeflossen zu sein, was nur gute Sitten und gute Gesellschaft empören kann. In dieser Schule aller Laster, wo selbst Sokrates komödiert ward, wird alles Heilige verlacht, und alles Große mutwillig verspottet. Nicht nur die frevelhafteste Ausschweifung, sondern sogar weibische Feigheit und besonnene Niederträchtigkeit werden hier mit fröhlichen Farben und in einem täuschend reizenden Lichte leichtsinnig dargestellt. Die Immoralität der neuen Komödie scheint nur weniger schlimm, weil sie schwächer und feiner ist. Allein die Gaunereien lügenhafter Sklaven und intriganter Buhlerinnen, die Ausschweifungen törichter Jünglinge sind bei häufig wechselnden Mischungen die bleibenden und immer wiederkehrenden Grundzüge der ganzen Handlung. Auch im Homer stimmt der unedle Eigennutz seiner Helden, die nackte Art, wie der Dichter ungerechte Klugheit, und unsittliche Stärke gleichsam preisend, oder doch gleichgültig darstellt, mit der hohen Würde der vollkommenen Epopöe so schlecht überein, als die nicht ganz seltne Gemeinheit des Stoffs und des Ausdrucks, und der rhapsodische Zusammenhang des Ganzen. Der wütenden Tragödie ist nicht nur jedes gräßlichste Verbrechen das willkommenste, sondern in den Sophismen der Leidenschaft wird das Laster auch nach Grundsätzen gelehrt. Wessen Herz empört sich nicht, den Muttermord der Elektra im Sophokles mehr glänzend und verschönernd, als verabscheuend dargestellt zu sehen? Um endlich der bessern Seele jeden innern Widerhalt zu rauben, so schließt gewöhnlich das schreckliche Gemälde im dunkeln Hintergrunde mit der niederdrückenden Ansicht eines allmächtigen und unverständigen, wohl gar neidischen und menschenfeindlichen Schicksals.«

Ehe ich diese interessante Komposition moderner Anmaßung raffinierter Mißverständnisse und barbarischer Vorurteile in ihre ursprünglichen Elemente analysiere, muß ich einige Worte über die einzigen gültigen objektiven Prinzipien des ästhetischen Tadels voranschicken. Dann wird es nicht schwer sein, den subjektiven Ursprung der konventionellen Prinzipien dieser pathetischen Satire zu deduzieren.

Jede lobende oder tadelnde Würdigung kann nur unter zwei Bedingungen gültig sein. Der Maßstab, nach welchem geurteilt und geschätzt wird, muß allgemeingültig, und die Anwendung auf den kritisierten Gegenstand muß so gewissenhaft treu, die Wahrnehmung so vollkommen richtig sein, daß sie jede Prüfung bestehn können. Außerdem ist das Urteil ein bloßer Machtspruch. Wie unvollständig und lückenhaft unsre Philosophie des Geschmacks und der Kunst noch sei, kann man schon daraus abnehmen, daß es noch nicht einmal einen namhaften Versuch einer Theorie des Häßlichen gibt. Und doch sind das Schöne und das Häßliche unzertrennliche Korrelaten.

Wie das Schöne die angenehme Erscheinung des Guten, so ist das Häßliche die unangenehme Erscheinung des Schlechten. Wie das Schöne durch eine süße Lockung der Sinnlichkeit das Gemüt anregt, sich dem geistigen Genusse hinzugeben: so ist hier ein feindseliger Angriff auf die Sinnlichkeit Veranlassung und Element des sittlichen Schmerzes. Dort erwärmt und erquickt uns reizendes Leben, und selbst Schrecken und Leiden ist mit Anmut verschmolzen; hier erfüllt uns das Ekelhafte, das Quälende, das Gräßliche mit Widerwillen und Abscheu. Statt freier Leichtigkeit drückt uns schwerfällige Peinlichkeit, statt reger Kraft tote Masse. Statt einer gleichmäßigen Spannung in einem wohltätigen Wechsel von Bewegung und Ruhe wird die Teilnahme durch ein schmerzliches Zerren in widersprechenden Richtungen hin und her gerissen. Wo das Gemüt sich nach Ruhe sehnt, wird es durch zerrüttende Wut gefoltert, wo es Bewegung verlangt, durch schleppende Mattigkeit ermüdet.

Der tierische Schmerz ist in der Darstellung des Häßlichen nur Element und Organ des sittlich Schlechten. Dem absoluten Guten ist aber gar nichts Positives, kein absolutes Schlechtes entgegengesetzt, sondern nur eine bloße Negation der reinen Menschheit der Allheit, Einheit und Vielheit. Das Häßliche ist also eigentlich ein leerer Schein im Element eines reellen physischen Übels, aber ohne moralische Realität. Nur in der Sphäre der Tierheit gibt es ein positives Übel – den Schmerz. In der reinen Geistigkeit würde nur Genuß und Beschränkung ohne Schmerz, und in der reinen Tierheit nur Schmerz und Stillung des Bedürfnisses ohne Genuß stattfinden. In der gemischten Natur des Menschen sind die negative Beschränkung des Geistes und der positive Schmerz des Tiers innigst ineinander verschmolzen.

Der Gegensatz reicher Fülle ist Leerheit; Monotonie, Einförmigkeit, Geistlosigkeit. Der Harmonie steht Mißverhältnis und Streit gegenüber. Dürftige Verwirrung ist also dem eigentlichen Schönen im engern Sinne entgegengesetzt. Das Schöne im engern Sinne ist die Erscheinung einer endlichen Mannigfaltigkeit in einer bedingten Einheit. Das Erhabne hingegen ist die Erscheinung des Unendlichen; unendlicher Fülle oder unendlicher Harmonie. Es hat also einen doppelten Gegensatz: unendlichen Mangel und unendliche Disharmonie.

Die Stufe der Schlechtheit nämlich wird allein durch den Grad der Negation bestimmt. Die Stufe der Häßlichkeit hingegen hängt zugleich von der intensiven Quantität des Triebes, welchem widersprochen wird, ab. Die notwendige Bedingung des Häßlichen ist eine getäuschte Erwartung, ein erregtes und dann beleidigtes Verlangen. Das Gefühl der Leerheit und des Streits kann von bloßer Unbehaglichkeit bis zur wütendsten Verzweiflung wachsen, wenngleich der Grad der Negation derselbe bleibt, und die intensive Kraft des Triebes allein steigt.

Erhabne Schönheit gewährt einen vollständigen Genuß. Das Resultat erhabner Häßlichkeit (einer Täuschung, welche durch jene Spannung des Triebes möglich ist) hingegen ist Verzweiflung, gleichsam ein absoluter, vollständiger Schmerz. Ferner Unwillen, (eine Empfindung, welche im Reiche des Häßlichen eine sehr große Rolle spielt) oder der Schmerz, welcher die Wahrnehmung einzelner sittlicher Mißverhältnisse begleitet; denn alle sittlichen Mißverhältnisse veranlassen die Einbildungskraft den gegebnen Stoff zur Vorstellung einer unbedingten Disharmonie zu ergänzen.

In strengstem Sinne des Worts ist ein höchstes Häßliches offenbar so wenig möglich wie ein höchstes Schönes. Ein unbedingtes Maximum der Negation, oder das absolute Nichts kann so wenig wie ein unbedingtes Maximum der Position in irgendeiner Vorstellung gegeben werden; und in der höchsten Stufe der Häßlichkeit ist noch etwas Schönes enthalten. Ja sogar um das häßlich Erhabne darzustellen, und den Schein unendlicher Leerheit und unendlicher Disharmonie zu erregen, wird das größte Maß von Fülle und Kraft erfordert. Die Bestandteile des Häßlichen streiten also untereinander selbst, und es kann in demselben nicht einmal wie im Schönen, durch eine gleichmäßige, wenngleich beschränkte Kraft der einzelnen Bestandteile, und durch vollkommne Gesetzmäßigkeit der vollständig vereinigten ein bedingtes Maximum (ein objektives unübertreffliches Proximum) erreicht werden, sondern nur ein subjektives: denn es gibt für jede individuelle Empfänglichkeit eine bestimmte Gränze des Ekels, der Pein, der Verzweiflung, jenseits welcher die Besonnenheit aufhören würde.

Der schöne Künstler aber soll nicht nur den Gesetzen der Schönheit, sondern auch den Regeln der Kunst gehorchen, nicht nur das Häßliche, sondern auch technische Fehler vermeiden. Jedes darstellende Werk freier Kunst kann auf vierfache Weise Tadel verdienen. Entweder fehlt es der Darstellung an darstellender Vollkommenheit; oder sie sündigt wider die Idealität und die Objektivität; oder auch wider die Bedingungen ihrer innern Möglichkeit.

Dem Unvermögen fehlt es an Werkzeugen und an Stoff, welche dem Zweck entsprechen würden. Die Ungeschicklichkeit Weiß die vorhandne Kraft und den gegebnen Stoff nicht glücklich zu benutzen. Die Darstellung ist dann stumpf, dunkel, verworren und lückenhaft. Die Verkehrtheit wird die ewigen Gränzen der Natur verwirren, und durch monströse Mischungen der echten Dichtarten ihren eignen Zweck selbst vernichten. Eine zwar gesunde aber noch kindliche Bildung wird in echten aber unvollkommnen Dichtarten ihre richtige Absicht nur anlegen und skizzieren, ohne sie vollständig auszuführen.

Die Darstellung kann im Einzelnen sehr trefflich sein, und doch im Ganzen durch innre Widersprüche sich selbst aufheben, die Bedingungen ihrer innern Möglichkeit vernichten, und die Gesetze der technischen Richtigkeit verletzen. Unzusammenhang könnte man es nennen, wenn es der unbestimmten Masse eines angeblichen Kunstwerks an eigner Bestandheit und Gesetzen innrer Möglichkeit überhaupt fehlte; wenn das Werk gleichsam gränzenlos, und von der übrigen Natur gar nicht, oder nicht gehörig abgesondert wäre, da es doch eigentlich eine kleine abgeschlossene Welt, ein in sich vollendetes Ganzes sein sollte.

Wider die Idealität der Kunst wird verstoßen, wenn der Künstler sein Werkzeug vergöttert, die Darstellung, welche nur Mittel sein sollte, an die Stelle des unbedingten Ziels unterschiebt, und nur nach Virtuosität strebt; durch Künstelei.

Wider die Objektivität der Kunst, wenn sich bei dem Geschäft allgemeingültiger Darstellung, die Eigentümlichkeit ins Spiel mischt, sich leise einschleicht, oder offenbar empört; durch Subjektivität.

Dieser allgemeine Umriß der reinen Arten aller möglichen technischen Fehler enthält die ersten Grundlinien einer Theorie der Inkorrektheit, welche mit der Theorie des Häßlichen zusammengenommen den vollständigen ästhetischen Kriminalkodex aus macht, den ich bei der folgenden skizzierten Apologie der Griechischen Poesie zum Grunde legen werde.

Die Griechische Poesie bedarf keiner rhetorischen Lobpreisungen; der Kunstgriff, ihre wirklichen Fehler zu beschönigen oder zu leugnen, ist ihrer ganz unwürdig. Sie verlangt strenge Gerechtigkeit: denn selbst harter Tadel wird ihrer Ehre weniger nachteilig sein, als blinder Enthusiasmus oder tolerante Gleichgültigkeit.

Jeder Verständige wird die Unvollkommenheit der ältesten, die Unechtheit der spätesten Griechischen Dichtarten; die kindliche Sinnlichkeit des epischen Zeitalters, die üppige Ausschweifung gegen das Ende des lyrischen und besonders in der dritten Stufe des dramatischen Zeitalters, die nicht selten bittre und gräßliche Härte der ältern Tragödie willig eingestehen. Auf die Schwelgerei, die das sinnlich Angenehme, welches nur Anregung und Element des geistigen Genusses sein sollte, zum letzten Zweck erhob, folgte bald kraftlose Gärung, dann ruhige Mattigkeit, und endlich im Zeitalter der Künstelei und gelehrter Nachahmung die schwerfällige Trockenheit einer toten und aus einzelnen Stücken zusammengeflickten Masse.

Die durchgängige Richtung der gesamten strebenden Kraft ging zwar auf Schönheit von dem Augenblick an, da die Darstellung von der rohen Äußerung eines Bedürfnisses sich zum freien Spiel erhob.

Aber die natürliche Entwicklung konnte keine notwendigen Stufen der Bildung überspringen, und nur allmählig fortschreiten. Auch das war natürlich, ja notwendig, daß die Griechische Poesie von dem höchsten Gipfel der Vollendung in die tiefste Entartung versank. Der Trieb nämlich, welcher die Griechische Bildung lenkte, ist ein mächtiger Beweger, aber ein blinder Führer. Setzt eine Mannigfaltigkeit blinder bewegender Kräfte in freie Gemeinschaft, ohne sie durch ein vollkommnes Gesetz zu vereinigen: sie werden sich endlich selbst zerstören. So auch freie Bildung: denn hier ist in die Gesetzgebung selbst etwas Fremdartiges aufgenommen, weil der zusammengesetzte Trieb eine Mischung der Menschheit und der Tierheit ist. Da die letztere eher zum Dasein gelangt, und die Entwicklung der ersten selbst erst veranlaßt, so hat sie in den frühern Stufen der Bildung das Übergewicht. Sie behielt dieses in Griechenland auch bei der größern Masse der ganz ungebildeten Bürger oder Bürgerinnen gebildeter Völker, und der rohgebliebenen Völkerschaften; und zwar eine Masse, aber nur die kleinere herrschende in der größern beherrschten wurde mündig und selbständig. Diese größere Masse äußerte beständig eine starke anziehende Kraft, die bessere zu sich herabzuziehn, welche durch den ansteckenden Einfluß durchmischter Sklaven und umgebender Barbaren noch ungemein verstärkt ward. Ohne äußre Gewalt, und sich selbst überlassen, kann die strebende Kraft nie stillstehen. Wenn sie daher in ihrer allmählichen Entwicklung das Zeitalter einer gleichmäßigen, an Kraft beschränkten, aber im Umfang vollständigen und gesetzmäßigen Befriedigung erreicht, so wird sie notwendig größeren Gehalt selbst auf Unkosten der Übereinstimmung begehren. Die Bildung wird rettungslos in sich selbst versinken, und der Gipfel der höchsten Vollendung wird ganz dicht an entschiedene Entartung gränzen. Die lenkende Kunst eines durch vielfache Erfahrung gereiften Verstandes allein hätte dem Gange der Bildung eine glücklichere Richtung geben können. Der Mangel eines weisen lenkenden Prinzips, um das höchste Schöne zu fixieren, und der Bildung eine stete Progressions zum Bessern zu sichern, ist aber nicht das Vergehn eines einzelnen Zeitalters. Wenn über das, was notwendig, und eigentlich Schuld der Menschheit selbst ist, ein Tadel stattfinden kann, so trifft er die Masse der Griechischen Bildung.

Aber dieses allmähliche Entstehen, und dieses Versinken in sich selbst, der ganzen Griechischen Bildung, wie der Griechischen Poesie steht gar nicht im Widerspruch mit der Behauptung, daß die Griechische Poesie die gesuchte Anschauung sei, durch welche eine objektive Philosophie der Kunst sowohl in praktischer, als in theoretischer Rücksicht erst anwendbar und pragmatisch werden könnte. Denn eine vollständige Naturgeschichte der Kunst und des Geschmacks umfaßt im vollendeten Kreislaufe der allmählichen Entwicklung auch die Unvollkommenheit der frühern, und die Entartung der spätern Stufen, in deren steten und notwendigen Kette kein Glied übersprungen werden kann. Der Charakter der Masse ist dennoch Objektivität, und auch diejenigen Werke, deren Stil tadelhaft ist, sind durch die einfache Echtheit der Anlagen und Gränzen, durch die dreiste Bestimmtheit der reinen Umrisse, und die kräftige Vollendung der bildenden Natur einzige, für alle Zeitalter gültige, und gesetzgebende Anschauungen. Die kindliche Sinnlichkeit der frühern Griechischen Poesie hat mehr gleichmäßigen Umfang und schönes Ebenmaß, als die künstlichste Verfeinerung mißbildeter Barbaren, und selbst die Griechische Künstelei hat ihre klassische Objektivität.

Es gibt eine gewisse Art der Ungenügsamkeit, welche ein sichres Kennzeichen der Barbarei ist. So diejenigen, welche nicht zufrieden damit, daß die Griechische Poesie schön sei, ihr einen ganz fremdartigen Maßstab der Würdigung aufdringen, in ihren verworrnen Prätensionen alles Objektive und Subjektive durcheinander mischen, und fordern, daß sie interessanter sein sollte. Allerdings könnte auch das Interessanteste noch interessanter sein, und die Griechische Poesie macht von diesem allgemeinen Naturgesetz keine Ausnahme. Alle Quanta sind unendlich progressiv, und es wäre wunderbar, wenn unsere Poesie durch die Fortschritte aller vorigen Zeitalter bereichert an Gehalt die Griechische nicht überträfe.

Vielleicht ist das Verhältnis des männlichen und des weiblichen Geschlechts im Ganzen bei den Modernen wenigstens etwas glücklicher, die weibliche Erziehung ein klein wenig besser, wie bei den Griechen. Die Liebe war bei den Modernen lange Zeit, zum Teil noch jetzt der einzige Ausweg für jeden freieren Schwung höheren Gefühls, der sonst der Tugend und dem Vaterlande geweiht war. Auch die Dichtkunst der Modernen verdankt dieser günstigen Veranlassung sehr viel. Freilich aber wurde nur zu oft Fantasterei und Bombast der echten Empfindung untergeschoben, und durch häßliche falsche Scham die Einfalt der Natur entweiht. Gewiß ist die sublimierte Mystik und die ordentlich scholastische Pedanterei in der Metaphysik der Liebe vieler modernen Dichter von echter Grazie sehr weit entfernt. Die krampfhaften Erschütterungen des Kranken machen mehr Geräusch, als das ruhige aber starke Leben des Gesunden. – Die innige Glut des treuen Properzius vereinigt wahre Kraft und Zartheit, und läßt viel Gutes vom Kallimachus und Philetas ahnden. Und doch war in seinem Zeitalter an vollkommne lyrische Schönheit schon gar nicht mehr zu denken. Es sind aber Spuren genug vorhanden, um sehr bestimmt vermuten zu können, was und wie viel wir an den Gesängen der Sappho des Mimnermus und einiger andrer erotischen Dichter aus der Blütezeit der lyrischen Kunst verloren haben. Die sanfte Wärme, die urbane Grazie, die liberale Humanität, welche in den erotischen Darstellungen der neuen Attischen Komödie atmete, lebt noch in vielen Dramen des Plautus und Terentius. Was hingegen die Tragödie betrifft, so hatten die Griechen vielleicht Recht, den Euripides zu tadeln. Was augenblickliche Ergießung des überschäumenden Gefühls, oder ruhiger Genuß voller Glückseligkeit sein sollte, kann nur durch häßliche, immoralische und fantastische Zusätze zu einer tragischen Leidenschaft auseinandergereckt werden. In vielen der trefflichsten modernen Tragödien spielt die Liebe nur eine untergeordnete Rolle.

Sollte aber auch wirklich die Griechische Poesie durch eine Eigentümlichkeit ihrer sonst so einzig günstigen Lage hier etwas zurückgeblieben sein: so wäre es kein unverzeihliches Verbrechen. Überhaupt verrät es einen kleinlichen Blick, nur am Zufälligen zu kleben, und das große Wesentliche nicht wahrzunehmen. Der Künstler braucht gar nicht allen alles zu sein. Wenn er nur den notwendigen Gesetzen der Schönheit und den objektiven Regeln der Kunst gehorcht, so hat er übrigens unbeschränkte Freiheit, so eigentümlich zu sein, als er nur immer will. Durch ein seltsames Mißverständnis verwechselt man sehr oft ästhetische Allgemeinheit mit der unbedingt gebotenen Allgemeingültigkeit. Die größte Allgemeinheit eines Kunstwerks würde nur durch vollendete Flachheit möglich sein. Das Einzelne ist in der idealischen Darstellung das unentbehrliche Element des Allgemeinen. Wird alle eigentümliche Kraft verwischt, so verliert selbst das Allgemeine seine Wirksamkeit. Die schöne Kunst ist gleichsam eine Sprache der Gottheit, welche nach Verschiedenheit der Kunstarten, der Werkzeuge und der Stoffe sich in ebensoviele abgesonderte Mundarten teilt. Wenn der Künstler nur seiner hohen Sendung würdig, wenn er nur göttlich redet; so bleibt ihm die Wahl der Mundart, in der er reden will, völlig frei. Es würde nicht nur unrechtmäßig, sondern auch sehr gefährlich sein, ihn hierin beschränken zu wollen: denn die Sprache ist ein Gewebe der feinsten Beziehungen. Sie muß sogar, so scheint es, ihre Eigenheiten haben, um bedeutend und trefflich, zu sein: wenigstens hat man noch keine allgemeine Allerweltsprache, die allen alles wäre, erfinden können. Auch darf der Künstler reden, mit wem er gut findet; mit seinem ganzen Volke, oder mit diesem und jenem, mit aller Welt, oder mit sich allein. Nur muß und soll er, in den menschlichen Individuen, welche sein Publikum sind, sich an die höhere Menschheit und nicht an die Tierheit wenden.

Auch der modernen Poesie würde ihre Individualität unbenommen bleiben, wenn sie nur das Griechische Geheimnis entdeckt hätte, im Individuellen objektiv zu sein. Statt dessen will sie ihre konventionellen Eigenheiten zum Naturgesetz der Menschheit erheben. Nicht zufrieden damit, selbst die Sklavin so vieler ästhetischen, moralischen, politischen und religiösen Vorurteile zu sein, will sie auch ihre Griechische Schwester in ähnliche Fesseln schlagen.

Wenn die konventionellen Regeln der modernen Dezenz gültige Gesetze der schönen Kunst sind, so ist die Griechische Poesie nicht zu retten, und wenn man konsequent sein will, muß man mit ihr verfahren, wie die Mönche mit den Nuditäten der Antike. Die Dezenz aber hat der Poesie gar nichts zu befehlen; sie steht gar nicht unter ihrer Gerichtsbarkeit. Die kecke Nacktheit im Leben und in der Kunst der Griechen und Römer ist nicht tierische Plumpheit, sondern unbefangne Natürlichkeit, liberale Menschlichkeit, und republikanische Offenheit. Das Gefühl echter Scham war bei keinem Volke so einheimisch, und gleichsam angeboren, wie bei den Griechen. Der Quell der echten Scham ist sittliche Scheu, und Bescheidenheit des Herzens. Falsche Scham hingegen entspringt aus tierischer Furcht, oder aus künstlichem Vorurteil. Sie gibt sich durch Stolz und Neid zu erkennen. Ihr verstecktes und heuchlerisches Wesen verrät ein tiefes Bewußtsein von innerm Schmutz. Ihre unechte Delikatesse ist die häßliche Schminke lasterhafter Sklaven, der weibliche Putz entnervter Barbaren.

Wichtiger scheinen die Einwürfe wider die Moralität der Griechischen Poesie. Wer wollte wohl das beschönigen oder für gleichgültig halten, was ein rein gestimmtes Gemüt wirklich verletzen muß? – Nur darf, wer hier mitreden will, nicht so übler Laune sein, daß er etwa an der köstlichen Naivität, mit der die Schelmereien des neugebornen Gottes in dem Hymnus auf den Merkur dargestellt werden, ein Ärgernis nähme! – Offenbar enthält die Anklage einzelne wahre Züge, nur der eigentliche Gesichtspunkt, der wahre Zusammenhang, auf den doch alles ankommt, scheint verfehlt zu sein. – Man unterscheide vor allen Dingen wesentliche und zufällige Sittlichkeit und Unsittlichkeit eines Kunstwerks. Wesentlich ästhetisch unsittlich ist nur das wirklich Schlechte, was erscheint, und dessen Eindruck jedes sittlich gute Gefühl notwendig beleidigen muß. Die Erscheinung des Schlechten ist häßlich, und wesentliche ästhetische Sittlichkeit (Sittlichkeit überhaupt ist das Übergewicht der reinen Menschheit über die Tierheit im Begehrungsvermögen) ist daher ein notwendiger Bestandteil der vollkommenen Schönheit. Die Sinnlichkeit der frühern, und die Ausschweifung der spätern Griechischen Poesie sind nicht nur moralische sondern auch ästhetische Mängel und Vergehen. – Es ist aber wahrhaft merkwürdig, wie tief das Attische Volk sein eignes Versinken fühlte, mit welcher Heftigkeit die Athener einzelne üppige Dichter – einen Euripides, einen Kinesias – deshalb beschuldigten und haßten; Dichter, die doch nur ihre eignen Wünsche errieten, oder dem starken reißenden Strome der ganzen Masse folgten.

Es gibt Griechische Fehler, vor denen die modernen Dichter sehr sicher sind. Eine zahme Kraft durch den gewaltsamsten Zwang in guter Zucht und Ordnung halten, ist eben kein großes Kunststück. Wo aber die Neigungen nicht unbeschränkt frei sind, da kann es eigentlich weder gute noch schlechte Sitten geben. – Wem der mutwillige Frevel des Aristophanes bloß Unwillen erregt, der verrät nicht allein die Beschränktheit seines Verstandes, sondern auch die Unvollständigkeit seiner sittlichen Anlage und Bildung. Denn die gesetzlose Ausschweifung dieses Dichters ist nicht bloß durch schwelgerische Fülle des üppigsten Lebens verführerisch reizend, sondern auch durch einen Überfluß von sprudelndem Witz, überschäumenden Geist, und sittlicher Kraft in freiester Regsamkeit, hinreißend schön und erhaben. Zufällig ästhetisch unsittlich ist dasjenige, dessen Schlechtheit nicht erscheint, was aber seiner Natur nach, unter gewissen subjektiven Bedingungen des Temperaments, und der Ideenassoziation Veranlassung zu einer bestimmten unsittlichen Denkart oder Handlung werden kann. – Welches noch so Treffliche könnte nicht durch zufällige Umstände verderblich werden? Nur der absoluten Nullität geben wir das zweideutige Lob völliger Unschädlichkeit. – Das Kunstwerk ist gar nicht mehr vorhanden, wenn seine Organisation zerstört, oder nicht wahrgenommen wird, und die Wirkung des aufgelösten Stoffs geht den Künstler nichts mehr an. Überdem sind wir gar nicht berechtigt, wissenschaftliche Wahrheit von dem Dichter zu erwarten. Der Tragiker kann es oft gar nicht vermeiden, Verbrechen zu beschönigen. Er bedarf starker Leidenschaften und schrecklicher Begebenheiten, und er soll doch schlechthin die Sitten seiner Handelnden so erhaben und schön darstellen, als das Gesetz des Ganzen nur immer erlauben will. Wer aber durch das Beispiel eines Orestes, einer Phädra, zu Verbrechen verleitet wird, der hat wahrlich sich selbst allein so gut die Schuld beizumessen, als wer sich eine üppige Buhlerin, einen geistreichen Betrüger, einen witzigen Schmarotzer der Komödie zum Muster nehmen wollte! Ja der Dichter selbst kann eine unsittliche Absicht haben, und sein Werk dennoch nicht unsittlich sein.

Unstreitig hat die Leidenschaftlichkeit der entarteten Tragödie, der Leichtsinn der Komödie, die Üppigkeit der spätern Lyrik den Fall der Griechischen Sitten beschleunigt. Durch die bloße Rückwirkung der darstellenden Kunst wurde die ohnehin schon entschiedene sittliche Entartung der Masse dennoch verstärkt, und sank mit verdoppelter Geschwindigkeit. Dies gehört aber nur für die Gerichtsbarkeit der politischen Würdigung, welche das vollständige Ganze der menschlichen Bildung umfaßt. Die ästhetische Beurteilung hingegen isoliert die Bildung des Geschmacks und der Kunst aus ihrem Kosmischen Zusammenhange, und in diesem Reiche der Schönheit und der Darstellung gelten nur ästhetische und technische Gesetze. Die politische Beurteilung ist der höchste aller Gesichtspunkte: die untergeordneten Gesichtspunkte der moralischen, ästhetischen und intellektuellen Beurteilung sind unter sich gleich. Die Schönheit ist ein ebenso ursprünglicher und wesentlicher Bestandteil der menschlichen Bestimmung als die Sittlichkeit. Alle diese Bestandteile sollen unter sich im Verhältnisse der Gesetzesgleichheit (Isonomie) stehn, und die schöne Kunst hat ein unveräußerliches Recht auf gesetzliche Selbständigkeit (Autonomie). Diesem Fundamentalgesetze muß auch die herrschende Kraft, welche das Ganze der menschlichen Bildung lenkt und ordnet, getreu bleiben: sonst vernichtet sie selbst den Grund, worauf sich das Recht ihrer Herrschaft allein stützt. Es ist die Bestimmung des politischen Vermögens, die einzelnen Kräfte des ganzen Gemüts, und die Individuen der ganzen Gattung zur Einheit zu ordnen. Die politische Kunst darf zu diesem Zwecke die Freiheit der Einzelnen beschränken, ohne jedoch jenes konstitutionelle Grundgesetz zu verletzen; aber nur unter der Bedingung, daß sie die fortschreitende Entwicklung nicht hemmt, und eine künftige vollendete Freiheit nicht unmöglich macht. Sie muß gleichsam streben, sich selbst überflüssig zu machen.

Wie sehr man die Gränzen der poetischen Sphäre zu verkennen pflege, können auch die Anmaßungen der Korrektheit bestätigen. Wenn der kritische Anatom die schöne Organisation eines Kunstwerks erst zerstört, in elementarische Masse analysiert, und mit dieser dann mancherlei physische Versuche anstellt, aus denen er stolze Resultate zieht: so täuscht er sich selbst auf eine sehr handgreifliche Weise: denn das Kunstwerk existiert gar nicht mehr. Es gibt kein Gedicht, aus welchem man auf diese Art nicht innre Widersprüche herausrechnen könnte: aber innre Widersprüche, welche nicht erscheinen, schaden der technischen Wahrheit nicht; sie sind poetisch gar nicht vorhanden. Ältere Französische und Engländische Kritiker vorzüglich haben ihren Scharfsinn an solche verkehrte Spitzfindigkeiten häufig verschwendet, und ich weiß nicht, ob sich im Lessing nicht noch hie und da Erinnerungen an jene Manier finden sollten. Überhaupt glaube ich, bei aller Achtung vor der Theorie, daß man in der Ausübung mit dem Gefühl des Schicklichen weiter kommt, als mit der Theorie desselben. Die Vermutung, daß die Griechen andern Völkern an jenem Gefühl wohl ein wenig überlegen gewesen sein möchten, muß uns im Tadeln wenigstens sehr vorsichtig machen.

Ebenso Unrecht haben die passionierten Freunde der Korrektheit, wenn sie nach dem Prinzip der Virtuosität, ohne Rücksicht auf Schönheit, ein Maximum von Künstlichkeit fordern; oder wenn sie beschränkte, aber nicht unnatürlich gemischte, sondern ursprünglich echte, und in ihrer beschränkten Richtung vollendete Dichtarten schlechthin tadeln. Die Kunst ist nur das Mittel der Schönheit, und jede natürliche Dichtart, in welcher dieser Zweck, wenngleich unter gewissen Schranken, erreicht werden kann, ist an ihrer Stelle zweckmäßig. An Maß der Stärke und des Umfangs findet freilich unter den echten Dichtarten ein sehr großer Unterschied statt; aber nur die monströsen Mischungen, und die unreifen Arten, wenn sie aus der Schwäche des Künstlers entspringen, und nicht in dem notwendigen Stufengang der Bildung gegründet sind, verdienen unbedingten Tadel.

Ein merkwürdiges Beispiel, wie sehr man gegen die unmerklichen aber mächtigen Einflüsse des Subjektiven auf ästhetische Urteile auf der Hut sein müsse, geben auch die gewöhnlichen Einwürfe wider die Sentenzen und vorzüglich wider die Behandlung des Schicksals in der Attischen Tragödie. Die wissenschaftliche Bildung der Griechen war im Ganzen sehr weit hinter der unsrigen zurück, und der dramatische Dichter mußte mit Schonung philosophieren, um popular zu bleiben. Daher sind die philosophischen Sentenzen des tragischen Chors fast immer unbestimmt und verworren, sehr oft trivial, und nicht selten grundfalsch. Gewiß ließen sich auch durch einen ähnlichen chymischen Prozeß, wie ich ihn schon oben beschrieben habe, aus manchen von ihnen sittliche Grundirrtümer folgern, welche, wenn sie konsequent durchgeführt würden, mit der reinsten Sittlichkeit nicht verträglich sein würden. Ich muß noch einmal wiederholen, daß alles, was nicht erscheint, jenseits des ästhetischen Horizonts gelegen sei. Auf die Reichhaltigkeit, Richtigkeit und vollendete Bestimmtheit des Gedankens kommt in der Dichtkunst eigentlich gar nichts an. Das philosophische Interesse ist von dem Grade der intellektuellen Bildung des empfangenden Subjekts abhängig, und also lokal und temporell. Nur die Gesinnung muß an sich so erhaben und schön, als die Bedingungen der technischen Richtigkeit erlauben, und an ihrer Stelle vollkommen zweckmäßig sein. Die Rückkehr in sich selbst muß durch ein vorhergegangenes Herausgehn aus sich selbst veranlaßt werden; die Betrachtung muß motiviert sein, und sie muß streben, den Streit der Menschheit und des Schicksals zu schlichten, und das Gleichgewicht des Ganzen zu tragen. Daß das schöne Gefühl seine Ahndungen über göttliche Dinge in einer gegebnen Bildersprache äußert, das kann in der Wissenschaft vielleicht unendliches Unheil anstiften, der darstellenden Kunst aber dürfte es wohl eher günstig als nachteilig sein.

Die Behandlung des Schicksals in den Tragödien des Äschylus läßt noch eine größere Eintracht zu wünschen übrig. Im Sophokles aber ist die Befriedigung immer so vollkommen, als es nur sein kann, ohne die dichterische Wahrheit – die innre Möglichkeit – zu vernichten. Ist der endliche Beschluß des Ganzen auch kein glänzender Sieg der Menschheit, so ist es doch wenigstens ein ehrenvoller Rückzug. Aber freilich mischt er nichts in seine Darstellung, was gar nicht dargestellt werden, nicht erscheinen kann. Nicht durch die geglaubte Göttlichkeit der Natur jenseits des ewigen Vorhanges, den kein Sterblicher durchschauen kann; sondern durch die sichtbare Göttlichkeit des Menschen sucht er jeden Mißlaut aufzulösen, und eine vollständige Befriedigung zu gewähren, – Das Reich Gottes liegt jenseits des ästhetischen Horizonts, und ist in der Welt der Erscheinung nur ein leerer Schatten ohne Geist und Kraft. In der Tat, der Dichter, welcher es wagt, durch empörende Schlechtheit, oder durch ein empörendes Mißverhältnis des Glücks und der Güte unsern Unwillen zu erregen, und sich dann durch die dürftige Befriedigung, welche der Anblick bestrafter Bosheit gewährt, oder gar durch eine Anweisung auf jene Welt aus dem Handel zu ziehn glaubt, verrät ein Minimum von künstlerischer Weisheit.

»Es ist wahr,« könnte man denken, »eine uralte Tradition sagt, und wiederholt noch immer, die Nachahmung der Griechen sei das einzige Mittel, echte schöne Dichtkunst wiederherzustellen. Eine lange Erfahrung hat sie durch die vielfältigsten, sämtlich mißglückten Versuche widerlegt. Man durchlaufe nur in irgendeiner Bibliothek (denn da ist ihre eigentliche Heimat) die große Zahl der künstlichen Nachbildungen, die nach jenen Mustern verfertigt sind. Sie alle sind früher oder später eines kläglichen Todes gestorben, Schattenwesen ohne Bestandheit und eigne Kraft. Grade diejenigen modernen Gedichte, welche mit dem Griechischen Stil am schneidendsten kontrastieren, leben und wirken bei allen ihren ekzentrischen Fehlern noch immerfort in jugendlicher Kraft, weil sie voll genialischer Originalität sind.«

Die Schuld liegt nicht an der Griechischen Poesie, sondern an der Manier und Methode der Nachahmung, welche notwendig einseitig ausfallen muß, solange nationelle Subjektivität herrscht, solange man nur nach dem Interessanten strebt. Nur der kann die Griechische Poesie nachahmen, der sie ganz kennt. Nur der ahmt sie wirklich nach, der sich die Objektivität der ganzen Masse, den schönen Geist der einzelnen Dichter, und den vollkommnen Stil des goldnen Zeitalters zueignet.

Die Trennung des Objektiven und des Lokalen in der Griechischen Poesie ist unendlich schwer. Beides ist nicht in für sich bestehende Massen abgesondert, sondern durchgängig ineinander verschmolzen. Bis in die feinsten Zweige des vielästigen Baums verbreitet sich das Objektive; allenthalben aber ist demselben etwas Individuelles als Element und Organ beigemischt. Bis jetzt hat man nur zu oft das Individuelle der Griechischen Formen und Organe nachgemacht. Man hat die Alten modernisiert, indem man das Prinzip des Interessanten auf ihre Poesie übertrug; indem man der Griechischen Kunsttheorie, oder einzelnen Lieblingsdichtern die Auktorität beilegte, welche nur dem Geist der ganze Masse zukommt, oder wohl eine noch größere Auktorität, als überhaupt mit den Rechten des Genies, des Publikums und der Theorie bestehen kann.

Das ältere didaktische Gedicht der Griechen, wie die Theogonien, die Werke der Physiologen und Gnomiker, findet nur im mythischen Zeitalter der Poesie seine eigentliche Stelle. Denn da hat sich die Philosophie vom Mythus, aus dem sie entsprang, noch nicht völlig losgewickelt und bestimmt geschieden; da ist Rhythmus das natürliche Element der Tradition, und poetische Sprache, vor der Bildung der Prosa das allgemeine Organ jeder höhern geistigen Mitteilung. Mit diesem vorübergehenden Verhältnis fällt auch die Natürlichkeit und Rechtmäßigkeit dieser Formen weg und für das spätere didaktische Gedicht der Griechen im gelehrten Zeitalter der Kunst blieb nur das ganz ungültige Prinzip übrig: die Künstlichkeit des eitlen Virtuosen in schwierigem Stoff absichtlich sehn zu lassen. – Es wird damit nicht die Möglichkeit eines eigentlichen schönen didaktischen Gedichts in gutem Stil – einer idealischen Darstellung eines schönen didaktischen Stoffs in ästhetischer Absicht – geleugnet, und es ist hier nicht der Ort auszumachen, ob einige platonische Gespräche poetische Philosopheme oder philosophische Poeme sind. Aber genug! unter den eigentlich sogenannten didaktischen Gedichten der Griechen gibt es keine solche.

Auch das Griechische Epos ist nur eine lokale Form, von der man sich seltsame Dinge weiß gemacht hat. Diese unreife Dichtart ist nur in dem Zeitalter an ihrer Stelle, wo es noch keine gebildete Geschichte und kein vollkommnes Drama gibt; wo Heldensage die einzige Geschichte, wo die Menschlichkeit der Götter und ihr Verkehr mit den Heroen allgemeiner Volksglaube ist. Es läßt sich allerdings wohl begreifen, daß ein Volk vor Alter wieder kindisch werden könne: aber nur weil die epische Poesie der Griechen im mythischen Zeitalter eine so hohe Blüte erreicht hatte, haben selbst die epischen Kunststücke der Alexandriner und Römer doch noch einigen Grund und Boden. Poesie und der Mythus war der Keim und Quell der ganzen antiken Bildung; die Epopöe war die eigentliche Blüte der mythischen. – Einen bestimmten Stoff, gebildete Werkzeuge fand selbst der gelehrte Dichter der spätern Zeit schon vor. Die Empfänglichkeit war vorbereitet alles war organisiert, nichts durfte erzwungen werden. – Die modernen Epopöen hingegen schweben ohne allen Anhalt isoliert im leeren Raume. Große Genies haben herkulische Kraft an den Versuch verschwendet, eine epische Welt, einen glücklichen Mythus aus nichts zu erschaffen. Die Tradition eines Volks – diese nationelle Fantasie – kann ein großer Geist wohl fortbilden und idealisieren, aber nicht metamorphosieren oder aus Nichts erschaffen. Die Nordische Fabel zum Beispiel gehört unstreitig unter die interessantesten Altertümer: der Dichter aber, welcher sie in Gang bringen wollte, würde entweder allgemein und flach bleiben müssen, oder wenn er individuell und bestimmt sein wollte, in Gefahr geraten, sich selbst kommentieren zu müssen.

Umsonst hoffen wir auf einen Homerus; und warum sollten wir gerade so ausschließend einen Virgilius wünschen, dessen künstlicher Stil vom vollkommnen Schönen so weit entfernt ist? – Alle Versuche, das Romantische Gedicht der Griechischen und Römischen Epopöe ähnlich zu organisieren, sind mißlungen. Tasso ist zum Glück auf halbem Wege stehn geblieben, und hat sich von der Romantischen Manier nicht sehr weit entfernt. Und doch sind es nur einzelne Stellen, gewiß nicht die Komposition des Ganzen, welche ihn zum Lieblingsdichter der Italiäner machen. Schon ganz frühe gesellt sich zu der gigantischen Größe, zu dem fanatistischen Leben des romantischen Gedichts eine leise Persiflage, die oft auch laut genug wird. Dies ist der beständige Charakter dieser Dichtart vom Pulci bis zum Ricciardetto geblieben; und Wieland, der die Gradationen dieser launichten Mischung fast in jedem seiner romantischen Gedichte verschieden, immer überraschend neu und immer glücklich nuanciert hat, ist ihr selbst doch in allen durchgängig treu geblieben. Gewiß war dies nicht zufällig. Die romantische Fabel und das romantische Kostüm hätten in ihrer ursprünglichen Bildung rein menschlicher und schöner sein müssen, um der glückliche Stoff eines tragischen, schön und einfach geordneten Epos werden zu können. Wie vieles hat Tasso nicht beibehalten, was den Forderungen der modernen Kritiker selbst an eine regelmäßige Epopöe nicht entspricht? – Nur diejenigen Dichter, welche sich aus der gegebnen Sphäre der nationellen Fantasie nicht ganz entfernen, leben wirklich im Munde und im Herzen ihrer Nation. Dichter hingegen welche ganz willkürlich verfahren, trifft gewöhnlich das traurige Los, in Bibliotheken zu modern, bis sich einmal – seltner Fall! – ein Litterator findet, der Sinn fürs Schöne hat, und das echte Talent was hier vergraben wurde, zu finden und zu würdigen weiß. Und sind denn auch die willkürlichsten Versuche geglückt, die romantische Fabel, oder die christliche Legende in einen idealischen schönen Mythus zu metamorphosieren? – O nein!

»Naturam expelles furca; tamen usque recurret.«

Es war und blieb unmöglich, der barbarischen Masse eine Griechische Seele einzuhauchen. Wenn es dem Wunderbaren, der Kraft, dem reizenden Leben an glücklichem Ebenmaß, an freier Harmonie, kurz an schöner Organisation fehlt, so kann tragische Spannung wohl erregt, aber ohne Monotonie und Frost nicht lange genug erhalten, und in einfacher Reinheit über ein großes Ganzes gleichmäßig verbreitet werden. Ekzentrische Größe hat eine unwiderstehliche Sehnsucht zu dem ihr entgegengesetzten Extrem, und nur durch eine wohltätige Vereinigung mit der Parodie bekommt tragische Fantasterei Haltung und Bestandheit. Die seltsame Mischung des Tragischen und Komischen wird die eigentümliche Schönheit einer neuen, reizenden Zwitterbildung. Diese Zusammensetzung ist auch keineswegs ursprünglich monströs, und an sich unerlaubt. Sie bleibt zwar hinter den reinen Arten vorzüglich der tragischen an Kraft und Zusammenhang sehr weit zurück: aber keine Form, in welcher der Zweck der darstellenden Kunst – die Schönheit – erreicht werden kann; keine Form, welche nicht mechanisch erkünstelt, sondern durch die plastische Natur organisch erzeugt wurde ist darum schlechthin verwerflich, weil die Gränzen, welche jede Form beschränken, hier etwas enger gezogen sind. Selbst die Spielart hat zwar geringere Ansprüche, aber dennoch volles Bürgerrecht im Reiche der Kunst. Es ist überraschend, wie sehr die reizendste Blüte der modernen Poesie – so verschieden die äußre lokale Form auch sein mag – im wesentlichen Charakter mit einer Spielart der Griechischen übereinstimmt. Nach Griechischer Technologie ist nämlich die Romanze ein satyrisches Epos. Im Attischen Drama wurde die ursprüngliche rohe Energie der wirklichen Natur, in welcher die entgegengesetzten Elemente durchgängig ineinander verschmolzen sind, in die tragische und komische Energie getrennt, und diese dann von neuem so gemischt, daß das Tragische ein geringes Übergewicht hatte: denn bei völligem Gleichgewicht würden die beiden entgegengesetzten Kräfte durch ihr Zusammentreffen sich selbst aufheben. Daraus entstand die Spielart der satyrischen Dramen, von denen sich nur ein einziges von mittelmäßiger Kunst und in schlechtem Stil erhalten hat. Die dramatischen Skizzen der Dorier haben sich nie zur Stufe jener Trennung erhoben, und der natürliche fröhliche Witz der Dorier war nur subjektiv, lokal und lyrisch, nie objektiv und eigentlich dramatisch. Doch war in der noch gemischten und rohen Energie der Dorischen Mimen das Komische überwiegend. Hätten wir noch den Homerischen »Margites«, einige satirische Dramen des Pratinas, oder Äschylus, einige Ergießungen der Dorischen Laune in Mimen des Sophron, oder in Rhintonischen Hilarotragödien, so besäßen wir in ihnen wahrscheinlich einen Maßstab der Würdigung, oder wenigstens Veranlassung zu einer interessanten Parallele mit den reizenden Grotesken des göttlichen Meister Ariosto, mit der fröhlichen Magie der Wielandschen Fantasie. – Die ernsthaften Männer, welche den fantastischen Zauber der Romanze zum tragischen Epos idealisieren wollten, haben also das Schickliche verfehlt. Auch hat sich die epische Thalia der Modernen – die romantische Avantüre grausam an ihren Verächtern gerächt: denn sie haben vor den Augen des gesamten Publikums, ohne im mindsten Unrat zu merken, sich selbst komödiert.

Ähnliche Schwierigkeiten, wie im Epos, hat der Gebrauch des mythischen Stoffs in der Tragödie. – Wo es noch einheimische Fabel gibt, da ist sie nicht angemessen. Eine fremde oder veraltete hat nur die Wahl zwischen Flachheit und gelehrter Unverständlichkeit. Der historische oder erfundne Stoff fesselt den Dichter und das Publikum ungemein; durch seine schwere Last erdrückt er gleichsam die freie Bildung des Ganzen. Wie vieler Umstände bedarf es nicht, das Publikum nur erst zu orientieren, und mit dem unbekannten Fremdling vorläufig bekannt zu machen? – Der Griechische Tragiker durfte bei seinem allgemein bekannten Mythus gleich zum Zweck gehn, und die freiere Aufmerksamkeit des Publikums ward von selbst mehr auf die Form gelenkt, klebte nicht so sehr sklavisch an der schweren Masse. Es ist in der Tat eine wahrhaft herkulische Arbeit, einen noch ganz rohen Stoff durchgängig zu poetisieren, den kleinlichen Detail in einfache und große Umrisse zu erweitern, und vorzüglich die unauflösliche Mischung der Natur nach der bestimmten idealischen Richtung der Tragödie zu reinigen. Das notwendige Gleichgewicht zwischen Form und Stoff ist dem modernen Tragiker so unendlich erschwert worden, daß sich beinahe Zweifel regen könnten, ob auch eine eigentlich schöne Tragödie noch möglich sei? – Überdem wird in unsrer künstlichen Bildung jede eigentümliche Richtung verwirrt und verwischt, und doch scheint es notwendig, daß die Natur selbst mit starker Hand dem Dramatiker seine Bahn vorzeichne, und ihm die Trennung des Tragischen und Komischen erleichtre. Ich freue mich auch hier ein deutsches Beispiel anführen zu können, welches große Hoffnungen erregt, und alle kleinmütigen Zweifel niederschlägt. Schillers ursprüngliches Genie ist so entschieden tragisch, wie etwa der Charakter des Äschylus, dessen kühne Umrisse die bildende Natur in einem Augenblick hoher Begeistrung plötzlich hingeworfen zu haben scheint. Er erinnert daran, daß es den Griechen unmöglich schien, derselbe Dichter könne zugleich Tragödien und Komödien dichten. Zwar ist im »Don Carlos« das mächtige Streben nach Charakterschönheit, und schöner Organisation des Ganzen durch das kolossalische Gewicht der Masse, und den künstlichen Mechanismus der Zusammensetzung niedergedrückt, oder doch aufgehalten: aber die Stärke der tragischen Energie beweist nicht nur die Größe der genialischen Kraft, sondern die vollkommne Reinheit derselben zeugt auch von dem Siege, welchen der Künstler über den widerstrebenden Stoff davongetragen hat.

Es ließe sich in der Tat leicht ein Buch über die Verwechslung des Objektiven und Lokalen in der Griechischen Poesie schreiben. Ich begnüge mich zu dem schon Bemerkten nur noch einige kurze Andeutungen hinzuzufügen.

Zur schönsten Blütezeit der Griechischen Lyrik lag die Prosa und die öffentliche Beredsamkeit noch in der Wiege. Musik, und eine rhythmische und mythische Dichtersprache waren das natürliche Element für den Erguß schöner männlicher oder weiblicher Empfindungen, und auch das eigentliche Organ festlicher Volksfreude und öffentlicher Begeistrung. – Der lyrische Dichter überhaupt muß wie der Griechische seine ursprüngliche Sprache zu reden scheinen; der leiseste Verdacht, daß er vielleicht in einem erborgten Staatskleide glänze, zerstört alle Täuschung und Wirkung. Mag er den Zustand eines einzelnen Gemüts, oder eines ganzen Volks darstellen: er muß eine echte Befugnis haben zu reden; der dargestellte Zustand muß nicht durchaus erkünstelt, sondern in einem schon bekannten Gegenstande wenigstens eine wahre Veranlassung finden, so unbeschränkt auch die Freiheit des Dichters in der Behandlung desselben bleibt: denn ein durchaus erfundner lyrischer Zustand könnte für sich nur das abgerißne Bruchstück eines Drama sein; er müßte nämlich einem gleichfalls durchaus erfundnen und unbekannten Gegenstande inhärieren, dessen Darstellung schon in die dramatische Sphäre eingreift.

Das alte Griechische Epigramm findet nebst dem Apolog seine eigentliche Stelle im mythischen Zeitalter der Poesie: das spätere hingegen im Zeitalter der Künstelei und des Verfalls.

Wenn das Interesse des Idylls im Stoff und im Kontrast desselben mit der individuellen umgebenden Welt des Publikums liegt, so ist das absolute schlechthin verwerfliche ästhetische Heteronomie. Überdem ist die epische oder dramatische Ausführung einer ursprünglich lyrischen Stimmung und Begeistrung, entweder eine Verkehrtheit des Künstlers, oder ein sichres Kennzeichen von dem allgemeinen Verfall der Kunst überhaupt. Ist von schönen Gemälden des ländlichen und häuslichen Lebens die Rede, so ist Homerus der größte aller Idyllendichter. Die künstlichen Kopien der Natürlichkeit hätte man aber immer den Alexandrinern überlassen mögen.

Vossens Übersetzung des Homer ist ein glänzender Beweis, wie treu und glücklich die Sprache der Griechischen Dichter im Deutschen nachgebildet werden kann. Sein Ideal ist unstreitig so reiflich überlegt, als vollkommen ausgeführt. Aber wehe dem Nachahmer der Griechen, der sich durch den großen Übersetzer verführen ließe! Wenn er hier, wo sie am innigsten verschmolzen sind, den objektiven Geist von der lokalen Form nicht zu scheiden weiß, so ist er verloren. Das unsterbliche Werk des größten historischen Künstlers der Modernen, die Schweizergeschichte von Johannes Müller ist im größten Römischen Stil entworfen und ausgeführt. Im Einzelnen atmet das Werk durch und durch echten Sinn der Alten: im Ganzen aber verfällt es dennoch wieder ins Manirierte, weil neben dem klassischen Geist auch die antike Individualität affektiert ist. – Klopstock hat in den »Grammatischen Gesprächen« auf eine andre von der Vossischen ganz verschiedne Art ebenso klar bewiesen, wie viel die Deutsche Sprache in der Nachbildung des Griechischen und Römischen Ausdrucks leisten könne. Die Beispiele sind so mannigfaltig, als jedes in seiner Art bewunderungswürdig vollkommen. Ihre einfache Vortrefflichkeit besteht darin, im echtesten, reinsten, kraftvollsten und gefälligsten Deutsch der Ursprache so treu zu sein als möglich. Beide Arten scheinen mir für die allgemeine Verbreitung des echten Geschmacks gleich unentbehrlich. Erst wenn wir von mehrern der größten alten Dichter eine klassische Übersetzung in Vossischer Art, und eine in Klopstockscher haben werden, läßt sich ein großer Einfluß und eine durchgängige Umbildung des allgemeinen Geschmacks erwarten.

Man darf der Deutschen Sprache zu der, wenngleich entfernten, Ähnlichkeit ihrer rhythmischen Bildung mit dem Griechischen Rhythmus Glück wünschen. Nur täusche man sich nicht über die Gränzen dieser Ähnlichkeit! So kann zum Beispiel nach Griechischen Grundsätzen ein Hexameter, welcher den Trochäus als wesentlichen Bestandteil aufnimmt, durchaus kein episches Metrum sein, dessen Richtung notwendig ganz unbestimmt sein muß, damit auch seine Dauer ganz unbeschränkt sein könne. Die endlose Bewegung in einer bestimmten Richtung, der epische Gebrauch eines lyrischen Rhythmus, erzeugt notwendig unendliche Monotonie, und ermüdet endlich auch die aufmerksamste Teilnahme. – Die musikalischen Prinzipien des antiken Rhythmus scheinen überhaupt von denen des modernen so absolut verschieden, wie der Charakter der Griechischen Musik, und das Griechische Verhältnis der Poesie und Musik von dem unsrigen. Sollte auch der Griechische Rhythmus unter gewissen Voraussetzungen in einem lokalen Element objektiv sein, so kann doch das Individuelle für uns keine Auktorität haben, und am wenigsten die Theorie der Griechischen Musiker (allerdings ein unentbehrliches Hülfsmittel zur richtigen Erklärung der Praxis, zum Studium des Rhythmus selbst) unsre Norm sein.

Noch ist ein gewisses unechtes Phantom nicht ganz verschwunden, welches von denen als die eigentliche Klassizität verehrt wird, welche durch ein künstliches Schnitzwerk gedrechselter Redensarten unsterblich zu werden hoffen. Aber nichts ist weniger klassisch als Künstelei, überladner Schmuck, frostige Pracht, und ängstliche Peinlichkeit. Die überfleißigen Werke der gelehrten Alexandriner fallen schon ins Zeitalter des Verfalls und der Nachahmung. Die trefflichsten Produkte der besten Zeit hingegen sind zwar mit Sorgfalt und scharfem Urteil ausgeführt, und auch mit Besonnenheit, aber doch in höchster, ja trunkner Begeistrung entworfen. Die große Zahl der Werke der größten Dramatiker beweiset schon, daß sie nicht ängstlich gedrechselt, sondern frei gedichtet wurden; daß die Länge der Zeit und die Masse der aufgewandten Arbeit nicht der Maßstab für den Wert eines Kunstwerks sei.

Nur einige wenige Ausnahmen unter den modernen Dichtern kann man nach dem Grade der Annäherung zum Objektiven und Schönen würdigen. Im Ganzen aber ist noch immer das Interessante der eigentliche moderne Maßstab des ästhetischen Werts. Diesen Gesichtspunkt auf die Griechische Poesie übertragen, heißt sie modernisieren. Wer den Homer nur interessant findet, der entweiht ihn. Die Homerische Welt ist ein ebenso vollständiges als leichtfaßliches Gemälde; der ursprüngliche Zauber der Heldenzeit wird in dem Gemüte, welches mit den Zerrüttungen der Mißbildung bekannt ist, ohne doch den Sinn für Natur ganz verloren zu haben, unendlich erhöht; und ein unzufriedner Bürger unsres Jahrhunderts kann leicht in der Griechischen Ansicht jener reizenden Einfalt, Freiheit und Innigkeit alles zu finden glauben, was er entbehren muß. Eine solche Werthersche Ansicht des ehrwürdigen Dichters ist kein reiner Genuß des Schönen, keine reine Würdigung der Kunst. Wer sich am Kontrast eines Kunstwerks mit seiner individuellen Welt ergötzt, der travestiert es eigentlich in Gedanken, seine Stimmung mag nun scherzhaft oder auch sehr ernsthaft sein. Am wenigsten darf die Auktorität, auf welche nur die vollständige, vollkommne und schöne Anschauung Ansprüche hat, auf die einseitige bloß interessante Ansicht eines Teils derselben übertragen werden.

Nicht dieser und jener, nicht ein einzelner Lieblings-Dichter, nicht die lokale Form oder das individuelle Organ soll nachgeahmt werden: denn nie kann ein Individuum, »als solches«, allgemeine Norm sein. Die sittliche Fülle, die freie Gesetzmäßigkeit, die liberale Humanität, das schöne Ebenmaß, das zarte Gleichgewicht, die treffende Schicklichkeit, welche mehr oder weniger über die ganze Masse zerstreut sind; den vollkommnen Stil des goldnen Zeitalters, die Ächtheit und Reinheit der Griechischen Dichtarten, die Objektivität der Darstellung; kurz den Geist des Ganzen – die reine Griechheit soll der moderne Dichter welcher nach echter schöner Kunst streben will, sich zueignen.

Man kann die Griechische Poesie nicht richtig nachahmen, solange man sie eigentlich gar nicht versteht. Man wird sie erst dann philosophisch erklären und ästhetisch würdigen lernen, wenn man sie in Masse studieren wird: denn sie ist ein so innig verknüpftes Ganzes, daß es unmöglich ist, auch nur den kleinsten Teil außer seinem Zusammenhange isoliert richtig zu fassen und zu beurteilen. Ja die ganze Griechische Bildung überhaupt ist ein solches Ganzes, welches nur in Masse erkannt und gewürdigt werden kann. Außer dem ursprünglichen Talent des Kunstkenners muß der Geschichtsforscher der Griechischen Poesie die wissenschaftlichen Grundsätze und Begriffe einer objektiven Philosophie der Geschichte und einer objektiven Philosophie der Kunst schon mitbringen, um die Prinzipien und den Organismus der Griechischen Poesie suchen und finden zu können. Und auf diese kommt doch eigentlich alles an.

Es ist wahr, einige große Dichter der Alten sind auch unter uns beinahe einheimisch; und unter denen, welche leichter gefaßt, und auch isoliert, wenigstens einigermaßen verstanden werden konnten, hat das Publikum gewiß aufs glücklichste gewählt. Andre, für deren heterogene Individualität in Form und Organen sich in der ganzen subjektiven Sphäre der Modernen keine Analogie fand, welche ohne Kenntnis der Prinzipien und des Organismus der ganzen Griechischen Poesie in Masse durchaus unverständlich bleiben mußten, deren idealische Höhe die Engigkeit auch des bessern herrschenden Geschmacks zu weit übertraf, konnten nicht populär werden. Gewiß nicht für jeden Liebhaber, der vielleicht nur sich allein durch den Genuß des Schönen bilden will, würde eine vollendete Kenntnis der Griechischen Kunst möglich oder schicklich sein. Aber von dem Dichter, dem Kenner, dem Denker, dem es ein Ernst ist, echte schöne Kunst nicht bloß zu kennen und zu üben, sondern auch zu verbreiten, darf man es fordern, daß er keine Schwierigkeit, welche ein unentbehrliches Mittel seines Zwecks ist, scheuen soll. – Die Werke des Pindarus, des Äschylus, des Sophokles, des Aristophanes werden nur wenig studiert, weniger verstanden. Das heißt, man ist mit den vollkommensten Dichtarten der Griechischen Poesie, mit der Periode des poetischen Ideals, und mit dem goldnen Zeitalter des Griechischen Geschmacks beinahe völlig unbekannt.

Überdem muß auch in der reichhaltigsten Ansicht jener populären Lieblingsdichter, ohne eine bestimmte Kenntnis ihres eigentlichen Zusammenhanges, ihrer richtigen Stelle im Ganzen etwas Schiefes übrig bleiben. Homers Gedichte sind der Quell aller Griechischen Kunst, ja die Grundlage der Griechischen Bildung überhaupt, die vollkommenste und schönste Blüte des sinnlichsten Zeitalters der Kunst. Nur vergesse man nicht, daß die Griechische Poesie höhere Stufen der Kunst und des Geschmacks erreicht hat. – Wenn es für das Unersetzliche einen Ersatz gäbe, so könnte uns Horazius einigermaßen über den Verlust der größten Griechischen Lyriker derjenigen Klasse trösten, welche nicht im Namen des Volks die öffentlichen Zustände einer sittlichen Masse darstellten, sondern die schönen Gefühle einzelner Menschen besangen. Zugleich enthält er die köstlichsten von den wenigen ganz eigentümlichen Kunstblüten des echt Römischen Geistes, welche auf uns gekommen sind. Dieser »Lieblingsdichter aller gebildeten Menschen« war von jeher ein großer Lehrer der Humanität und liberalen Gesinnungen. Seine Vaterländischen Oden sind ein ehrwürdiges Denkmal hohen Römersinns, und erinnern daran, daß selbst Brutus die Bürgertugend des Dichters achtete. Seine schöne lyrische Moralität ist ursprünglich, oder doch innig und selbsttätig zugeeignet. Aber den meisten seiner Gesänge fehlt es im Schwanken zwischen dem Griechischen Urbilde und der Römischen Veranlassung an einer leichten Einheit. Auch sollte man auf seine erotischen Gedichte am wenigsten Akzent legen. Zwar finden sich auch in ihnen einzelne Spuren des liebenswürdigen Philosophen, des braven Künstlers; aber im Ganzen sind sie fast immer steif, und auf gut Römisch ein wenig plump. Auch die Wahl der Rhythmen verrät hie und da den Verfall des musikalischen Geschmacks. – Ich kann sogar die übermäßige Bewunderung des Virgilius zwar nicht rechtfertigen, aber doch entschuldigen. Für den Freund des Schönen mag sein Wert gering sein; aber für das Studium des Kunstkenners und Künstlers, bleibt er äußerst merkwürdig. Dieser gelehrte Künstler hat aus dem reichen Vorrat der Griechischen Dichter mit einer Art von Geschmack die einzelnen Stücke und Züge ausgewählt, sie mit Einsicht aneinander gefügt, und mit Fleiß gefeilt, geglättet und geputzt. Das Ganze ist ein Stückwerk ohne lebende Organisation und schöne Harmonie, aber er kann dennoch für den höchsten Gipfel des gelehrten künstlichen Zeitalters der alten Poesie gelten. Zwar fehlt ihm die letzte Rundung und Feinheit der Alexandriner, aber durch die frische Römerkraft seines Dichtertalents übertrifft er die kraftlosen Griechen jenes Zeitalters in ihrem eignen Stil sehr weit. Er ist in diesem an sich unvollkommnen Stil zwar nicht schlechthin vollkommen, aber doch der trefflichste.

Der unglücklichste Einfall, den man je gehabt hat, und von dessen allgemeiner Herrschaft noch jetzt viele Spuren übrig sind, war es: Der Griechischen Kritik und Kunsttheorie eine Auktorität beizulegen, welche im Gebiete der theoretischen Wissenschaft durchaus unstatthaft ist. Hier glaubte man den eigentlichen ästhetischen Stein der Weisen zu finden; einzelne Regeln des Aristoteles, und Sentenzen des Horaz wurden als kräftige Amulette wider den bösen Dämon der Modernheit gebraucht; und selbst die zerlumpte Dürftigkeit der Adepten erregte erst spät einiges Mißtrauen wider die Echtheit des Geheimnisses.

Der Fehlschluß, von dem man ausging, war mit Hurds Worten: »Die Alten sind Meister in der Komposition; es müssen daher diejenigen unter ihren Schriften, welche zur Ausübung dieser Kunst Anleitung geben, von dem höchsten Werte sein.« Nichts weniger! Der Griechische Geschmack war schon völlig entartet, als die Theorie noch in der Wiege lag. Das Talent kann die Theorie nicht verleihn, und nie hat die Griechische Theorie den Zweck und das Ideal des Künstlers bestimmt, welcher den Gesetzen des öffentlichen Geschmacks allein gehorchte. Auch eine vollendete Philosophie der Kunst würde zur Wiederherstellung des echten Geschmacks allein nicht hinreichend sein. Die Griechischen und Römischen Denker waren aber (nach Fragmenten, Nachrichten und der Analogie zu urteilen) so wenig im Besitz eines vollendeten Systems objektiver ästhetischer Wissenschaften, daß nicht einmal der Versuch, der Entwurf, geschweige denn ein stetes Streben nach einem solchen System vorhanden war. Nicht einmal die Gränzen und die Methode waren bestimmt; nicht einmal der Begriff einer allgemeingültigen Wissenschaft des Geschmacks und der Kunst war definiert, ja selbst die Möglichkeit derselben war keineswegs deduziert.

Unläugbar enthalten die kritischen Fragmente der Griechen bedeutende Beiträge zur Erläuterung der Griechischen Poesie, und treffliche Materialien für die künftige Ausführung und Vollendung des Systems. Umständliche Zergliederungen, wie etwa die des Dionysius sind unschätzbar, und auch das kleinste ästhetische Urteil kann sehr großen Wert haben. Die angewandten Begriffe und Bestimmungen bezogen sich auf vollkommne Anschauungen, und würden sich aus reiner Wissenschaft gar nicht wieder ersetzen lassen. Die Urteile standen unter der untrüglichen Leitung eines ursprünglich richtig gestimmten Gefühls, und das Vermögen, schöne Darstellung zu empfangen und zu würdigen, war bei den Griechen fast auf eben die Weise vollkommen und einzig, wie das Vermögen, sie hervorzubringen. Überhaupt ist im theoretischen Teile der ästhetischen Wissenschaft der Wert der spätern Kritiker und vorzüglich im Angewandten und Besondren am größten; im praktischen Teile sind die allerallgemeinsten Grundsätze und Begriffe vorzüglich der frühern Philosophen am schätzbarsten.

Der Quell aller Bildung und auch aller Lehre und Wissenschaft der Griechen war der Mythus. Poesie war die älteste, und vor dem Ursprunge der Beredsamkeit, die einzige Lehrerin des Volks. Die mythische Denkart, daß Poesie im eigentlichen Sinne eine Gabe und Offenbarung der Götter, der Dichter ein heiliger Priester und Sprecher derselben sei blieb für alle Zeiten Griechischer Volksglaube. An ihn schlossen sich die Lehren des Plato, und wahrscheinlich auch des Demokrit über musikalischen Enthusiasmus und Göttlichkeit der Kunst an. Überhaupt hatte der populäre (exoterische) Vortrag der Griechischen Philosophie ein ganz mythisches Kolorit. So wie sich bei uns häufig der Künstler als Gelehrter und Denker geltend zu machen sucht, weil seine eigentümliche Würde vielleicht vor der Menge wenig gelten würde: so pflegte damals noch der Griechische Philosoph sich als Musiker und Poet gleichsam einzuschleichen. Die Platonischen Lehren von der Bestimmung der Kunst sind die trefflichsten Griechischen Materialien zur praktischen Philosophie der Kunst, welche sich auf uns erhalten haben. Die praktische Philosophie der ältesten Griechischen Denker aber war durchaus politisch; und diese Politik war zwar in den Grundsätzen nichts weniger als die Sklavin der Erfahrung, sondern vielmehr durchaus rational, aber im Vortrage und in der Anordnung schloß sie sich durchgängig an das Gegebne und Vorhandne an. Nie hat eigentlich die Griechische Philosophie, wie die Griechische Kunst, die Stufe einer vollständigen Selbstständigkeit der Bildung erreicht, und im Plato vorzüglich ist die Ordnung der ganzen Masse der einzelnen Philosopheme nicht sowohl von innen bestimmt, sondern vielmehr von außen gebildet und entstanden. Um daher nur Platos Lehre von der Kunst zu verstehen, muß man nicht allein den mythischen Ursprung der Griechischen Bildung überhaupt, sondern auch die ganze Masse der politischen, moralischen und philosophischen Bildung der Griechen in ihrem völligen Umfange kennen! – Auch für die Sophisten war nur auf eine andre Weise das öffentlich Geltende die Base, von der alle ihre Lehren, also auch die über das Schöne und die Kunst immer ausgingen, und der Punkt, wohin sie strebten. – Im Aristoteles ist die theoretische Ästhetik noch in der Kindheit, und die praktische ist schon ganz von ihrer Höhe gesunken. Seine Lehre von der Bestimmung der Kunst im achten Buche der »Politik« beweist eine liberale Denkart, und nicht ganz unwürdige Gesinnungen: aber dennoch ist der Gesichtspunkt schon nicht mehr politisch, sondern nur moralisch. In der »Rhetorik« aber, und in den Fragmenten der »Poetik« behandelt er die Kunst nur physisch, ohne alle Rücksicht auf Schönheit, bloß historisch und theoretisch. Wo er gelegentlich ästhetisch urteilt, da äußert er nur einen scharfen Sinn für die Richtigkeit des Gliederbaus des Ganzen, für die Vollkommenheit und Feinheit der Verknüpfung. – Wie häufig sind nicht in ihm, und in den spätern Rhetorikern einzelne ganz unverständliche oder doch äußerst schwer zu entziffernde besondre Beziehungen auf untergegangne Werke, auf uns ganz unbekannte Dinge? Ja das Ganze ist nicht selten in einer individuellen Rücksicht verfaßt. So ist der Hauptgesichtspunkt, nach welchem Quinktilian den Wert der Dichter bestimmt, ihre Tauglichkeit junge Deklamatoren künstlich schwatzen zu lehren. Die individuelle Veranlassung der kritischen Episteln des Horaz, der ganze Inbegriff ihrer speziellen Beziehungen – ihre kosmische Lage ist uns bald ganz, bald größtenteils unbekannt, und bei vielen wahrscheinlichen oder sinnreichen Hypothesen tappen wir dennoch hie und da völlig im dunkeln.

Wenn von allumfassender vollendeter Kenntnis der Griechen die Rede ist, so stehen alle Bestandteile derselben in Wechselwirkung, und das Studium der Griechischen Kunsttheorie ist allerdings ein integranter Teil des ganzen Studiums der Griechischen Bildung überhaupt, oder der ästhetischen Bildung insbesondre. Aber in der Methodenlehre des ganzen Studiums dürfte wohl das der Griechischen Kritik eine sehr späte Stelle erhalten. Man muß schon die ganze Masse, den Organismus und die Prinzipien der Griechischen Poesie kennen, um die Perlen, welche in den kritischen Schriften der Griechen größtenteils noch ungenutzt verborgen liegen, suchen und finden zu können.

Ich bin weit entfernt von den diktatorischen Anmaßungen, den despostischen Reformationen angeblicher Repräsentanten der Menschheit, die so vieles projektieren, wovon keine Silbe in ihren Kahiers steht, so vieles dekretieren, was der öffentliche Volkswille in den Urversammlungen der Menschheit nicht sanktionieren würde. Die Behauptung, daß eine allgemeingültige Wissenschaft des Schönen und der Darstellung, und eine richtige Nachahmung der Griechischen Urbilder, die notwendigen Bedingungen zur Wiederherstellung der echten schönen Kunst sei, ist so wenig willkürlich, daß sie nicht einmal neu ist. Ich begnüge mich mit dem bescheidnen Verdienst, dem Gange der ästhetischen Kultur auf die Spur gekommen zu sein, den Sinn der bisherigen Kunstgeschichte glücklich erraten, und eine große Aussicht für die künftige gefunden zu haben. Vielleicht ist es mir gelungen, einige Dunkelheiten zu erhellen, einige Widersprüche zu lösen, indem ich für jede einzelne auffallende Erscheinung die richtige Stelle im großen Ganzen der ewigen Gesetze der Kunstbildung zu bestimmen suchte. Es kann eine Empfehlung und eine Bestätigung des entworfnen Grundrisses sein, daß nach dieser Ansicht der Streit der antiken und modernen ästhetischen Bildung wegfällt; daß das Ganze der alten und neuen Kunstgeschichte durch seinen innigen Zusammenhang überrascht, und durch seine vollkommne Zweckmäßigkeit völlig befriedigt.

Jedes große, wenngleich noch so ekzentrische Produkt des modernen Kunstgenies ist nach diesem Gesichtspunkt ein echter, an seiner Stelle höchst zweckmäßiger Fortschritt, und so heterogen die äußre Ansicht auch sein mag, eigentlich doch eine wahre Annäherung zum Antiken. Die Notwendigkeit des Stufenganges der allmählichen Entwicklung ist keine Apologie der Schwäche, welche hinter dem Maß der schon erreichten Vortrefflichkeit zurückbleibt, aber eine Erklärung und Rechtfertigung für die Mängel und Ausschweifungen des wahrhaft großen Künstlers, der zwar dem Gange der Bildung vielleicht um einige Schritte zuvoreilte, und ihre Entwicklung beschleunigte, aber doch nicht ganze Stufen überspringen konnte.

Die Bildungsgeschichte der modernen Poesie stellt nichts andres dar, als den steten Streit der subjektiven Anlage, und der objektiven Tendenz des ästhetischen Vermögens und das allmähliche Übergewicht des letztern. Mit jeder wesentlichen Veränderung des Verhältnisses des Objektiven und des Subjektiven beginnt eine neue Bildungsstufe. Zwei große Bildungsperioden, welche aber nicht isoliert aufeinander folgen, sondern wie Glieder einer Kette ineinander greifen, hat die moderne Poesie schon wirklich zurückgelegt; und jetzt steht sie im Anfange der dritten Periode. In der ersten Periode hatte der einseitige Nationalcharakter in der ganzen Masse der ästhetischen Bildung durchgängig das entschiedenste Übergewicht, und nur hie und da regen sich einige wenige einzelne Spuren von der Direktion ästhetischer Begriffe und der Tendenz zum Antiken. In der zweiten Periode herrschte die Theorie und Nachahmung der Alten in einem großen Teil der ganzen Masse: aber die subjektive Natur war noch zu mächtig, um dem objektiven Gesetz ganz gehorchen zu können; sie war kühn genug, sich unter dem Namen des Gesetzes wiederum einzuschleichen. Die Nachahmung und die Theorie, und mit ihnen der Geschmack und die Kunst selbst blieben einseitig und national. Die darauf folgende Anarchie aller individuellen Manieren, aller subjektiven Theorien, und verschiednen Nachahmungen der Alten, und die endliche Verwischung und Vertilgung der einseitigen Nationalität ist die Krise des Übergangs von der zweiten zur dritten Periode. In der dritten wird wenigstens in einzelnen Punkten der ganzen Masse das Objektive wirklich erreicht: objektive Theorie, objektive Nachahmung, objektive Kunst und objektiver Geschmack.

Aber die zweite Periode erstreckte sich nur über einen Teil, die Anfänge der dritten nur über einzelne Punkte der ganzen Masse, und ein bedeutender Teil derselben ist bis jetzt auf der ersten Stufe stehn geblieben, und noch immer ist der Zweck ganzer Dichtarten kein andrer, als eine treue Darstellung des interessantesten nationellen Lebens. So wie nun der Nationalcharakter des Europäischen Völkersystems in drei entscheidenden Krisen schon drei große Evolutionen erlebt hat – im Zeitalter der Kreuzzüge, im Zeitalter der Reformation und der Entdeckung von Amerika, und in unserm Jahrhundert: so hat auch die Nationalpoesie der Modernen in drei verschiednen Epochen dreimal geblüht.

Der Zustand der ästhetischen Bildung unsres gegenwärtigen Zeitalters war es, der uns aufforderte, die ganze Vergangenheit zu überschauen. Wir sind nun zu dem Punkte zurückgekehrt, von dem wir ausgingen. Die Symptome, welche die Krise des Übergangs von der zweiten zur dritten Periode der modernen Poesie bezeichnen, sind allgemein verbreitet, und hie und da regen sich schon unverkennbare Anfänge objektiver Kunst und objektiven Geschmacks. Noch war vielleicht kein Augenblick in der ganzen Geschichte des Geschmacks und der Dichtkunst so charakteristisch fürs Ganze, so reich an Folgen der Vergangenheit, so schwanger mit fruchtbaren Keimen für die Zukunft; die Zeit ist für eine wichtige Revolution der ästhetischen Bildung reif. Was sich jetzt nur erraten läßt, wird man künftig bestimmt wissen: daß in diesem wichtigen Augenblick unter andern großen Krisen, auch das Los der echten schönen Kunst auf der Waage des Schicksals entschieden wird. Nie würde untätige Gleichgültigkeit gegen das Schöne, oder stolze Sicherheit über das schon Erreichte weniger angemessen sein; nie durfte man aber auch eine größere Belohnung der Anstrengung erwarten, als die, welche der künftige Gang der ästhetischen Bildung der Modernen verspricht. Vielleicht werden die folgenden Zeitalter oft zwar nicht mit anbetender Bewunderung, aber doch nicht ohne Zufriedenheit auf das jetzige zurücksehn.

Die ästhetische Theorie hat den Punkt erreicht, von dem wenigstens ein objektives Resultat, es falle nun aus, wie es wolle, nicht weit mehr entfernt sein kann. Nach den pragmatischen Vorübungen des theoretisierenden Instinkts (erste Periode) deren Grundsatz die Auktorität war entstand die eigentliche szientifische Theorie. Ohngefähr zu gleicher Zeit entwickelten und bildeten sich die dogmatischen Systeme der rationalen und der empirischen Ästhetik (zweite Periode); und die Antinomie der verschiednen manierierten Theorien führte den ästhetischen Skeptizismus (Krise des Übergangs von der zweiten zur dritten Periode) herbei. Diese war die Vorbereitung und Veranlassung der Kritik der ästhetischen Urteilskraft (Anfänge der dritten Periode). Noch ist das Geschäft nichts weniger als beendigt. Die Ästhetiker selbst, welche gemeinschaftlich von den Resultaten der kritischen Philosophie ausgegangen sind, sind weder in den Prinzipien noch in der Methode unter sich einig; und die kritische Philosophie selbst hat ihren hartnäckigen Kampf mit dem Skeptizismus noch nicht völlig ausgestritten. Überhaupt ist, nach der Bemerkung eines großen Denkers, im praktischen noch viel zu tun übrig. Aber seit durch Fichte das Fundament der kritischen Philosophie entdeckt worden ist, gibt es ein sichres Prinzip, den Kantischen Grundriß der praktischen Philosophie zu berichtigen, zu ergänzen, und auszuführen; und über die Möglichkeit eines objektiven Systems der praktischen und theoretischen ästhetischen Wissenschaften findet kein gegründeter Zweifel mehr statt.

Auch im Studium der Griechen überhaupt und der Griechischen Poesie insbesondre steht unser Zeitalter an der Gränze einer großen Stufe. Lange Zeit kannte man die Griechen nur durch das Medium der Römer, das Studium war isoliert und ohne alle philosophische Prinzipien (erste Periode); dann ordnete und lenkte man das immer noch isolierte Studium nach willkürlichen Hypothesen, oder doch nach einseitigen Prinzipien, und individuellen Gesichtspunkten (zweite Periode). Schon studiert man die Griechen in Masse und ohne philosophische Hypothesen, vielmehr mit Vernachlässigung aller Prinzipien (Krise des Übergangs von der zweiten zur dritten Periode). Nur der letzte und größte Schritt ist noch zu tun übrig: die ganze Masse nach objektiven Prinzipien zu ordnen (dritte Periode). Der chaotische Reichtum alles Einzelnen und der Streit der verschiednen Ansichten über das Ganze wird notwendig dahin führen, eine allgemeingültige Ordnung der ganzen Masse zu suchen und zu finden. Zwar kann die Kenntnis der Griechen nie vollendet, und das Studium der Griechen nie erschöpft werden: doch läßt sich ein fixer Punkt erreichen, welcher den Denker, den Geschichtsforscher, den Kenner und den Künstler vor gefährlichen Grundirrtümern, durchaus schiefen Richtungen, und verkehrten Versuchen der Nachahmung sichert.

»Aber du selbst,« könnte man sagen, »hast ja ästhetische Kraft und Moralität als notwendige Postulate der ästhetischen Revolution aufgestellt? Wie läßt sich also über den künftigen Gang der Bildung etwas im voraus bestimmen, da diese vorläufigen Bedingungen selbst von einem glücklichen Zusammenfluß der seltensten Umstände, das heißt vom Ohngefähr abhängen? Wer hat noch der Natur den Handgriff ablernen können, wie sie Genies erzeugt, und Künstler hervorbringt? Gewiß läßt sich die seltenste aller Gaben; das ästhetische Genie auf die Gefahr sie zu verfälschen, durch Bildung ein wenig vervollkommnen aber nicht erschaffen! Auch im Umfang und in der Kraft der Sittlichkeit scheint es für die meisten Individuen eine ursprüngliche, unübersteigbare Gränze zu geben. Nur wenige selbständige Ausnahmen sind in ihrer Vervollkommung unbegränzt. Und scheinen nicht auch diese ihre Selbständigkeit dem seltsamsten Zusammenfluß der glücklichsten Umstände, dem Zufall zu danken? Der stolzen Vernunft des reinen Denkers wird es freilich nicht zusagen, aber aus einer unbefangnen Ansicht der Kunstgeschichte scheint sich das Resultat zu ergeben: die Natur sei im Ganzen neidisch und karg mit ihren köstlichsten Gaben nur dann und wann, in ihren schönsten Augenblicken, werfe sie nach Laune eine Handvoll echter Künstlerseelen auf ein begünstigtes Land, damit das Licht in dieser Dämmerwelt doch nicht gänzlich verlösche.«

Schlechthin bestimmen läßt sich allerdings nichts über den künftigen Gang der Bildung: wahrscheinlich vermuten sehr viel. Vermutungen, zu denen die Bedürfnisse der Menschheit nötigen, welche die ewigen Gesetze der Vernunft und der Geschichte rechtfertigen und begründen. Als hätten sie mit den Göttern zu Rate gesessen, scheinen jene die geheimen Absichten und Antriebe, nach denen die Natur im Verborgnen handelt, zu wissen. So viel weiß die Wissenschaft und die Geschichte nicht. Doch das weiß sie, daß die Seltenheit des Genies nicht die Schuld der menschlichen Natur ist, sondern unvollkommner menschlicher Kunst, politischer Pfuscherei. Ihr eigner unglücklicher Scharfsinn fesselt die Freiheit der Menschen, und hemmt die Gemeinschaft der Bildung. Wenn demungeachtet das unterdrückte Feuer sich einmal Luft macht, so wird das als ein Wunder angestaunt. Gebt die Bildung frei, und laßt sehn ob es an Kraft fehlt! Warum hätte auch sonst von jeher selbst die kleinste Gunst des Augenblicks eine so majestätische Fülle schlummernder Kräfte, wie durch einen Zauberschlag ans Licht gerissen?

Die notwendigen Bedingungen aller menschlichen Bildung sind: Kraft, Gesetzmäßigkeit, Freiheit und Gemeinschaft. Erst wenn die Gesetzmäßigkeit der ästhetischen Kraft durch eine objektive Grundlage und Richtung gesichert sein wird, kann die ästhetische Bildung durch Freiheit der Kunst und Gemeinschaft des Geschmacks durchgängig durchgreifend und öffentlich werden. Ächte Schönheit muß erst an recht vielen einzelnen Punkten feste Wurzel gefaßt haben, ehe sie sich über die ganze Fläche allgemein verbreiten, ehe die moderne Poesie die zunächst bevorstehende Stufe ihrer Entwicklung: die durchgängige Herrschaft des Objektiven über die ganze Masse; erreichen kann.

Man darf aber nicht etwa mit einigen Bedingungen der ästhetischen Bildung gleichsam warten, bis man mit den andern fertig wäre; sie stehn alle vier in durchgängiger Wechselwirkung. Es ist daher auch jetzt schon nicht zu frühzeitig, alles was die ästhetische Mitteilung hemmen könnte, aus dem Wege zu räumen. Es herrscht besonders unter Deutschen Dichtern und Kennern eine sehr gefährliche eigentlich illiberale Denkart, welche den ursprünglichen Deutschen Mangel an Mitteilungsfähigkeit zum Grundsatz sanktioniert. Die erhabne Gelassenheit der Deutschen Nation, und die neidischen Anfeindungen kleiner Geister erzeugen oft bei verdienstvollen aber eitlen Männern üble Laune, welche sich bis zu einer bösartigen Bitterkeit verhärten kann. Schmollend hüllen sie ihre beleidigten Ansprüche in höhnenden Stolz, verschließen ihr Talent ganz in sich, oder treten nur mit einer sauern Miene ins Publikum. Ihr Gemüt ist so unfähig, sich über die enge Gegenwart zu erheben, daß sie echte Schönheit überhaupt für ein Myster, und die Öffentlichkeit der ästhetischen Bildung für ganz unmöglich halten. Nur durch Geselligkeit wird die rohe Eigentümlichkeit gereinigt und gemildert, erwärmt und erheitert; das innre Feuer sanft ans Licht getrieben, die äußre Gestalt berichtigt und bestimmt, gerundet und geschärft. Unmäßige Einsamkeit hingegen ist die Mutter seltsamer Grillen. Daher die eckichte Härte, der barsche Ton, das finstre Kolorit mancher sonst trefflicher Deutscher Schriftsteller. Dieser Weg kann endlich so weit von der Einfalt der Natur, von dem großen Wesentlichen, und ächter Schönheit entfernen, daß sich Zweifel regen dürften, ob jene ästhetischen Mysterien nicht etwa ein Orden ohne Geheimnis sein möchten, wo jeder glaubt, der andre wüßte es.

An Mitteilungen der Kenntnisse, der Sitten und des Geschmacks sind die Franzosen uns schon seit langer Zeit sehr weit überlegen. Sie können eben dadurch in der öffentlichen Griechischen Poesie eine höhere Stufe der Vollkommenheit als andere kultivierte Nationen Europa’s erreichen. Man wird dann das unerwartete Phänomen vermutlich aus der neuen politischen Form erklären wollen, die doch weiter nichts sein kann, als der glückliche Anstoß, welcher die im Stillen lange vorhandne Kraft zur reifen Blüte treibt. – Wo in einem genau bestimmten Nationalcharakter nur einige einzelne schöne Züge vorhanden sind, welche die Grundlinien und Umrisse einer idealischen Ausführung werden können; wo es an musikalischem und poetischem Talent nur nicht ganz fehlt, wo es nur einige ästhetische Bildung gibt: da muß höhere Lyrik von selbst entstehn, sobald es öffentliche Sitten, öffentlichen Willen und öffentliche Neigungen, eine Seele und Stimme der Nation gibt. Die entschiedenste und beschränkteste Einseitigkeit ist der lyrischen Schönheit nicht schlechthin ungünstig, wenn der Mangel an Umfang nur wie bei den Doriern, durch intensive Kraft und Hoheit ersetzt wird.

Das schöne Drama hingegen erfordert absoluten Umfang der Bildung, und völlige Freiheit von nationellen Schranken, Eigenschaften, von denen die Franzosen sehr weit entfernt sind! Es können leicht Jahrhunderte hingehn, ehe sie dieselben erreichen: denn die neue politische Form wird die Einseitigkeit ihres Nationalcharakters nur stärker konzentrieren, und schneidender isolieren. Daher ist die sogenannte französische Tragödie auch ein klassisches Muster der Verkehrtheit geworden. Sie ist nicht nur eine leere Formalität ohne Kraft, Reiz und Stoff, sondern auch ihre Form selbst ist ein widersinniger, barbarischer Mechanismus, ohne innres Lebensprinzip und natürliche Organisation. Der französische Nationalcharakter kann im Roman und in der Kömödie, welche sich mit dem bescheidnen Range subjektiver Darstellungen begnügen, so interessant und liebenswürdig erscheinen; in der sogenannten Tragödie eines Racine und Voltaire hingegen wird durch eine mißglückte Prätension des Objektiven die ungünstigste Ansicht desselben gleichsam ins Unerträgliche idealisiert. Im steten Wechsel des Widerlichen und des Abgeschmackten ist hier häßliche Heftigkeit und abgeschliffne Leerheit innigst ineinander verschmolzen. – Ohnehin fehlt es den Franzosen wie den Engländern und Italiänern (von der Poesie der beiden letzten Nationen ist jetzt wohl am wenigsten zu besorgen, daß sie den Deutschen etwas vorwegnehmen möchten!) an objektiver Theorie, und an ächter Kenntnis der antiken Poesie. Um nur auf die Spur zu kommen, wie sie den Weg dahin finden könnten, würden sie bei den Deutschen in die Schule gehn müssen. Eine Sache, zu der sie sich wohl schwerlich entschließen werden!

In Deutschland, und nur in Deutschland hat die Ästhetik und das Studium der Griechen eine Höhe erreicht, welche eine gänzliche Umbildung der Dichtkunst und des Geschmacks notwendig zur Folge haben muß. – Die wichtigsten Fortschritte in der stufenweisen Entwicklung der philosophischen Ästhetik war das rationale und das kritische System. Beide sind durch Deutsche Erfinder, jenes durch Baumgarten, Sulzer und andre, dieses durch Kant und seine Nachfolger gestiftet und ausgebildet. Das empirische und skeptische System der Ästhetik war vielmehr ein notwendiger Erfolg vom allgemeinen Gange der Philosophie, als eigentliche Erfindung und Verdienst einiger Englischen Schriftsteller. – In der ältern Manier der klassischen Kritik übertrifft unser Lessing an Scharfsinn und an ächtem Schönheitsgefühl seine Vorgänger in England unendlich weit. Eine ganz neue, und ungleich höhere Stufe des Griechischen Studiums ist durch Deutsche herbeigeführt, und wird vielleicht noch geraume Zeit ihr ausschließliches Eigentum bleiben. Statt der vielen Namen, die hier genannt werden könnten, stehe nur einer da. Herder vereinigt die umfassendste Kenntnis mit dem zartesten Gefühl und der biegsamsten Empfänglichkeit.

Wer kann noch an der Dichtergabe Deutscher Künstler zweifeln seit der kühne, erfinderische Klopstock der Stifter und Vater der Deutschen Poesie ward? Der liberale Wieland sie schmückte und humanisierte? Der scharfsinnige Lessing sie reinigte und schärfte? Schiller ihr stärkre Kraft und höhern Schwung gab? – Durch jeden dieser großen Meister ward die ganze Masse der Deutschen Dichtkunst, zu neuem Lebens allgemein begeistert, und strebte mit frischer Kraft immer mächtiger vorwärts. Wie viele andre Dichter folgten jenen ersten Erfindern glücklich und dennoch eigentümlich, oder gingen auch ihren eignen, vielleicht nicht weniger merkwürdigen Gang, welcher nur darum weniger bemerkt ward, weil er mit dem Geist der Zeit und dem Gange der öffentlichen Bildung nicht so gut zusammentraf? Auch Bürgers rühmlicher Versuch, die Kunst aus den engen Büchersälen der Gelehrten, und den konventionellen Zirkeln der Mode in die freie lebendige Welt einzuführen, und die Ordensmysterien der Virtuosen dem Volke zu verraten, ist nicht ohne den glücklichsten bleibenden Einfluß gewesen.

Welchen weiten Weg haben unsre einzigen bedeutenden Nebenbuhler, die Franzosen noch zurückzulegen, ehe sie es nur ahnden können, wie sehr sich Goethe den Griechen nähere! Ein andres Zeichen von der Annäherung zum Antiken in der Poesie ist die auffallende Tendenz zum Chor in den höhern lyrischen Gedichten (wie die »Götter Griechenlands« und die »Künstler« Schillers; eines Künstlers, der durch seinen ursprünglichen Haß aller Schranken vom klassischen Altertum am weitesten entfernt zu sein scheint. So verschieden auch die äußre Ansicht, ja manches Wesentliche sein mag, so ist doch die Gleichheit dieser lyrischen Art selbst mit der Dichtart des Pindarus unverkennbar. Ihm gab die Natur die Stärke der Empfindung, die Hoheit der Gesinnung, die Pracht der Phantasie, die Würde der Sprache, die Gewalt des Rhythmus, – die Brust und Stimme, welche der Dichter haben soll, der eine sittliche Masse in sein Gemüt fassen, den Zustand eines Volks darstellen, und die Menschheit aussprechen will.

Unter einer ebenso heterogenen Außenheit sind gerade die köstlichsten Stellen der Wielandischen Poesie objektiv-komisch und ächt Griechisch. Mit Überraschung wird der Kenner der Attischen Grazie und der ächten Kömödie hier oft den Aristophanes, öfter den Menander wiederfinden.

Menschen, deren kurzsichtiger Blick jeder großen historischen Ansicht ganz unfähig ist, die im Detail nur Detail wahrnehmen, und alles isoliert sehen, wird es nicht an kleinlichen Einreden wider diese große Bestimmung der Deutschen Dichtkunst fehlen. Wenn aber ein glücklicher Anstoß die noch schlummernde Mitteilungsfähigkeit des Deutschen Geschmacks und der Deutschen Kunst plötzlich in elastische Regsamkeit versetzte: so würden selbst die Beobachter, welche nur Fraktur lesen können, mit überraschtem Staunen gewahr werden, daß die Deutschen auch hier die kultiviertesten Nationen Europas im einzelnen an Höhe der Bildung ebenso weit übertreffen, als sie denselben an allgemeiner und durchgreifender Verbreitung der Bildung nachstehn.

Winckelmann redet einmal von den Wenigen, welche noch die Griechischen Dichter kennen. Sollten es nicht schon jetzt in Deutschland einige mehr sein? Wird die Zahl derer, welche nach ächter Kunst streben nicht auch ferner noch wachsen? – In dieser Hoffnung konsakriere ich diesen Aufsatz und diese Sammlung allen Künstlern. Wie nämlich die Griechen auch denjenigen Musiker nannten, welcher die sittliche Fülle seines innern Gemüts rhythmisch organisiert, und zur Harmonie ordnet; so nenne ich alle die »Künstler«, welche das Schöne lieben.

 

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Athenaeum ist der Titel einer Zeitschrift, die zwischen 1798 und 1800 von den Brüdern August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel herausgegeben und in Berlin gedruckt wurde. Vor zweihundert Jahren stellte Friedrich Schlegel das „Athenaeum“ mit der Begründung ein, dass diese Zeitschrift erst in der Zukunft verstanden werden kann. KUNO erinnert daran mit der Begründung des Redakteurs, der im 18. Jahrhundert der modernen Journalismus erfunden hat

Friedrich Schlegel um 1790, Kreidezeichnung von Caroline Rehberg

Weiterführend Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik, sowie einen Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.